Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebenundsiebenzigstes Kapitel.

Die Zeit entschwand; der Lärm in den Straßen legte sich allmälig, bis das Schweigen kaum noch anders, als durch die Glocken auf den Kirchthürmen unterbrochen wurde, welche – leiser und heimlicher, weil die Stadt schlummerte – die Tritte jenes großen Wächters mit dem grauen Haupte, der nie schläft oder ruht, bezeichneten. In dem kurzen Zwischenraum von Dunkelheit und Ruhe, dessen sich fieberisch aufgeregte Städte erfreuen können, war Alles rührige Getöse verstummt, und diejenigen, welche ihre Brüder weckten, lagen lauschend auf ihren Betten, sich nach dem Grauen des Morgens sehnend, und wünschten, die todtenstille Nacht möchte einmal vorüber seyn.

In der Straße vor der Hauptmauer des Gefängnisses erschienen zu dieser feierlichen Stunde in Gruppen von Zweien oder Dreien mehrere Handwerksleute, die, als sie sich vor dem Gebäude begegneten, ihr Handwerksgeräthe auf den Boden warfen, und leise mit einander sprachen. Bald kamen auch Andere aus dem Gefängniß selbst heraus. Planken und Balken auf den Schultern tragend. Sobald das Material vorhanden war, gingen die Uebrigen emsig an's Werk, und der dumpfe Hall von Hammerschlägen echoete durch die stille Straße.

Hie und da stand unter diesem Arbeiterhäuflein Einer mit einer Laterne oder einer rauchenden Fackel, um seinen Kameraden bei ihrem Geschäfte zu leuchten; und bei diesem unsicheren Lichte konnte man ungefähr sehen, wie Einige das Pflaster aufrissen, während Andere große, gerade Pfosten hielten oder sie in den für ihre Aufnahme gegrabenen Löchern befestigten. Einige schleppten langsam einen leeren Karren herzu, den sie polternd gegen das Gefängnißthor fuhren, indeß Andere starke Schranken quer über die Straße zogen. Alle waren emsig beschäftigt. Ihre dunkeln Gestalten bewegten sich zu der ungewohnten Stunde so thätig und stumm hin und her, daß man sie für schattenhafte Wesen hätte halten können, die um Mitternacht an irgend einem gespenstischen, wesenlosen Werke arbeiteten, das, wie sie selbst, mit dem ersten Strahle des Tags verschwinden und nichts als Morgendunst und Nebel zurücklassen sollte.

Noch in der Dunkelheit sammelten sich einige Zuschauer, die augenscheinlich nicht ohne Grund hergekommen waren und wohl zu bleiben beabsichtigten; selbst diejenigen, welche nur über den Platz zu gehen gedachten, zögerten und zögerten, als ob es hier etwas unwiderstehlich Anziehendes gäbe. Inzwischen machten die Sägen- und Hammertöne nebst dem Schall der auf das Steinpflaster niederfallenden Bretter fleißig fort, während sich hin und wieder auch die Stimmen der Arbeiter, wie sie einander zuriefen, dareinmischten. So oft jedoch die Schläge der benachbarten Kirchthurmuhr erschollen – was mit jeder Viertelstunde geschah – schien ein seltsames und unbeschreibliches Gefühl, zwar nur vorübergehend, aber doch augenfällig genug, alle Anwesenden zu durchdringen.

Allmälig tauchte eine matte Helle an dem östlichen Himmel auf, und die Luft, welche die ganze Nacht durch sehr warm gewesen, wurde kalt und schneidend. Obgleich man noch nicht von Tageslicht sprechen konnte, so war doch die Dunkelheit gemindert und die Sterne flimmerten blasser. Das Gefängniß, das zuvor nur wie eine schwarze, fast formlose Masse ausgesehen, bot nun seinen gewöhnlichen Anblick, und hin und wieder konnte man einen einsamen Wächter auf dem Dache sehen, der anhielt, um auf die Vorbereitungen in der Straße niederzuschauen. Dieser Mann, der gewissermaßen einen Theil des Kerkers bildete und Alles wußte, oder doch, wie man glaubte. Alles wissen mußte, was im Innern vorging, wurde zu einem Gegenstande des lebhaftesten Interesses; man sah gespannt nach ihm auf und deutete entsetzt mit den Fingern nach ihm, als ob er ein Gespenst wäre.

Nachgerade wurde das matte Licht heller, und die Häuser mit ihren Schilden und Inschriften ließen sich deutlich in dem düstern Scheine der Morgendämmerung unterscheiden. Schwere Postkutschen wurden aus dem Hofe des gegenüberliegenden Wirthshauses herausgeholt. Die Reisenden steckten die Köpfe durch die Fenster, und warfen, während die Wagen langsam weiter rollten, manchen Blick nach dem Gefängniß zurück. Und nun fielen die ersten Sonnenblicke in die Straßen herunter. Die nächtliche Arbeit, die in ihren verschiedenen Ausführungsstadien in der wechselnden Phantasie der Zuschauer hundert Gestalten angenommen hatte, zeigte jetzt ihre eigenthümliche Form – ein Gerüst und einen Galgen.

Als die Wärme des heiteren Tages auf das kleine Häuflein niederzuschauen begann, hörte man das Gemurmel von Stimmen; die Läden wurden geöffnet, die Blenden aufgezogen, und diejenigen, welche in den dem Gefängniß gegenüberliegenden Zimmern geschlafen hatten, wo Plätze zum Ansehen der Hinrichtung zu hohen Preisen vermiethet wurden, standen hastig von ihren Betten auf. In einigen Häusern waren die Leute beschäftigt, zu größerer Bequemlichkeit der Zuschauer die Fenster auszuheben; in andern saßen Spektakellustige beim Glase, und suchten sich die Zeit mit Kartenspielen und Scherzen zu kürzen. Einige hatten sich Plätze auf den Hausgiebeln gekauft und kletterten bereits durch die Dachfenster und über die Dachböschungen nach ihren Posten. Andere dingten noch unschlüssig um die Plätze, auf denen sie standen, blickten auf die langsam anschwellende Menge und auf die Arbeiter, die unbekümmert an dem Gerüste lehnten, und thaten, als hörten sie gleichgültig auf die Lobsprüche, welche die Hauseigenthümer der Aussicht, welche ihre Gelasse böten, und der außerordentlichen Billigkeit ihrer Bedingungen spendeten.

Nie gab es einen schöneren Morgen. Von den Dächern und oberen Stockwerken der Gebäude aus sah man die Thürme der Stadtkirchen und die Kuppel der hohen Kathedrale, die jenseits des Gefängnisses in den blauen Himmel hinaufragte – gekleidet in die Farbe leichter Sommerwolken und in der klaren Athmosphäre auch die kleinsten Verzierungen, jede Nische und Schießscharte erkennen lassend. Alles war heiter und hoffnungsvoll, ausgenommen die Straße unten, in welche, da sie noch im Schatten lag, das Auge wie in einen dunkeln Graben hinunterschaute, wo inmitten so vielen erneueten Lebens das schreckliche Werkzeug des Todes stand. Es hatte den Anschein, als ob selbst die Sonne Bedenken trüge, darauf nieder zu blicken.

Das Gerüste nahm sich jedoch noch besser aus in seinem düsteren Schatten, als später, wo es bei mehr vorgerücktem Tage mit seinem schwarzen Anstrich und seinen pendelnden Schlingen (diesen garstigen Guirlanden) in vollem Lichte und Glanze der Sonne da stand. Es war noch besser in der Einsamkeit und Finsterniß der Nacht, wo nur wenige Gestalten sich darum sammelten, als in der Frische und Rührigkeit des Morgens – der Mittelpunkt eines schaulustigen Haufens. Es war noch besser, als es, während die Menschen noch in ihren Betten lagen, wie ein Gespenst auf der Straße spuckte und vielleicht die Träume der guten Bürger beunruhigte, als jetzt, wo es dem hellen Tage keck in's Auge sah und seine schnöde Gegenwart wachenden Sinnen aufzwang.

Es hatte fünf – sechs – sieben – acht geschlagen. Durch die zwei Hauptstraßen an beiden Enden wogte ein lebendiger Strom nach den Tummelplätzen des Gewerbsbetriebs und des Gewinnes. Karren, Kutschen, Frachtwagen, Tragen und Schubkarren brachen sich Bahn durch die Hintersten des Gedränges und rasselten in ihrer Richtung weiter. Die Landpostkutschen machten Halt, und der Postillion deutete mit der Peitsche nach dem Galgen, obgleich er sich diese Mühe hätte ersparen können, denn die Köpfe der Reisenden wandten sich ohne seine Anweisung schon in diese Richtung und die Kutschenfenster staken voll glotzender Augen. In einigen Karren und Frachtwagen konnte man Weiber sehen, die scheue Blicke nach dem unheimlichen Gegenstand warfen, und selbst die Kinder hielt man über die Köpfe der Leute empor, damit sie sehen möchten, was für eine Art von Spielzeug der Galgen sey, und wie man die Menschen aufhänge.

Zwei Aufrührer sollten vor dem Gefängnisse sterben, bei dessen Bestürmung sie sich betheiligt hatten und einer unmittelbar nachher in Bloomsbury Square. Um neun Uhr zog eine starke Soldaten-Abtheilung in der Straße auf und ließ nach Holborn hin, welches die ganze Nacht über von Constablen in Ordnung gehalten worden war, nur einen engen Durchgang. Es kam von dieser Seite her ein anderer Karren, da der oben erwähnte zu Errichtung des Gerüstes verbraucht worden war, und fuhr vor dem Gefängnißthore auf. Sobald diese Vorbereitungen getroffen waren, durften die Soldaten sich rühren; die Offiziere gingen zwischen den Spalieren ab und zu, oder plauderten unter dem Schaffot; und der Zuschauerhaufen, der seit einigen Stunden rasch angewachsen war und mit jeder Minute neuen Zuwachs erhielt, wartete mit einer Ungeduld, welche mit jedem Glockenschlage von der heiligen Grabkirche aus noch vergrößert wurde, auf die zwölfte Stunde.

Bisher war es ganz ruhig, beziehungsweise still gewesen – ausgenommen, wenn die Ankunft irgend einer Neuen Gesellschaft an einem unbesetzten Fenster etwas Neues zu schauen oder zu plaudern gab. Aber als die Stunde näher heranrückte, erhob sich ein Gesumme und Gemurmel, das mit jedem Augenblick lauter wurde und bald zu einem Gebrülle anschwoll, das die ganze Luft erfüllte. Worte, oder auch nur Stimmen waren in diesem Lärm nicht zu unterscheiden, wie man denn überhaupt nicht gegenseitig mit einander sprach, obgleich vielleicht ein besser Unterrichteter den Umstehenden sagen mochte, der Henker wäre, wenn er herauskomme daran zu erkennen, daß er der Kleinere sey, der Mann, der mit ihm hingerichtet werde, heiße Hugh, und Barnaby Rudge solle in Bloomsbury Square gehangen werden. Es liegt in der Natur der Sache, daß sich die Menschen bei einer großen Hitze unwillkürlich Luft machen, und so wogte dieses wilde Getümmel, geschwellt von der Ungeduld der Menge, auf und nieder, keinem Zwänge und Zügel mehr gehorchend.

Mit dem Näherrücken der Zeit wurde es so laut, daß die an den Fenstern Stehenden nicht einmal den Glockenschlag hören konnten, obgleich die Kirche ganz in der Nähe war. Es war indeß auch nicht nöthig, denn sie konnten es aus den Gesichtern der Leute entnehmen. So oft eine neue Viertelstunde tönte, gab es eine Bewegung unter dem Haufen – als wäre etwas vorbeigezogen als hätte das Licht über ihnen gewechselt – worin man eben so deutlich die Zeit ablesen konnte, wie auf einer ehernen Sonnenuhr, die eine Riesenhand zum Zeiger hat.

Dreiviertel auf Zwölf! Das Gemurmel war jetzt wahrhaft betäubend, obgleich Jedermann stumm zu seyn schien. Wohin man auch schauen mochte, allenthalben nichts als begierige Augen und zusammengepreßte Lippen. Auch dem aufmerksamsten Beobachter hätte es schwer werden müssen, zu sagen, da oder dort hat Einer ausgerufen; eben so gut hätte sich die Bewegung einer Lippe in einer Seemuschel nachweisen lassen.

Dreiviertel auf Zwölf! Viele Zuschauer, die sich von den Fenstern zurückgezogen hatten, kamen mit erfrischter Geduld zurück, als nehme ihr Warten jetzt erst den Anfang. Diejenigen, welche eingeschlafen waren, rafften sich wieder auf, und jeder in dem Haufen auf der Straße machte eine letzte Anstrengung, um einen bessern Platz zu erhalten, wodurch ein Drängen gegen die starken Schranken veranlaßt wurde, daß sie sich wie Zweige bogen und nachgaben. Die Säbel wurden gezogen, die Musketen geschultert, und der blanke Stahl wand sich durch die Menge hin, in der Sonne wie ein Bach glitzernd und schimmernd. Neben diesem glänzenden Pfade hin eilten zwei Männer mit einem Pferd, welches sie hastig an den Karren vor der Gefängnißthüre spannten. Dann trat eine tiefe Stille an die Stelle des Tumults, der so lange geherrscht hatte, und es folgte eine athemlose Pause. Jedes Fenster war nun mit Köpfen voll gepropft, auf den Dächern wimmelte es von Menschen, die sich an die Schornsteine anklammerten, über die Giebel wegschauten und sich an Stellen fest hielten, wo das plötzliche Loswerden eines Ziegels oder Steins sie hätte auf die Masse hinunterstürzen müssen. Der Kirchthurm, das Kirchendach, der Kirchhof, die Bleidächer des Gefängnisses, sogar die Dachrinnen und Laternenpfähle – jeder Zoll Raum schwärmte von Menschenleben.

Mit dem ersten Schlag Zwölf begann die Armensünderglocke zu läuten. Dann brach das Gebrüll auf's Neue los – hin und wieder mit dem Rufen: »Hüte ab!« und »Arme Tröpfe!« untermischt, wozu an ein oder dem andern Orte des Gedränges ein Ruf des Entsetzens oder ein Stöhnen kam. Es war schrecklich zu sehen – wenn anders in einer solchen Verwirrung und Aufregung von Sehen die Rede sein kann – welch' eine Welt von gierigen Augen auf das Gerüste und den Balken geheftet war.

Aus dem Gefängniß ließ sich eben so deutlich ein hohles Gemurmel vernehmen, wie außen. Man kannte die Bedeutung desselben wohl. Als es durch die Luft schallte wurden die drei Verurtheilten in den Hof gebracht.

»Hört Ihr,« rief Hugh, durchaus nicht eingeschüchtert durch den Ton. »Sie erwarten uns! Ich hörte, wie sie sich sammelten, als ich in der Nacht aufwachte, und legte mich auf die andere Seite, um wieder einzuschlafen. Wir werden jetzt sehen, wie sie den Henker bewillkommnen, es ihm nun heimgegeben wird, ha, ha, ha!«

In diesem Augenblicke kam der Geistliche des Gefängnisses herzu, verwies ihm seine unanständige Lustigkeit und rieth ihm, sein Benehmen zu ändern.

»Und warum, Herr,« fragte Hugh. »Kann ich etwas Besseres thun, als es auf die leichte Achsel nehmen? Ihr nehmt es leicht genug. Oh! schweigt nur stille,« rief er, als ihm der Andere in's Wort fallen wollte, »denn trotz Eurer traurigen Blicke und Eures feierlichen Aussehens macht Ihr Euch wenig genug daraus. Man sagt, Ihr verstündet Euch in ganz London am Besten darauf, Hummernsalate zu machen. Ha, ha, ha! Ihr seht, ich habe früher schon davon gehört. Er wird Euch diesen Morgen gut bekommen – Ihr habt doch welchen angefertigt? Wie sieht's mit dem Frühstück aus? Ich hoffe, 's ist doch genug da und nichts gespart, um diese ganze hungerige Gesellschaft zufrieden zu stellen, wenn sie sich dazu niedersetzt, sobald der Spektakel vorüber ist?«

»Ich fürchte,« bemerkte der Geistliche mit Kopfschütteln,« daß Ihr unverbesserlich seyd?«

»Ihr habt Recht; ich bin es,« versetzte Hugh finster. »Seyd kein Heuchler, Herr. Alle Monate macht Ihr Euch an einem solchen Tage lustig; ich will mich auch lustig machen. Wenn Ihr einen zaghaften Kerl haben wollt, da ist Einer, der für Euch passen wird. Versucht's mit ihm.«

Bei diesen Worten deutete er auf Dennis, den zwei Männer halten mußten; er schleppte die Füße auf dem Boden nach und zitterte so, daß alle seine Glieder von heftigen Krämpfen durchzuckt zu werden schienen. Von diesem schnöden Anblick sich abwendend, rief Hugh Barnaby zu, der abgesondert stand.

»Wie ist's dir zu Muthe, Barnaby? Sey nicht niedergeschlagen, Junge. Ueberlaß das diesem da.«

»Gott behüte,« rief Barnaby, mit leichtem Schritte auf ihn zutretend, »ich fürchte mich nicht, Hugh, Ich bin ganz glücklich und möchte jetzt nicht weiter leben, selbst wenn ich dürfte. Betrachte mich! Habe ich das Aussehen eines Menschen, der sich vor dem Tode fürchtet? Werden sie wohl die Freude erleben, mich zittern zu sehen?«

Hugh schaute ihm einen Augenblick in's Gesicht, in dem ein sonderbares, gespenstiges Lächeln lag, während das Auge hell leuchtete; dann trat er zwischen ihn und den Geistlichen und flüsterte dem Letzteren mürrisch in's Ohr:

»An Eurer Stelle würde ich nicht viele Worte an ihn verlieren, Herr. Es könnte Euch den Appetit zum Frühstück nehmen, obgleich Ihr daran gewöhnt seyd.«

Barnaby war der Einzige unter den Dreien, der sich an diesem Morgen gewaschen und gekämmt hatte, denn seit der Verkündigung des Urtheils war es den beiden Anderen nicht eingefallen, diese Aufmerksamkeit auf ihren Körper zu verwenden. Er trug noch immer die zerknickten Pfauenfedern auf seinem Hute und hatte seinen Körper mit dem gewohnten Zierrath sorgfältig herausgeputzt. Sein leuchtendes Auge, sein fester Tritt und seine stolze, entschlossene Haltung schienen irgend eine heldenmüthige Großthat, die freiwillige Aufopferung eines Begeisterten für eine edle Sache, nicht aber den Tod eines Verbrechers zu bekunden.

Aber all dieß vergrößerte nur seine Schuld. Es war nur gekünstelt. Das Gericht hatte es dafür erklärt, und also mußte es wahr seyn. Sein Abschied von Greif, der vor einer Viertelstunde Statt gefunden, hatte den guten Geistlichen höchlich empört. In einer solchen Lage noch einen Vogel liebkosen! – –

Der Hof war mit Leuten angefüllt: wohlbeleibte Magistratspersonen, Gerichtsdiener, Soldaten, Neugierige und Gäste, die man wie zu einer Hochzeit eingeladen hatte. Hugh sah sich um, nickte düster einer Person in Amtstracht zu, die ihm mit der Hand die Richtung, welche er gehen sollte, andeutete, klopfte Barnaby auf die Schulter und schritt mit dem Gange eines Löwen hinaus.

Sie traten in eine große Halle, so nahe an dem Schaffot, daß man die Stimmen der dasselbe Umringenden deutlich hören konnte; Einige baten die Hellebardiere, sie aus dem Gewühl zu nehmen, und Andere riefen ihren Hintermännern zu, sie möchten etwas zurücktreten, weil sie sonst erdrückt würden oder ersticken müßten.

In der Mitte dieser Halle standen zwei Schmiede mit Hämmern neben einem Ambose. Hugh ging gerade auf denselben zu und setzte seinen Fuß mit solcher Gewalt darauf, daß es tönte, als würde er von einer schweren Waffe getroffen. Dann schlug er die Arme in einander und blieb stehen, um sich die Fesseln abschlagen zu lassen, mit stolzem Stirnenrunzeln die Umstehenden in's Auge fassend, die nach ihm hinsahen und unter sich flüsterten.

Man brauchte so lange, um Dennis hereinzuschleppen, daß diese Ceremonie mit Hugh und Barnaby beinahe vorüber war, ehe er erschien. Er war jedoch kaum an dem ihm so wohlbekannten Platz und unter den bekannten Gesichtern angelangt, als er sich plötzlich so weit erholte, um seine Hände zusammenschlagen und eine letzte Appellation laut werden lassen zu können.

»Gentlemen, meine guten Gentlemen,« rief die erbärmliche Kreatur, in die Kniee sinkend und sich eigentlich auf dem Steinpflaster hinstreckend. »Oberkerkermeister, lieber Oberkerkermeister – hochgeehrte Sheriffs – würdige Herren – habt Erbarmen mit einem elenden Manne, der seiner Majestät, dem Gesetz und dem Parlament so viel Jahre gedient hat, und laßt – laßt mich nicht sterben – wegen eines Mißverständnisses.«

»Dennis,« sagte der Oberkerkermeister. »Ihr kennt den Gang des Gesetzes und wißt, daß der Befehl zugleich mit den übrigen angekommen ist. Ich brauche Euch daher nicht erst zu sagen, daß wir Nichts thun können, selbst wenn wir wollten.«

»Ich verlange Nichts, Sir – ich bitte um gar Nichts, als um Zeit, damit man gewiß sey,« rief der zitternde Elende, sich mit wirren Blicken nach Theilnahme umsehend. »König und Regierung können nicht wissen, daß ich es bin; gewiß, sie können nicht wissen, daß ich es bin, sonst würden sie mich nicht nach diesem schrecklichen Schlachthause bringen lassen. – Sie kennen zwar den Namen, aber wissen nicht, was es für ein Mann ist. Verschiebt meine Hinrichtung – um der göttlichen Barmherzigkeit willen, verschiebt meine Hinrichtung, Gentlemen, bis man gemeldet hat, daß ich an dreißig Jahre der Henker gewesen bin. Will Niemand gehen und es ihnen sagen?« flehte er, seine Hände verklammernd und wiederholt im Kreise herumstierend – »will denn keine barmherzige Person hingehen und es ihnen sagen?«

»Herr Akerman,« sagte ein nebenstehender Herr nach einer kurzen Pause, »da es vielleicht möglich ist, diesem unglücklichen Mann selbst in dieser letzten Minute noch zu einer besseren Gemüthsstimmung zu verhelfen, so erlaubt mir, ihm zu versichern, daß man recht wohl wußte, es handle sich um den Henker, als sein Urtheil berathen wurde.«

»– Aber vielleicht glauben sie eben deßhalb, daß die Strafe nicht so groß sey,« rief der Verurtheilte, auf den Knieen gegen den Sprecher hin rutschend und die gefalteten Hände erhebend, »während sie doch für mich ärger, hundertmal ärger ist, als für jeden andern Mann. Thut dieß ihnen kund, Sir. Oh, thut dieß ihnen kund. Sie haben's für mich zu einer viel schlimmeren Strafe gemacht, weil sie mir so viel zu thun gaben. Schiebt meine Hinrichtung auf, bis ihnen dieß gesagt ist!«

Der Kerkermeister winkte mit der Hand und die beiden Anderen, die ihn vorher unterstützt hatten, traten herzu. Er stieß einen durchbohrenden Schrei aus:

»Halt! halt! nur einen Augenblick – nur noch einen einzigen Augenblick! Laßt mir doch noch die letzte Möglichkeit zur Begnadigung. Einer von uns Dreien soll zu Bloomsbury Square hingerichtet werden. Laßt mich diesen Einen seyn. Vielleicht kömmt sie inzwischen an; gewiß, sie muß ankommen. Laßt mich um Gotteswillen nach Bloomsbury Square bringen. Hängt mich nicht hier. Es ist Mord!«

Sie nahmen ihn an den Amboß; aber auch hier konnte man ihn die Hammerschläge und das heisere Getöse des Volkshaufens überschreien hören. Er rief, daß er von Hughs Herkunft wisse, daß dessen Vater noch am Leben und ein Herr von Stand und Einfluß sey – er befinde sich im Besitz von Familiengeheimnissen – könne sie aber nicht veröffentlichen, wenn man ihm nicht Zeit lasse, sondern müsse sie dann mit in die Ewigkeit nehmen; und so fuhr er fort, zu rasen, bis ihm die Stimme versagte und er, wie ein bloßer Kleiderhaufen, zwischen den Beiden, die ihn stützten, niedersank.

In diesem Augenblick erschallte der erste Schlag zwölf Uhr, und die Verurtheiltenglocke begann zu läuten. Die Gerichtsdiener mit den beiden Sheriffs an der Spitze bewegten sich der Thüre zu. Als der letzte Schlag in den Ohren verklungen, war Alles bereit.

Man gab dieß Hugh zu verstehen und fragte ihn, ob er noch Etwas zu sagen habe.

»Zu sagen?« rief er. »Nein. Ich bin bereit. – Und doch,« fügte er bei, während sein Auge auf Barnaby fiel. »Ich habe noch ein Wort zu sagen. Komm hierher, Junge.«

Es kämpfte für einen Augenblick etwas Gemüthliches, ja sogar Zärtliches in seinem wilden Aeußeren, als er mit Heftigkeit die Hand seines armen Schicksalsgenossen drückte.

»So viel will ich sagen,« rief er, fest im Kreise herumsehend; »wenn ich zehn Leben zu verlieren hätte, und ein jeder solcher Verlust bereitete mir zehnmal die Qual des härtesten Todes, so wollte ich gerne alle hingeben – ja, das würde ich, obschon es vielleicht die Herren da nicht glauben – um dieses Eine zu retten: dieses Eine,« fügte er mit einem abermaligen Händedruck bei, »das durch mich verloren geht.«

»Nicht durch dich,« sagte der Verrückte sanft. »Sprich nicht so. Dich trifft kein Vorwurf. Du bist immer so freundlich gegen mich gewesen. – Hugh, jetzt werden wir erfahren, was die Sterne scheinen macht.«

»Ich nahm ihn weg von ihr in einer übermüthigen Stimmung, und dachte nicht, was Schlimmes daraus erwachsen könne,« fuhr Hugh mit heiserer Stimme fort, indem er die Hand auf den Kopf des Anderen legte. »Darum bitte ich sie und ihn um Verzeihung. – Schaut her,« fügte er in seinem früheren rauhen Tone bei, »Seht Ihr diesen Jungen?«

Man murmelte Ja und schien sich zu wundern, warum er so fragte.

»Der Herr dort –« er deutete dabei auf den Geistlichen »hat in den letzten paar Tagen oft vom Glauben und von einem starken Glauben zu mir gesprochen. Ihr seht, was ich bin – mehr ein Vieh, als ein Mensch, wie man mich oft nannte – aber ich hatte einen so zuversichtlichen Glauben und glaubte so fest, als einer von Euch Herren Etwas glauben kann, daß dieses eine Leben geschont werden müßte. Seht, was er ist! – Betrachtet ihn.«

Barnaby war gegen die Thüre hin gegangen und winkte seinem Freunde, ihm zu folgen.

»Wenn das nicht Glauben, und zwar ein fester Glauben war,« rief Hugh, seinen rechten Arm hoch erhebend und wie ein wilder Prophet, den die Annäherung des Todes mit Begeisterung erfüllt hat, in die Höhe blickend, »wo wäre er sonst zu finden? Was Anderes hätte mich lehren können – mich, der ich so geboren und erzogen wurde – an diesem hartherzigen, grausamen und unerbittlichen Orte auf Barmherzigkeit zu hoffen? Auf diese menschliche Schlachtbank rufe ich, der bis jetzt seine Hand nie zu Gebeten erhoben, den Zorn Gottes nieder! Mögen auf jenen schwarzen Baum, an dem ich eine gereifte Frucht bin, die Flüche aller seiner Opfer aus der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft niederfallen. Dem Manne, der mich in seinem Gewissen als Sohn anerkennen muß, vermache ich den Wunsch, daß er den Tod nicht finden möge auf einem Krankenlager aus Eiderdaunen, sondern gewaltsam abgerufen werde, wie ich jetzt, und nur den Nachtwind zu seinem Leidtragenden habe. Dazu sage ich Amen. Amen!«

Sein Arm sank an seiner Seite nieder; er wandte sich um und bewegte sich mit stetigem Schritte auf die Gerichtsdiener zu – wieder ganz der Mann, der er zuvor gewesen.

»Habt Ihr sonst Nichts mehr zu bemerken?« fragte der Kerkermeister.

Hugh winkte Barnaby zurück, obgleich er nicht in die Richtung schaute, wo derselbe stand, und antwortete:

»Nichts mehr.«

»Vorwärts!«

»Wenn nicht,« sagte Hugh, hastig zurückschauend – »wenn nicht etwa Jemand einen Hund zu sich nehmen will – aber auch nur für den Fall, daß er ihn gut zu behandeln gedenkt. Es ist ein solches Thier in dem Hause, aus dem ich kam; er gehört mir, und man findet nicht leicht einen besseren. Anfangs wird er zwar winseln, doch das nimmt bald ein Ende. – Ihr wundert Euch, daß ich jetzt noch an einen Hund denke,« fügte er mit einer Art von Lachen bei. »Wenn es ein Mensch auch nur halb so um mich verdient hätte, so würde ich seiner sicher nicht vergessen.«

Er sprach nicht mehr, sondern begab sich mit sorgloser Miene nach seinem Platze, obschon er zu gleicher Zeit mit einem Gemisch von trotziger Aufmerksamkeit und geweckter Neugierde auf den Gottesdienst für die Todten horchte. Sobald er aus der Thüre trat, wurde sein unglücklicher Gefährte hinausgeführt. Die Menge war Zeuge des Uebrigen.

Barnaby wollte gleichzeitig mit Hugh die Stufen des Gerüstes besteigen – ja, er wäre dem Zuge sogar vorangeeilt, wenn man ihn nicht zurückgehalten hätte, da er an einem andern Orte hingerichtet werden sollte. In ein paar Minuten erschienen die Sheriffe wieder; es begann auf's Neue dieselbe Prozession, wie zuvor, und zog durch verschiedene Stuben und Gänge nach einer andern Thüre – nach derjenigen, wo der Karren wartete. Er senkte seinen Kopf, um den Anblick zu vermeiden, der, wie er wußte, sonst seinen Augen begegnen mußte, und nahm bekümmert, zugleich aber mit einem gewissen kindischen Stolz und kindischer Freude seinen Sitz auf dem Fuhrwerke. Die Gerichtsdiener schlossen sich vorn, hinten und an den Seiten an; die Wagen der Sheriffe rollten voraus; das militärische Executionskommando umringte das Ganze; und so bewegten sie sich langsam durch die andringende Volksmasse nach Lord Mansfields zerstörtem Hause.

Es war ein trauriger Anblick – all' diese prunkende Kraftzurschaustellung um ein einziges hilfloses Wesen; und noch trauriger war es, mit anzusehen, wie Barnaby dahin fuhr und seine unsteten Gedanken eine seltsame Ermuthigung fanden in den gedrängt vollen Fenstern und in dem Auflauf auf den Straßen; aber auch selbst hier fühlte er den Einfluß des klaren Himmels, nach dessen endlosem Blau er lächelnd aufsah. Doch hatte es seit Unterdrückung der Rebellion viele solcher Scenen gegeben – einige so ergreifend und zurückstoßend, daß sie weit mehr dazu dienten, Mitleid gegen die Opfer, als Achtung gegen das Gesetz zu wecken, dessen starker Arm sich jetzt in den Stunden der öffentlichen Sicherheit mehr als einmal eben so unnöthigerweise zu erheben schien, als er sich in den Zeiten der Gefahr schmählich kraftlos erwiesen hatte.

Zwei Krüppel – beide kaum aus den Knabenschuhen getreten – einer mit einem hölzernen Bein, ein anderer, der seine gelähmten Glieder nur vermittelst Krücken fortzuschaffen vermocht hatte, waren in demselben Bloomsbury Square aufgehängt worden. Als man im Begriffe war, den Karren unter ihnen wegzuziehen, bemerkte man, daß ihre Gesichter nicht dem Hause zugekehrt waren, das sie zu berauben geholfen hatten; und um diesem Mangel abzuhelfen, wurde ihr Unglück verlängert. Ein weiterer Knabe hing in Bow Street, während andere junge Menschen verschiedene Stadttheile mit ihren Leichen zieren mußten. Auch vier elende Weiber wurden hingerichtet. Mit einem Worte, Diejenigen, welche als Rebellen die Todesstrafe erlitten, waren meist die Schwächsten, Unbedeutendsten und Armseligsten aus dem Haufen. Man kann es für eine schneidende Satyre auf das falsche Religionsgeschrei, welches so viel Elend herbeigeführt, betrachten, daß Einige der Verurtheilten sich selbst als Katholiken bekannten und um die Vergünstigung baten, von den Priestern ihrer eigenen Religion zum Tode verurtheilt zu werden.

In Bishopsgate Street hängte man einen jungen Menschen, den sein grauhaariger Vater an dem Galgen erwartete; sobald der Unglückliche auf dem Gerüste ankam, küßte er ihn und setzte sich auf den Boden, bis man ihn herunternahm. Man hätte ihm gerne die Leiche seines Kindes überlassen, aber er war so arm, daß er keinen Sarg, keine Bahre, Nichts, um ihn darin fortzuschaffen, erschwingen konnte; er ging daher demüthig neben dem Karren her, der die Leiche nach dem Gefängniß zurückbrachte, und versuchte im Gehen, die leblose Hand zu berühren.

Aber der Volkshaufen hatte all' dieß bereits vergessen, oder kümmerte sich wenigstens nicht viel darum, und während eine große Masse den Galgen von Newgate umringte und näher zu kommen sich balgte, um ein paar unglückliche Menschen sterben zu sehen, folgte eine andere dem Zuge des armen, verlorenen Barnaby, um das Gedränge, das ihn an Ort und Stelle erwartete, noch mehr anzuschwellen.



 << zurück weiter >>