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Der alte John spazierte nicht in die Nähe des goldenen Schlüssels, denn zwischen dem goldenen Schlüssel und zwischen dem schwarzen Löwen lag ein endloses Labyrinth von Straßen – wie Jedermann weiß, der mit den beziehungsweisen Lagen von Clerkenwell und Whitechapel bekannt ist – und er stand keineswegs im Rufe eines gewaltigen Fußgängers. Doch liegt der goldene Schlüssel, wenn auch nicht auf dem seinigen so doch auf unserm Wege, weßhalb dieses Kapitel nach dem goldenen Schlüssel geht. Der goldene Schlüssel selbst, das schöne Sinnbild des Schlosserhandwerks, war von den Rebellen heruntergerissen und schnöde unter die Füße getreten worden. Aber jetzt hatte man ihn wieder in der vollen Glorie eines neuen Wammses, das heißt Anstriches, ausgehängt, und er, nahm sich dermalen sogar noch wackerer aus, als in alten Tagen. In der That war die ganze Vorderseite des Hauses so nett herausgeputzt und so durchaus wieder hergestellt, daß, wenn überhaupt welche von den Rebellen, die bei dem Sturme mitgeholfen hatten, übrig geblieben wären, der Anblick des alten, guten, wackern Häuschens in seiner neuen Gestalt wie Galle und Wermuth auf sie gewirkt haben müßte. Die Läden der Werkstatt waren jedoch geschlossen, die Fensterblenden oben niedergelassen und statt seines gewöhnlichen heiteren und gemüthlichen Aussehens lagerte auf dem Hause ein trüber und trauriger Charakter, den die Nachbarn, welche in alten Tagen den armen Barnaby oft hatten aus- und eingehen sehen, recht wohl zu deuten wußten. Die Hausthüre stand halb offen, aber der Hammer des Schlossers war stumm; die Katze saß träumend auf der mit Asche bedeckten Esse; Alles war verlassen, finster und stumm.
Auf der Schwelle dieser Thüre begegneten sich Herr Haredale und Edward Chester. Der Jüngere überließ dem Aelteren den Vortritt und Beide gingen mit einer so familiären Miene hinein, daß man leicht daraus ersehen konnte, sie warteten dort auf Jemand, oder seyen so bekannt im Hause, daß sie ohne allen Anstand ab und zu gehen konnten; dann schlossen sie die Thüre hinter sich ab.
Als sie in der alten, hinteren Wohnstube angelangt waren, stiegen sie die altmodische, steile Treppe hinan nach dem besten Zimmer – dem Stolz von Frau Varden's Herzen und sonst dem Tummelplatze der Haushaltungsthätigkeiten von Ehren Miggs.
»Herr Varden sagt mir, er habe gestern Abend die Mutter hergebracht?« begann Herr Haredale.
»Sie ist eine Treppe weiter oben – in dem Zimmer über diesem,« versetzte Edward. »Wie ich höre, geht ihr Schmerz über alle Beschreibung. Ich brauche nicht beizufügen – denn Ihr wißt das schon vorher – daß die Sorgfalt, die Theilnahme und Menschenfreundlichkeit dieser guten Leute keine Grenzen kennt.«
»Freilich. Möge sie der Himmel für dieß und noch vieles andere belohnen. Varden ist ausgegangen?«
»Er kam fast gleichzeitig mit Eurem Boten zurück. Die ganze Nacht ließ er sich nicht in dem Hause sehen – doch das müßt Ihr natürlich wissen. Er war ja großentheils bei Euch?«
»Ja. Ohne ihn hätte mir die rechte Hand gefehlt. Er ist zwar älter als ich, besitzt aber doch noch weit mehr Ausdauer.«
»Der heiterste und redlichste Mann von der ganzen Welt!«
»Er hat auch Grund dazu – er hat auch Grund dazu. Nie trug die Erde einen bessern Menschen. Er ärntet jetzt, was er gesäet hat – ich finde es natürlich.«
»Es wird indeß nicht allen Menschen dieses Glück zu Theil,« sagte Edward nach einem kurzen Zögern.
»Doch trifft sich's öfters, als Ihr Euch wohl denken mögt,« versetzte Herr Haredale. »Der Fehler liegt nur daran, daß wir mehr auf die Zeit der Aernte, als auf die Zeit der Saat Acht nehmen. Ihr findet hierin ein Beispiel an mir.«
Sein blasses und abgezehrtes Gesicht und seine düstere Haltung hatte allerdings Edward zu seiner vorerwähnten Bemerkung veranlaßt, und Letzterer wußte für den Augenblick nicht, was er antworten sollte.
»Bst, bst,« sagte Herr Haredale, »es war nicht schwer, diesen so nahe liegenden Gedanken in Euch zu lesen. Ihr seyd aber doch im Irrthum. Ich hatte meinen Antheil Leiden – vielleicht mehr, als es das gewöhnliche Loos der Menschen ist – aber ich habe mich schlecht darein gefunden. Ich zerbrach, wo ich hätte biegen können, und sann und brütete, während mein Geist sich in Gottes großer Schöpfung hätte ergehen sollen. Nur Derjenige vermag zu dulden, der in der ganzen Menschheit Brüder und Schwestern sieht. Ich habe mich von der Welt abgewandt und muß es jetzt büßen.«
Edward wollte ihn unterbrechen; er aber fuhr, ohne ihn zum Wort kommen zu lassen, fort:
»Es ist jetzt zu spät, den Folgen auszuweichen. Bisweilen denke ich, daß ich, wenn ich noch einmal zu leben hätte, diesen Fehler verbessern würde – weniger wegen der Liebe zum Guten (wie ich entdecke, wenn ich mein Herz prüfe), als um meiner selbst willen. Aber selbst während ich diese besseren Vorsätze fasse, bebe ich unwillkürlich vor dem Gedanken an die Leiden zurück, wenn ich sie wieder durchzumachen hätte, und in diesem Umstand finde ich den unerfreulichen Beleg, daß ich ganz wieder derselbe Mann seyn würde, selbst wenn ich die Vergangenheit zu nichte machen und mit meinen gegenwärtigen Erfahrungen ein neues Daseyn beginnen könnte.«
»Hievon könnt Ihr doch nicht so ganz überzeugt seyn,« sagte Edward.
»Ihr meint so,« entgegnete Herr Haredale, »und ich freue mich dessen. Aber ich kenne mich selbst besser, und muß daher nur ein um so größeres Mißtrauen in mich setzen. Doch lassen wir das, um auf einen andern Gegenstand überzugehen, der vielleicht in näherer Verbindung damit steht, als es auf den ersten Blick scheinen möchte. Sir, Ihr liebt meine Nichte noch immer, und auch sie ist Euch gewogen.«
»Ich habe diese Versicherung von ihren eigenen Lippen,« sagte Edward, »und Ihr wißt – gewiß, Ihr müßt wissen – daß ich diese frohe Ueberzeugung für kein Erdenglück hingeben möchte.«
»Ihr seyd offen, ehrenhaft und uneigennützig,« entgegnete Herr Haredale, »und habt mir diese Ueberzeugung aufgezwungen, trotz der bitteren Stimmung, die ich vordem gegen Euch unterhielt. Ich glaube Euch daher. Wartet hier, bis ich wieder zurückkomme.«
Mit diesen Worten verließ er das Zimmer und kehrte bald mit seiner Nichte zurück.
»Jenes erste und einzigemal,« sagte er, indem er von ihr auf ihn blickte, »als wir Drei mit einander unter dem Dache ihres Vaters standen, befahl ich Euch, es zu meiden und nie wieder unter dasselbe zurückzukehren.«
»Dieß ist der einzige Vorfall in der Geschichte unserer Liebe,« entgegnete Edward, »den ich vergessen habe.«
»Ihr tragt einen Namen,« sagte Herr Haredale, »den nicht zu vergessen ich guten Grund hatte. Ich weiß. Ich ließ mich durch die Rückblicke auf erlittene Kränkungen leiten und stacheln, aber selbst jetzt kann ich mir nicht den Vorwurf machen, als hätte ich je die innigste Sorge für ihr wahres Glück außer Augen gelassen. Ich war zwar im Irrthum, aber ich handelte aus keinem andern Antriebe, als aus dem reinen, redlichen und aufrichtigen Wunsche, ihr den verlorenen Vater zu ersetzen, so weit dieß meinen schwachen Kräften möglich war.«
»Theurer Onkel,« rief Emma, »ich habe keine Eltern gekannt, als Euch. Das Andenken der andern war mir heilig, aber Euch habe ich mein ganzes Leben über geliebt. Nie war ein Vater liebevoller gegen sein Kind, als Ihr gegen mich gewesen seyd, denn ich kann mich nicht erinnern, daß Ihr mir auch nur eine einzige bittere Stunde bereitetet.«
»Du sprichst zu zärtlich,« erwiederte er, »und doch kann ich nicht wünschen, daß du weniger partheiisch wärest, denn es liegt eine Wonne für mich in diesen Worten, die mir durch nichts anderes gegeben werden kann, und ich werde sie in meinem Herzen tragen, wenn weite Räume uns trennen. Habt noch einen Augenblick Nachsicht mit mir, Sir, denn wir haben viele Jahre mit einander gelebt, und obgleich ich glaube, daß ich ihrem Glück das Siegel aufdrücke, wenn ich sie Euren Händen übergebe, so finde ich doch, daß ich dazu aller meiner Kräfte benöthigt bin.«
Er drückte sie zärtlich an seine Brust und nach kurzer Pause nahm er wieder auf:
»Ich habe Euch Unrecht gethan, Sir, und bitte Euch um Vergebung – nehmt es nicht für eine gewöhnliche Redensart, denn es ist mein vollkommener und aufrichtiger Ernst. Mit derselben Redlichkeit will ich auch bekennen, daß es eine Zeit gegeben hat, wo ich die Umtriebe der Verrätherei und der Falschheit zuließ – ja, wenn ich mich auch nicht selbst dabei betheiligte, so ließ ich sie doch zu, um euch Beide zu trennen.«
»Ihr urtheilt zu strenge über Euch,« sagte Edward. »Laßt diese Dinge beruhen.«
»Sie treten als Ankläger gegen mich auf, wenn ich zurückblicke, und zwar nicht jetzt zum erstenmale,« versetzte er. »Ich kann nicht von Euch scheiden, ohne Eurer vollen Vergebung gewiß zu seyn, denn das Treiben der Welt und ich haben jetzt wenig mehr mit einander gemein, und ich werde genug zu bereuen haben in der Einsamkeit, ohne daß auch noch dieses auf mir lastet.«
»Wir Beide rufen Segen über Euch,« sagte Emma. »Möge der Gedanke an mich, die Euch so viel Dank und Liebe schuldig ist, Euch an nichts, als an meine treue Anhänglichkeit für die Vergangenheit und meine heißen Gebete für Eure Zukunft erinnern.«
»Die Zukunft,« entgegnete der Onkel mit einem wehmüthigen Lächeln, »hat wohl Strahlen für euch und ist mit den Rosen schöner Hoffnungen umgrenzt. Bei der meinigen ist es anders, obschon sie friedlich und, wie ich hoffe, frei seyn wird von Erdensorgen und Leidenschaften. Sobald ihr England verlaßt, scheide auch ich vom Vaterlande. Es gibt im Auslande Klöster, und jetzt, da ich zwei große Zwecke meines Lebens erfüllt habe, kenne ich keine bessere Heimath. Das macht euch Kummer? Aber ihr vergeßt, daß ich alt bin und meine Bahn bald abgelaufen seyn wird. Nun, wir werden wieder davon sprechen – nicht ein- oder zweimal, sondern noch oft – und du, Emma, sollst mir mit freundlichem Rathe beistehen.«
»Und Ihr wollt ihn annehmen?« fragte seine Nichte.
»Ich will ihn hören,« antwortete er, sie auf ihre schöne Stirne küssend, »und verlaß dich darauf, er soll nicht an mir verloren seyn. Was bleibt mir noch zu sagen? Ihr seyd in der letzten Zeit viel beisammen gewesen. Es ist besser und passender, daß die Umstände, welche vordem eure Trennung herbeiführten und den Saamen des Argwohns und Mißtrauens zwischen euch streuten, nicht von mir zur Sprache gebracht werden.«
»Viel, viel besser,« flüsterte Emma. »Denkt nicht mehr daran.«
»Ich bekenne, daß ich Antheil daran hatte,« sagte Herr Haredale, »obgleich ich sie verabscheute. Möge Niemand, wäre es auch noch so unbedeutend, von dem breiten Pfade der Ehre abweichen, wie scheinbar auch der Vorwand durch den guten Zweck gerechtfertigt werden möge. Ein guter Zweck kann nur durch gute Mittel bethätigt werden und wo man zu schlimmen greifen muß, darf man sich ja nicht durch die Absicht verblenden lassen; auch sie gehört dem Uebel an und sollte sogleich aufgegeben werden.«
Er blickte von seiner Nichte auf Edward und fuhr in sanfterem Tone fort:
»An Vermögen und Glücksgütern seyd ihr jetzt so ziemlich gleich. Ich bin ihr treuer Verwalter gewesen, und zu dem größeren Vermögen, was mein Bruder ihr hinterlassen hat wünsche ich, als Zeichen meiner Liebe, ein kleines Jahrgeld, kaum der Rede werth, beizufügen, denn ich werde dessen nicht mehr benöthigt seyn. Es freut mich, daß ihr England verlaßt. Möge unser vom Schicksal schwer heimgesuchtes Haus der Trümmerhaufen bleiben, der es ist. Wenn ihr nach einigen Jahren des Glückes zurückkehrt, werdet ihr über ein besseres und glücklicheres gebieten können. Wir sind doch Freunde?«
Edward ergriff die hingestreckte Hand und drückte sie herzlich.
»Ihr seyd weder säumig noch kalt in Eurer Antwort,« sagte Herr Haredale, seinen Händedruck mit gleicher Wärme erwiedernd, »und wenn ich Euch jetzt, nachdem ich Euch kenne, betrachte, so fühle ich, daß ich keinen passenderen Gatten für sie hätte wählen können. Ihr Vater war ein edler Mann, und auch er würde Eurer Verbindung Beifall gezollt haben. Ich übergebe Euch Emma in seinem Namen und mit seinem Segen. Wenn ich mit einer solchen Handlung von der Welt scheide, bereitet mir die Trennung von derselben mehr Glück, als sie mir in einem langen Leben bieten konnte.«
Er legte Emma in Edward's Arme und wollte eben das Zimmer verlassen, als er durch ein großes Geräusch in der Entfernung angehalten wurde; sie stutzten Alle und horchten.
Es war ein lautes Gejubel, mit lärmenden Zurufen untermischt, welche die Luft zerrissen. Mit jedem Augenblicke kam es näher und näher, und bald war es so nahe, daß es, als sie kaum zu lauschen angefangen hatten, sich schon zu einem betäubenden Gewirre von Tönen gerade an der Straßenecke steigerte.
»Man muß dem Lärmen Einhalt thun – Ruhe gebieten,« sagte Herr Haredale hastig. »Wir hätten dieß voraussehen können und Vorsichtsmaßregeln treffen sollen. Ich will hinunter zu ihnen.«
Aber bevor er die Thüre erreichte, und ehe Edward seinen Hut nehmen konnte, um ihm zu folgen, wurden sie abermals durch einen lauten Schrei von Oben angehalten. Die Frau des Schlossers stürzte herein, Herrn Haredale geradezu in die Arme, und rief laut:
»Sie weiß alles, Sir! – Sie weiß alles! Wir brachten es ihr allmälig bei; sie ist ganz vorbereitet.«
Nachdem die gute Dame diese Mittheilung gemacht und außerdem dem Himmel mit großer Glut und Herzlichkeit gedankt hatte, sank sie, nach dem Brauche aller Frauen bei aufregenden Anlässen, augenblicklich in Ohnmacht.
Sie eilten zum Fenster, rissen es auf und schauten in die gedrängt volle Straße hinunter. Unter einem dichten Volkshaufen, der unruhig durch einander wogte, konnte man das redliche Gesicht und die stämmige Gestalt des Schlossers erkennen, der um sich schlug, als kämpfte er mit einem wild aufgeregten Meere. Jetzt wurde er etwa ein paar Dutzend Schritte zurückgedrängt, jetzt wieder fast bis zu der Thüre vorgeschoben, dann wieder zurück, dann nach den gegenüberliegenden Häusern, dann gegen die neben dem seinigen; dann wurde er auf eine Treppenflucht hinaufgehoben und wohl von einem halben Hundert ausgestreckter Hände begrüßt, während die ganze tumultuirende Masse ihre Kehlen anstrengte und aus Leibeskräften ›Hurrah‹ rief. Obgleich der Schlosser auf dem schönsten Wege war, unter der allgemeinen Begeisterung in Stücke gerissen zu werden, so brachte ihn doch nichts aus der Fassung; er erwiederte die Jubelrufe, bis er eben so heiser war, als irgend einer aus dem Haufen, und schwenkte im Uebermaße seiner Herzensfreude seinen Hut, bis das Tageslicht zwischen der Krempe und der Krone durchschien.
Aber in all' diesem Wandern von Hand zu Hand, diesem Hin- und Herkämpfen, diesem Dahin- und Dorthinfegen, welches, ausgenommen daß er nach jedem Kampfe nur um so froher und strahlender aussah – den Frieden seiner Seele nicht mehr störte, als ein Strohhalm die Oberfläche des Wassers, ließ er auch nicht ein einzigesmal einen Arm fahren, der fest in den seinigen geschlungen war. Er drehte sich hin und wieder ein wenig, um seinen Freund auf den Rücken zu klopfen, ihm ein Wort der Ermuthigung in's Ohr zu flüstern, oder ihn mit einem Lächeln aufzuheitern; seine Hauptsache war jedoch, ihn gegen den Andrang zu schützen und einen Weg nach dem goldenen Schlüssel für ihn zu erzwingen.
Leidend und furchtsam, eingeschüchtert, blaß und verwundert auf das Gedränge hinstierend, als wäre er eben vom Tode erstanden und jetzt als Gespenst unter den Lebendigen erschienen, klammerte sich Barnaby – nicht Barnaby im Geist, sondern in Fleisch und Blut, mit Muskeln. Sehnen, Nerven und einem klopfenden, liebevollen Herzen – an seinen wackern alten Freund, von dem er sich nach dessen Belieben führen ließ.
Und so erreichten sie im Laufe der Zeit die Thüre, welche ihnen willkommenen Einlaß bot. Sie schlüpften hinein, schlossen sie mit aller Gewalt vor der nachdrängenden Menge zu, und nun stand Gabriel zwischen Herrn Haredale und Edward Chester, während Barnaby die Treppe hinauf eilte und an seiner Mutter Bette auf die Kniee niederfiel.
»So hat denn das beste Tagewerk, das wir je vollbrachten, ein gesegnetes Ende genommen,« rief der keuchende Schlosser Herrn Haredale zu. »Die Hallunken! 's hat einen harten Strauß gekostet, um von ihnen los zu kommen. Etlichemal meinte ich, es sey doch ein Bischen zu viel Wohlwollen für uns!«
Sie hatten sich den ganzen vorigen Tag Mühe gegeben, Barnaby's Leben zu retten. Da es ihnen an dem ersten Orte, wo sie ihr Anliegen vorbrachten, fehl schlug, erneuerten sie ihre Bemühungen an einem andern. Auch hier zurückgewiesen, fingen sie um Mitternacht auf's Neue an, nicht nur bei den Richtern und den Geschworenen, die ihn verurtheilt hatten, ihre Runde machend, sondern auch zu Männern von Einfluß, zu dem jungen Prinzen von Wales und sogar zu den Vorzimmern des Königs ihre Zuflucht nehmend. Nachdem es ihnen endlich geglückt war, ein Interesse für den Verurtheilten zu wecken, und man sich nicht abgeneigt zeigte, die Sache leidenschaftsloser zu untersuchen, verschafften sie sich eine Audienz bei dem Minister, der sie Morgens um 8 Uhr im Bette empfing. Das Resultat einer strengeren Untersuchung, bei welcher sie, die den armen Burschen von seiner Kindheit her kannten (abgesehen von ihren Bemühungen, denen man die Wiederaufnahme des Prozesses zu verdanken hatte), weitere gute Dienste leisteten – lief darauf hinaus, daß zwischen eilf und zwölf Uhr ein Begnadigungsbrief für Barnaby Rudge ausgefertigt, unterzeichnet und einem berittenen Gardisten übergeben wurde, um denselben sogleich nach dem Orte, wo die Hinrichtung Statt haben sollte, zu bringen. Der Courier langte in demselben Augenblick an, als der Karren auffuhr. Barnaby wurde nun nach dem Gefängniß zurückgeschafft, und Herr Haredale, der hieraus die Ueberzeugung gewann, daß die Sache nach Wunsche stand, hatte sich unmittelbar von Bloomsburg-Square nach dem goldenen Schlüssel begeben. Gabriel die dankbare Aufgabe überlassend, Barnaby im Triumphe nach Hause zu bringen.
»Ich brauche nicht zu sagen,« bemerkte der Schlosser, nachdem er wenigstens zu fünfzigmalen allen Männern im Hause die Hände gedrückt und alle Frauenzimmer umarmt hatte,« daß ich keinen weiteren Triumph daraus machen wollte, als für uns selbst. Aber sobald wir in die Straßen gelangten, wo man uns kannte, fing dieser Tumult an. Wenn man mir die Wahl ließe,« fügte er bei, indem er sein Purpurgesicht abwischte, »so zöge ich es nach den gemachten Erfahrungen vor, von einem feindlichen Haufen aus meinem Hause geholt, als von einem derartigen Freundesauflauf nach demselben zurückgeleitet zu werden.«
Es war jedoch klar genug, daß dieß von Seiten Gabriels nur eine Redensart war, und daß ihm die ganze Prozession die größte Wonne bereitete; denn da das Volk draußen fortlärmte und Hurrah rief, als hätte es sich Stimmen der besten Sorte zugelegt, die wohl in vierzehn Tagen nicht umzubringen wären, so schickte er nach Greif hinauf – dieser war nämlich auf seines Gebieters Rücken mitgekommen und hatte die Gunstbezeugungen der Menge dadurch anerkannt, daß er jeden Finger, der in seinen Bereich kam, blutig hackte – und präsentirte sich, mit dem Vogel auf dem Arme, an einem Fenster des ersten Stocks, seinen Hut so lange schwenkend, daß er nur noch an einem Fetzen zwischen seinen Fingern und dem Daumen niederhing. Nachdem diese Demonstration mit dem gebührenden Jubel aufgenommen und das Schweigen einigermaßen wieder hergestellt war, dankte er ihnen für ihre Theilnahme, nahm sich aber zugleich die Freiheit, ihnen mitzutheilen, daß eine kranke Person im Hause sey, weßhalb er ihnen den Vorschlag mache, drei Hurrah's für König George, drei für Alt-England und drei für gerade nichts Besonderes auszubringen; damit aber die Ceremonie zu schließen. Die Menge ließ sich das gefallen, substituirte für das nichts Besondere Gabriel Varden, gab ihm noch ein vollgemessenes Hurrah oben drein und zerstreute sich dann in der besten Laune.
Welche Glückwünsche ausgetauscht wurden, als sie allein waren, welches Uebermaß von Freude und Glück unter ihnen herrschte, wie unfähig Barnaby war, auch nur über ein Wort zu gebieten, und wie verwirrt er von dem Einen zum Andern ging, bis er sich so weit beruhigt hatte, um sich neben dem Lager seiner Mutter auf den Boden strecken und in einen tiefen Schlaf verfallen zu können – dieß sind Dinge, von welchen wir nicht zu sprechen brauchen. Auch ist es gut, daß sie dieser Klasse anheimfallen, denn es wäre schwer, Bericht darüber zu erhalten, wenn ihre Aufführung so gar unerläßlich wäre.
Ehe wir dieses heitere Gemälde verlassen, wird es gut seyn, auch noch einen Blick auf ein ganz anderes und düstereres zu werfen, welches sich dieselbe Nacht nur vor einigen wenigen Augen entfaltete.
Der Schauplatz war ein Kirchhof, die Zeit Mitternacht, die Personen Edward Chester, ein Geistlicher, ein Todtengräber und die vier Träger eines ärmlichen Sarges. Sie standen um ein frisch aufgeworfenes Grab, und einer der Träger hatte eine trübe Laterne in der Hand – das einzige Licht an diesem Orte – welche ihre matten Strahlen auf das Gebetbuch warf. Er stellte sie für einen Augenblick auf den Sarg, als er und seine Gefährten ihn niederließen. Es war keine Inschrift auf dem Deckel.
Die Erde fiel feierlich auf die letzte Behausung dieses namenlosen Mannes, und das Poltern der Schollen tönte unheimlich sogar in den an solche Töne gewöhnten Ohren Derjenigen wieder, welche ihn zu dieser Ruhestätte getragen hatten. Das Grab wurde wieder angefüllt und die Erde niedergetreten. Dann verließen sie gemeinschaftlich die Stelle.
»Ihr habt ihn im Leben nie gesehen?« fragte der Geistliche Herrn Edward.
»Oft; doch ist das schon seit Jahren. Ich wußte nicht, daß er mein Bruder war.«
»Seitdem nicht wieder?«
»Nein. Ich wollte ihn gestern besuchen, doch er war nicht zu vermögen, mich vorzulassen, obschon er, auf meinen Wunsch, zu öftermalen dringend darum angegangen wurde.«
»Und doch wollte er nicht? Das war verstockt und unnatürlich.«
»Meint Ihr so?«
»Ich muß daraus wohl entnehmen, daß Ihr anderer Meinung seyd?«
»Ihr habt Recht. Wir hören jeden Tag, daß sich die Welt über Ungeheuer von Undankbarkeit wundert. Ist es Euch nie aufgefallen, daß sie oft ein Ungeheuer von Lieblosigkeit als Etwas betrachtet, was ganz zu dem Laufe der Dinge gehört?«
Sie hatten inzwischen das Thor erreicht, sagten sich gute Nacht, und gingen ihrer verschiedenen Wege.