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Den ganzen nächsten Tag blieben Emma Haredale, Dolly und Miggs zusammen an dem Orte eingesperrt, wo sie schon so viele Tage gefangen gesessen, ohne Jemand zu sehen oder einen andern Ton zu hören, als das halblaute Gespräch, worin sich ihre Wächter in einem äußeren Zimmer ergingen. Ihre Anzahl schien sich gemindert zu haben, und auch die Weiberstimmen konnten sie nicht mehr hören, welche sie zuvor immer deutlich zu unterscheiden vermocht hatten. Auch schien irgend eine neue Aufregung unter ihnen zu herrschen, denn es wurde viel verstohlen aus- und eingegangen und beständig bei den andern Ankömmlingen Nachfrage gehalten. Man hatte sich früher ganz rücksichtslos benommen, oft einen gewaltigen Lärm gemacht, Streit angefangen, geboxt, getanzt und gesungen. Jetzt war aber Alles schüchtern und schweigsam; sie besprachen sich fast in Flüsterlauten und schlichen mit leisen und verstohlenen Tritten aus und ein – mit einem Worte, so ganz verschieden von dem lärmenden Gestampfe, womit bisher ihr Kommen und Gehen den zitternden Gefangenen angekündigt wurde.
Ob diese Veränderung in der Gegenwart irgend einer angesehenen Person aus den Reihen der Aufrührer, oder in irgend einem andern Anlasse ihren Grund hatte, vermochten sie nicht zu unterscheiden. Bisweilen glaubten sie, denselben in der Anwesenheit eines kranken Mannes in der Kammer suchen zu müssen, denn sie hatten in der letzten Nacht ein Scharren mit den Füßen, als ob eine Last hereingebracht würde, und nachher ächzende Töne gehört. Ueber den wahren Thatbestand konnten sie jedoch keine Gewißheit erholen, da jede Frage oder Bitte von ihrer Seite nur einen Sturm brutaler Verwünschungen oder etwas noch Schlimmeres hervorrief; auch fühlten sie sich zu glücklich, daß sie allein bleiben durften und mit Drohungen oder bewundernden Blicken verschont blieben, um diesen Trost durch einen freiwilligen Verkehr mit ihren Hütern auf's Spiel zu setzen.
Es war sowohl Emma, als auch der armen kleinen Schlosserstochter selbst hinreichend klar, daß sie, Dolly, der große Anziehungsgegenstand war, und daß Hugh und Tappertit, sobald sie Muße hatten, sich der zarteren Leidenschaft hinzugeben, zuverlässig um ihretwillen einander in die Haare gerathen würden, in welch letzterem Falle es nicht sehr schwierig war, vorauszusehen, wem die Prise zu Theil werden mußte. All' ihr früherer Schrecken gegen diesen Mann lebte auf's Neue wieder auf und steigerte sich zu einem Abscheu, den keine Sprache zu schildern vermag. Tausend alte Erinnerungen, Gefühle der Reue und Ursachen zu Kummer, Angst, und Furcht bedrängten sie von allen Seiten. Die arme Dolly Varden – die süße, blühende, schmucke Dolly – begann ihr Köpfchen zu hängen, dahin zu schwinden und zu welkem wie eine schöne Blume. Die Farbe floh von ihren Wangen, der Muth verließ sie und ihr armes Herzchen fing an, zu verzagen. Aller ihrer Eroberungen, ihrer Unbeständigkeit und ihrer anziehenden kleinen Koketterien vergessend, lag sie den ganzen lieben Tag an Emma Haredale's Busen, bald nach ihrem theuern, alten, grauhaarigen Vater, bald nach ihrer Mutter, bisweilen auch nach ihrer Heimath rufend, und so schwand sie langsam dahin, wie ein armes Vögelchen in seinem Käfig.
O ihr leichten Herzen, ihr leichten Herzen, die ihr so heiter auf dem glatten Strome dahinschwimmt und euch so wonnig und wohl in dem Sonnenscheine des Lebens fühlt – Duft auf der Pflaume, Blüthenzeit der Blume, zartes Erglühen in der Sommerluft, geflügeltes Insektenleben mit deiner eintägigen Dauer – wie bald sinkt ihr unter, wenn sich die Wasser trüben! Das Herz der armen Dolly – ein kleines, zartes, eitles, flatterhaftes Ding, schwindlig, ohne Rast und stets in den Lüften, in nichts beständig, als in den leuchtenden Blicken und dem heitern Lächeln – Dolly's Herz wollte brechen.
Emma war mehr mit Leiden vertraut und wußte sich daher besser darein zu finden. Trost konnte sie zwar nur wenig geben, oder doch ihre Freundin beruhigen und zärtlich behandeln, was sie denn auch that. Dolly klammerte sich an sie an, wie ein Kind an seine Amme. Indem Miß Haredale versuchte, ihr Muth einzuflößen, bekräftigte sie zugleich ihren eigenen, und trotz der langen Nächte, der trübseligen Tage und des lähmenden Einflusses von Wachen und Erschöpfung, ließ sie keine Klage laut werden, obgleich sie vielleicht einen weit bestimmteren und klareren Blick in die Gefahren und die Trostlosigkeit ihrer Lage that. Vor den Elenden, in deren Macht sie gegeben war, benahm sie sich so ruhig und inmitten ihrer Herzensangst lebte so augenscheinlich die geheime Zuversicht, man werde es nicht wagen, ihr ein Leides zu thun, daß unter ihren Hütern nicht ein Einziger war, der sie nicht mit einer gewissen Furcht betrachtet hätte. Einige glaubten sogar, sie habe irgend eine Waffe unter ihren Kleidern verborgen und werde im Nothfalle davon Gebrauch machen.
In dieser Lage befanden sie sich, als Miß Miggs zu ihnen gebracht worden, welche vorgab, sie sey gleichfalls wegen ihrer Reize gefangen genommen worden, und solche Heldenthaten von ihrem Widerstande erzählte, (die Tugend hatte ihr nämlich übernatürliche Kräfte verliehen) daß die Beiden sich sogar glücklich fühlten, in ihr eine Gefährtin zu haben. Auch war dieß nicht der einzige Trost, der ihnen anfangs aus Miggs' Anwesenheit und Gesellschaft erwuchs, denn diese junge Dame entfaltete so viel Geduld und Ergebung, eine so demüthige Langmuth unter ihrer Heimsuchung und athmete in allen ihren züchtigen Reden ein so heiliges Vertrauen und einen so frommen Glauben, Alles werde noch zu einem guten Ende führen, daß sogar Emma sich durch dieses glänzende Beispiel gekräftigt fühlte, denn sie zweifelte keinen Augenblick, daß Alles, was sie sprach, wahr und daß sie, gleich ihnen, von Allem, was sie liebte, weggerissen worden sey – ein Raub bangender Sorgen. Schon der Umstand, daß sie aus dem elterlichen Hause kam, wirkte anfangs als ein Belebungsmittel auf die arme Dolly; als sie jedoch hörte, unter welchen Verhältnissen sie fortgekommen, und in wessen Hände ihr Vater gefallen war, weinte sie bitterlicher als je und wollte sich nicht trösten lassen.
Miß Miggs bemühte sich, ihr diese Zaghaftigkeit zu verweisen, und forderte sie auf, an ihr ein Beispiel zu nehmen, sintemal ihr jetzt der Betrag ihrer Beiträge zu dem rothen Ziegelhäuschen mit tausendfältigen Interessen an Seelenfrieden, ruhigem Gewissen und ähnlichen Artikeln zurückkäme. Und da man eben ernste Dinge besprach, so hielt es Miß Miggs für ihre Pflicht, Hand an Miß Haredale's Bekehrung zu legen, zu deren Erbauung sie sich in einer ziemlich langen polemischen Anrede erging, in deren Verlauf sie sich selbst mit einem auserkorenen Missionär und die junge Dame mit einem in der Finsterniß wandelnden Kannibalen verglich. In der That kam sie auch so oft auf diesen Stoff zurück und forderte die beiden Mädchen zu so unzähligenmalen auf, an ihr ein Muster zu nehmen – zu gleicher Zeit mit ihrer ungeheuren Unwürdigkeit und ihrem Uebermaße von Sünden prunkend und prahlend – daß sie in Bälde in jener kleinen Stube mehr zum Aergerniß, als zum Trost wurde und ihre Leidensgefährtinnen wo möglich noch unglücklicher machte, als sie zuvor gewesen waren.
Die Nacht war jetzt hereingebrochen und sie blieben heute zum erstenmale im Dunkeln, denn bisher hatten ihre Hüter nie unterlassen, sie regelmäßig mit Lebensmitteln und Licht zu versehen. Jeder Wechsel in ihrer Lage, der an einem solchen Orte stattfand, flößte ihnen neue Aengsten ein, und als nach dem Verlaufe einiger Stunden das Dunkel noch immer nicht unterbrochen wurde, vermochte Emma ihre Unruhe nicht länger zu bewältigen.
Sie horchten aufmerksam. Es war ein Gemurmel in dem äußern Zimmer und hin und wieder ein Stöhnen, welches sich aus der Brust eines Leidenden zu ringen schien, der dasselbe vergeblich zu unterdrücken versuchte. Selbst ihre Wächter schienen im Dunkeln zu sitzen, denn kein Licht schien durch die Thürspalten und eben so wenig ließ sich das gewohnte rührige Treiben vernehmen. Es herrschte eine Todtenstille, die nicht einmal durch das Knarren einer Diele unterbrochen wurde.
Anfangs hätte Miß Miggs gar zu gerne wissen mögen, wer wohl die kranke Person sey; bei weiterer Erwägung kam sie jedoch zu dem Schlusse, daß es wohl ein Theil des verabredeten Anschlags und ein Kniff sey, der bald erfolgreich in Wirksamkeit treten dürfte. Um daher Miß Haredale zu trösten, gab sie ihre Meinung dahin kund, es sey wahrscheinlich ein verwundeter, irre geleiteter Papist, und diese glückliche Annahme ermuthigte sie, zu wiederholtenmalen leise ein »Hallilojah« vor sich hinzusingen.
»Ist's möglich« sagte Emma mit einiger Entrüstung, »daß Ihr, die Ihr alle diese Greuel, von denen Ihr uns erzählt, mit angesehen habt und, wie wir, in die Hände dieser Ungeheuer gefallen seyd, über ihre Grausamkeit noch triumphiren könnt?«
»Persönliche Rücksichten, Miß,« versetzte Miggs, »sinken einer edeln Sache gegenüber in Nichts zusammen. Hallilojah! Hallilojah! Hallilojah, meine guten Herren!«
Der schrillen Härte nach, womit Miß Miggs diese Anrufungsformel wiederholte, hätte man glauben sollen, sie keuche dieselbe durch das Schlüsselloch; die tiefe Dunkelheit ließ jedoch hierüber nicht in's Klare kommen.
»Wenn die Zeit gekommen ist – und der Himmel weiß, daß sie jeden Augenblick kommen kann – wo die Plane, um deren willen sie uns hergebracht haben, welche sie nun auch seyn mögen, zur Ausführung gebracht werden sollen – könntet Ihr noch immer getrost seyn und es mit ihnen halten?« fragte Emma.
»Dank sey es meinen grundgütigem barmherzigem gesegneten Sternen, ich kann es, Miß,« antwortete Miggs mit erhöhtem Nachdrucke. »Hallilojah, ihr guten Herrn!«
Selbst Dolly lebte bei diesen Worten, ungeachtet ihrer Trostlosigkeit und Niedergeschlagenheit wieder auf und befahl Miggs, auf der Stelle das Maul zu halten.
»Was habt Ihr zu bemerken beliebt, Miß Varden?« versetzte Miggs einen starken Nachdruck auf das erstere Wort legend.
Dolly wiederholte ihren Befehl.
»Ho, barmherziger Himmel!« rief Miggs mit einem hysterischen Lachen. »Ho, barmherziger Himmel! Ja, da muß ich wohl. Ho ja! Ich bin eine in den Staub getretene Sklavin, ein sich plackendes, sich abrackerndes, beständig arbeitendes, stets alle Schuld auf sich nehmendes, nie was recht machendes und nie sich zu reinigen Zeit kriegendes irdenes Geschirr – oder etwa nicht, Miß? Ho ja! Meine Stellungen sind niedrig, meine Fähigkeiten verdumpft und meine Pflichten bestehen darin, mich vor den boshaften, ausgearteten Töchtern gesegneter Mütter zu demüthigen, die werth sind, mit den Heiligen im Himmel umzugehen, aber die Schickung tragen, von gottlosen Verwandten verfolgt zu werden – und mich herabzuwürdigen vor solchen, die nicht besser sind als Heiden nicht wahr, Miß? Ho ja! Die einzigen für mich passenden Beschäftigungen sind hochfahrende junge Ketzerinnen zu bürsten, zu kämmen und ihnen zu helfen, bis sie sind, wie die übertünchten Gräben damit die jungen Männer glauben, daß kein Bischen da ist von Wattiren, Ausstopfen und Ausfüllen, auch Pomade nicht und nichts von Betrug und irdischen Eitelkeiten – etwa nicht, Miß? Ja, natürlich – ho, ja?«
Nachdem sie sich dieses ironischen Ergusses mit wunderbarer Zungengeläufigkeit und wahrhaft betäubender Schrillheit (besonders wenn sie in Interjektionen sich vernehmen ließ) entledigt hatte, brach sie (nicht weil Zähren gerade hier am passenden Ort waren, denn sie feierte jetzt einen Triumph, sondern aus purer Gewohnheit) in einen Strom von Thränen aus und rief mit leidenschaftlicher Ungeduld Simmun's Namen aus.
Was Emma Haredale und Dolly gethan, oder wie lange Miß Miggs ihr Banner, dessen wahre Farbe sie endlich gezeigt, vor ihrer erstarrten Gegnerin geschwungen haben würde, läßt sich nicht sagen. Auch wäre eine Conjektur darüber nutzlos, denn in diesem Augenblicke legte sich eine beengende Unterbrechung in's Mittel, welche, wie durch einen Sturm, die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zog.
Diese bestand in einem ungestümen Pochen an der Hausthüre, die dann plötzlich aufflog, und unmittelbar darauf folgte ein Kampf im Zimmer draußen und das Geklirr von Waffen. Ganz entzückt von der Hoffnung daß endlich die Rettungsstunde gekommen sey, schrieen Emma und Dolly laut um Hülfe. Auch blieb ihr Ruf nicht unerwidert, denn nach einer kurzen Weile stürzte ein Mann, der in der einen Hand einen gezogenen Degen, in der andern ein Licht trug in die Stube, wo sich die Gefangenen befanden.
Ihre Freude erlitt allerdings einen Stoß, als sie in dem Eintretenden einen wildfremden Menschen entdeckten; demungeachtet aber wandten sie sich an ihn und flehten ihn in leidenschaftlicher Sprache an, sie ihren Verwandten zurückzugeben.
»Zu welchem andern Zwecke wäre ich hier?« entgegnete er, indem er die Thüre zudrückte und sich mit dem Rücken dagegen stellte. »Welche Absicht hätte mich veranlassen können–mir durch Hindernisse und Gefahren den Weg hieher zu bahnen, wenn es nicht die wäre, Euch zu retten?«
Mit einer Freude, für die wir unmöglich einen bezeichnenden Ausdruck finden können, fielen sich die beiden Mädchen in die Arme und dankten dem Himmel für die so höchst gelegene Hülfe. Ihr Befreier trat für einen Augenblick vor, um das Licht auf den Tisch zu stellen, kehrte aber alsbald wieder an seinen frühern Platz an die Thüre zurück, nahm den Hut ab und sah sie lächelnd an.
»Ihr habt wohl Neuigkeiten von meinem Onkel, Sir?« fragte Emma, indem sie sich hastig an ihn wandte.
»Und von meinem Vater, und von meiner Mutter?« fügte Dolly bei.
»Ja,« sagte er. »Gute Neuigkeiten.«
»Sie sind doch noch am Leben und wohl?« riefen Beide mit einemmale.
»Ja, am Leben und wohl,« antwortete er.
»Und in der Nähe?«
»Das sagte ich nicht gerade,« entgegnete er in glattem Tone: »doch sind sie auch nicht gar zu weit weg. Eure Verwandte, meine Süße,« fügte er, gegen Dolly bei, »sind nur ein paar Stunden von hier. Ihr werdet ihnen, hoffe ich, heute Nacht noch zurückgegeben seyn.«
»Mein Onkel –« stotterte Emma.
»Euer Onkel, theure Miß Haredale, hat glücklicherweise – ich sage glücklicherweise, weil ihm gelang, was vielen unserer Glaubensgenossen fehl geschlagen hat – das Meer zwischen sich und England, und befindet sich wohlbehalten auf dem Festlande.«
»Gott sey Dank,« entgegnete Emma, halb ohnmächtig.
»Wohl dürft Ihr so sprechen. Ihr habt allen Grund, dem Himmel zu danken – mehr Grund, als Ihr für möglich halten würdet, da Ihr nur eine einzige Nacht diese Gräuelthaten mit angesehen habt.«
»Wünscht er, daß ich ihm folge?« fragte Emma.
»Ihr fragt, ob er es wünscht?« rief der Fremde erstaunt. »Ob er es wünscht! Doch Ihr könnt nicht wissen, welche Gefahren sich an ein Verbleiben in England ketten, wie schwierig es ist, zu entkommen, oder welchen Preis sich Hunderte kosten lassen würden, um sich die Mittel zur Flucht zu verschaffen – sonst würdet Ihr keine solche Fragen stellen. Ich bitte indessen um Verzeihung. Wie sollte es auch möglich seyn, da Ihr hier gefangen waret?«
»Ich entnehme, Sir,« sagte Emma nach einer kurzen Pause, »aus dem, was Ihr andeutet, aber nicht auszusprechen wagt, daß ich nur Zeuge des Anfangs und eines unbedeutenden Theils der Gewaltthätigkeiten, welche unsere Glaubensgenossen betrafen, gewesen bin, und daß die Verfolgungswuth noch nicht nachgelassen hat.«
Er zuckte die Achseln, schüttelte den Kopf und erhob seine Hände; dann senkte er mit demselben glatten Lächeln, welches durchaus nicht lieblich anzusehen war, die Augen zu Boden und verblieb stille.
»Ihr dürft Euch immerhin offen aussprechen, Sir,« sagte Emma, »und mir das Schlimmste mittheilen. Was wir erlitten haben, ist eine hinreichende Vorbereitung darauf.«
Jetzt legte sich aber Dolly in's Mittel und bat sie, nicht das Schlimmste, sondern bloß das Beste hören zu wollen; deßgleichen ersuchte sie auch den Gentleman, er möchte nur das Erfreuliche sagen und die übrigen Neuigkeiten für sich behalten, bis sie wieder wohlbehalten unter ihren Freunden wären.
»Es läßt sich mit wenig Worten sagen,« erwiederte er, der Schlosserstochter einen mißvergnügten Blick zuwerfend. »Das Volk hat sich, wie ein Mann, gegen uns erhoben, und die Straßen sind mit Soldaten angefüllt, welche ganz nach seinem Willen und Geheiß handeln. Wir haben keinen Schutz, als von oben, und keine Sicherheit, als die Flucht, die obendrein ein armseliger Nothbehelf ist, denn wir werden von allen Seiten bewacht, und sowohl durch Gewalt, als durch List hier zurückgehalten. Miß Haredale, es ist mir zuwider – von mir selbst oder von dem zu reden, was ich gethan habe, oder zu thun bereit bin, denn ich möchte meine Dienstleistungen nicht als Prahlerei erscheinen lassen. Da ich jedoch einflußreiche Verbindungen unter den Protestanten unterhalte und meine ganze Habe in ihrem Handelsverkehr stecken habe, so besaß ich glücklicherweise die Mittel, Euren Onkel zu retten. Auch steht es in meiner Macht, Euch in Sicherheit zu bringen, und um das heilige Versprechen, das ich ihm gab, zu lösen, bin ich jetzt hier. Er hat nämlich mein Wort, daß ich Euch nicht verlassen wolle, bis ich Euch wieder in seine Arme geführt. Der Verrath oder die Reue eines Eurer Hüter ließ mich den Ort Eurer Haft entdecken, und daß ich mir mit dem Schwerte in der Hand den Weg hieher gebahnt habe, deß seyd Ihr Zeuge.«
»Ihr bringt mir doch,« sagte Emma stotternd,« einige Zeilen oder ein Wahrzeichen von meinem Onkel?«
»Nein, er bringt nichts,« rief Dolly, angelegentlich auf ihn deutend; »ich bin jetzt überzeugt, daß er nichts bringt. Du mußt um keine Welt mit ihm gehen.«
»Bst, meine schöne Thörin – seyd stille,« versetzte er mit einem zornigen Stirnerunzeln. »Nein, ich habe keinen Brief, Miß Haredale, und eben so wenig ein Wahrzeichen irgend einer Art; aber indem ich Mitleid mit allen denen habe, welche das Unglück so schwer und so unverdient bedrückt, setze ich mein Leben auf's Spiel. Ich trage daher kein Schreiben bei mir, das, wenn es aufgefunden, mir sicheren Tod bringen würde. Ich dachte nicht daran, ein Zeichen zu verlangen, und eben so wenig fiel es Herrn Haredale ein, mich mit einem solchen zu beglaubigen, vielleicht weil er meine Treue und Aufrichtigkeit aus Erfahrung kannte und mir die Rettung seines Lebens verdankt.«
Es lag ein Verweis in diesen Worten, der bei einem Charakter, wie der von Emma Haredale war, seines Zweckes nicht verfehlte. Aber Dolly dachte ganz anders und ließ sich durchaus nicht rühren; sie beschwor ihre Freundin in allen Ausdrücken der Zärtlichkeit und Liebe, deren sie aufzubieten vermochte, sich ja nicht verleiten zu lassen.
»Die Zeit drängt,« sprach der Fremde, welcher, obgleich er die tiefste Theilnahme auszudrücken bemüht war, doch etwas Kaltes und sogar in seiner Sprache etwas Peinliches an sich hatte, »und wir sind von Gefahren umgeben. Wenn ich mich vergeblich bloß gestellt habe, so sey's d'rum; aber wenn Ihr Euren Onkel wiederseht, so laßt mir Gerechtigkeit wiederfahren. Es scheint, Ihr habt Lust, hier zu bleiben; vergeßt aber dabei nicht, Miß Haredale, daß ich Euch zum Abschied feierlich verwarnte, und daß die Folgen, denen Ihr Euch aussetzt, nicht mir zur Last gelegt werden können.«
»Halt, Sir!« rief Emma – »ich bitte, nur noch einen Augenblick. Können wir« – und sie zog Dolly näher an sich – »können wir nicht mit einander gehen?«
»Es ist eine zureichende Aufgabe,« antwortete er, » ein Frauenzimmer wohlbehalten durch Scenen zu bringen, wie sie uns begegnen werden, des Aufsehens gar nicht zu gedenken, das wir in dem Gedränge auf den Straßen machen würden. Ich habe gesagt, daß sie heute Nacht noch ihren Freunden zurückgegeben werden soll. Wenn Ihr meine Dienstleistungen annehmen wollt, Miß Haredale, so erhält sie im Augenblick ein sicheres Geleit und mein Versprechen ist gelöst. Entscheidet Ihr Euch für's Hierbleiben? Leute jeden Standes und Glaubensbekenntnisses flüchten sich aus der Stadt, die von einem Ende zum Andern der Plünderung Preis gegeben ist. Laßt mich wenigstens irgendwo Nutzen bringen. Wollt Ihr bleiben, oder gehen?«
»Dolly,« rief Emma hastig. »mein liebes Mädchen, dieß ist unsere letzte Hoffnung. Wenn wir uns jetzt trennen, so geschieht es nur, um uns in Glück und Ehre wieder zu sehen. Ich will diesem Herrn vertrauen.«
»Nein – nein – nein!« rief Dolly, sich an sie anklammernd. »Bitte, bitte, thu' es nicht!«
»Du hörst,« sagte Emma, »daß du diese Nacht – schon diese Nacht – in ein paar Stunden – o, bedenke doch das! – unter denen sein wirst, die sich um deinen Verlust zu Tode grämen und jetzt um deinetwillen in dem größten Jammer sind. Bete für mich, liebes Mädchen, wie ich es für dich thun will, und vergiß nie der glücklichen Stunden, die wir mit einander verbracht haben. Sage mir: ›Gott behüte dich!‹ sage mir dieß zum Abschied, Schwester.«
Aber Dolly war außer Stande, ein Wort hervorzubringen, und obgleich Emma sie wohl hundertmal auf die Wange küßte und ihre Thränen auf sie nieder strömen ließ – sie konnte nichts thun, als sich an ihren Hals hängen, schluchzen und sie nur noch fester umfassen.
»Wir haben keine Zeit mehr zu derartigen Scenen,« rief der Mann, indem er Dolly's Hand losmachte und sie rauh zurückstieß.während er Emma Haredale nach der Thüre zog. Nun, hurtig, ihr da draußen! Seyd ihr bereit?«
»Ja,« rief eine laute Stimme, ob der er zurückbebte. »Vollkommen bereit! Zurück da, wem sein Leben lieb ist.«
Und in einem Nu lag der Fremde gefällt da wie ein Ochse im Schlachthause – niedergestreckt, als ob ein Marmorblock vom Dache herunter gefallen wäre und ihn zerschmettert hätte. Und jetzt kamen helle Lichter und strahlende Gesichter hereingeströmt – Emma lag in den Armen ihres Onkels und Dolly warf sich mit einem Freudengeschrei, das die Luft durchschnitt, ihrem Vater und ihrer Mutter um den Hals.
Was es da für Ohnmachten gab, welches Lachen, welches Weinen, welches Schluchzen und Lächeln, wie viele Fragen und Antworten. Alle zumal redend und außer sich vor Freude; welches Rufen. Glückwünschen. Umarmen und Händedrücken; und wie oft sich dieser Rausch des Entzückens wiederholte – nein, keine Feder vermag dieß zu schildern.
Endlich, nach einer langen Weile, machte sich der alte Schlosser los, um zwei Fremde zu umarmen, welche seitwärts gestanden hatten, ohne die Glücklichen zu stören; und dann sahen sie –wen? Ja, Edward Chester und Joseph Willet.
»Schaut einmal,« rief der Schlosser. »Schaut einmal her! Wo würden wir Alle seyn, ohne diese Beiden da? Oh, Herr Edward – oh, Joe, Joe, wie leicht und doch wie voll habt ihr heute Abend mein altes Herz gemacht!«
»Es war Herr Edward, der ihn zu Boden schlug, Sir,« sagte Joe. »Ich hatte auch Luft dazu, aber ich überließ es ihm. – Na, du wackerer Ehrenmann! Nimm deine fünf Sinne zusammen, denn du darfst nicht mehr lange hier liegen bleiben.«
Er hatte in Ermanglung eines übrigen Armes den Fuß auf die Brust des angeblichen Befreiers gesetzt und gab demselben bei diesen Worten einen leichten Stoß. Gashford, denn kein anderer war es, erhob in kriechender Bosheit sein finsteres Gesicht, der überführten Sünde gleich, und bat um eine anständige Behandlung.
»Ich habe Zutritt zu allen Papieren meines Gebieters, Herr Haredale,« sagte er mit unterwürfiger Stimme, während Herr Haredale ihm den Rücken zukehrte und sich nicht ein einzigesmal nach ihm umsah; »es sind sehr wichtige Dokumente darunter. Sie stecken in vielen geheimen Schubfächern und sind an verschiedenen Orten, die nur Mylord und mir bekannt sind, vertheilt. Ich kann sehr werthvolle Eröffnungen machen und bei jedem Verhör gewichtige Belege geben. Ihr werdet es zu verantworten haben, wenn ich eine üble Behandlung erleide.«
»Pah!« rief Joe in tiefstem Widerwillen. »Mach' dich auf die Beine. Mensch; man erwartet dich draußen. Willst du aufstehen – hörst du?«
Gashford erhob sich langsam, nahm seinen Hut auf, sah sich mit der Miene getäuschter Bosheit und zugleich der wegwerfendsten Kriecherei in der Stube um und schlich hinaus.
»Und nun, meine Herren,« sagte Joe, der der Sprecher der Gesellschaft zu seyn schien, denn alle Uebrigen verhielten sich still; »je bälder wir nach dem schwarzen Löwen zurückkehren, desto besser ist's.«
Herr Haredale nickte beifällig, bot seiner Nichte den Arm, nahm eine ihrer Hände zwischen die seinigen und entfernte sich mit ihr; ihm folgte der Schlosser, Frau Varden und Dolly – die, wenn sie aus Dutzend Dolly's bestanden haben würde, nicht genug Oberfläche für all' die Umarmungen und Liebkosungen, welche ihr zu Theil wurden, geboten hätte. Edward Chester und Joe schlossen den Zug.
Und schaute denn Dolly nie zurück – nicht ein einzigesmal? Ließ sich nicht ein kleines, flüchtiges Zucken an der schwarzen, fast auf der glühenden Wange ruhenden Wimper und an dem von ihr beschatteten, gesenkten, funkelnden Auge entdecken? Joe kam es wenigstens so vor – und vielleicht hatte er sich nicht getäuscht, denn so viel ist richtig, es gab nicht viel Augen, wie Dolly's.
Das Vorzimmer, durch welches sie jetzt zu gehen hatten, war mit Menschen erfüllt, darunter auch Dennis in sicherem Gewahrsam; deßgleichen hatte hier seit gestern, hinter einem hölzernen Schirme verborgen, der jetzt weggenommen war, Simon Tappertit, der abtrünnige Lehrling, gelegen.
Er war verbrannt und gequetscht, hatte eine Schußwunde in seinem Leibe, und seine Beine – seine vollkommenen Beine, der Ruhm und Stolz seines Lebens, die Wonne seines ganzen Daseyns, waren zu einer häßlichen Formlosigkeit zerschmettert. Dolly, die sich jetzt nicht länger über das Stöhnen, das sie gehört, wunderte, drückte sich dichter an ihren Vater und schauderte über dem Anblick; aber weder Beulen, noch Brandmale, weder die Schußwunde, noch all' die Qual seiner leidenden Gliedmaßen verursachten Simon nur halb so viel Kummer, als der Umstand, daß er Dolly hinausgehen sehen und in Joe ihren Retter erkennen mußte.
Eine Kutsche stand vor der Thüre bereit, und Dolly saß bald gesund und wohlbehalten drinnen; Vater und Mutter zur Seite, während sich Emma Haredale und ihr Onkel, wirklich und leibhaftig, ihr gegenüber befanden. Aber da war kein Joe und kein Edward, und sie hatten nicht einmal mit ihnen sprechen können. Nur eine einzige Verbeugung und dann ein abgemessenes Zurücktreten. Armes Herz! welch eine weite Strecke bis zu dem schwarzen Löwen!