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Das Vorgebirge Karmel ragte hoch und schwarz am Rande des Traumes. Langsam, in breiten Fronten, rollten von Untergang die Wogen heran und zerstäubten an seinem Fuße. Zwei Schiffe zerrten knarrend an ihren Tauen. Das eine bereit, nach Mitternacht zu rudern, das andre, das kyprische, den Mittag suchend.
Pythagoras streckte seine Hände nach den Schiffen aus und wollte sie halten, um der furchtbaren Wahl zu entkommen. Da riß ihn der Traum aufwärts. Er stand auf den Höhen von Karmel; auf dem äußersten Vorsprung des Gebirges. Und er wähnte zu schweben. Denn rechts und links von ihm und vor ihm lag in unausdenklicher Weite das Meer. Es schimmerte fahl und gelb wie eine unbegrenzte öligglatte Haut und an seinem Saume stak ein glanzloser blutroter Ball in streifigen Nebeln.
Sonderbares Murmeln und Schaukeln, Stöhnen und Pfeifen war um ihn.
Die Gegend zerfloß, Karmel versank, die Worte: »Wohin, Pythagoras?« standen einsam in der leeren Hohlkugel seines Traumes.
»Wohin, Pythagoras?« schrillte ein Sturmstoß und schleuderte ihn nach oben.
»Hier liegt der Erdkreis! Wähle!« Und eine Erztafel, sosehr schimmernd, daß all der Raum erglänzte, breitete sich unermeßlich zu seinen Füßen. Aus der Erztafel aber wuchsen die eingeritzten Zeichen körperhaft empor und wurden zu Städten und Flüssen, Hainen und Gebirgen. Und er war über ihnen und in den Erscheinungen. Und sie sprangen weiter aus der Tafel und zogen dahin, richteten sich auf und verwehten.
Zedernwälder, rauschend und dunkel, die Pfade über den Libanon beschattend. Der meergeborene Felsen von Tyros mit den schwindelhohen Mauern und den Häusern, die Türmen glichen. Das verwüstete Land der Hebräer und seine zerstörten, geschleiften Städte, in deren Trümmern klagende Hirten umherirrten. Plötzlich wieder das Meer. Aber anders als vorhin vom Berge Karmel. Ein fröhliches Meer in Mittagsglut, über das kühle Winde strichen und die zitternde Glut verjagten; das rosenfarben und hellblau mit weißem Gischte tanzte und an sanftsteigende Küsten schlug, die, graugrün von Olivenhainen, sich gegen den schwarzblauen Himmel rauchig abgrenzten; wo breite Duftwogen greller Rosengärten über die summenden Fluren strichen: Jonien! Samos! Milet!
Dann wieder Tempel, im Lichterglanz erstrahlend und in Schwaden Räucherwerks gehüllt. Dampfend von Opfern, erschüttert vom Murmeln der Gebete und Beschwörungen. Und in düsteren Nächten die Enthüllung phönikischer Mysterien: Die Enkel des uralten Mochos, der lebte, ehe Troja fiel, standen um ihn und deuteten ihm die Priesterbücher Sidons.
»Ich danke euch, ihr Priester! Aber es ist nicht der Gott, den ich suche!« »Was sprichst du, Sohn des Mnesarchos? Sollen wir dich dem Moloch vorwerfen?«
»Haltet ein, ihr Priester, ihr versteht mich nicht!« »Wir verstehen dich nicht, Pythagoras! Ziehe nach Karmel und blick ins Meer!«
Der Traum verwirrte sich. In sausender Folge rasten die Mysterien von Sidon, Byblos und Karmel an ihm vorüber. Glatt und blendend, so hell, daß das Auge sie nicht fassen konnte, lag wieder die Erztafel vor ihm, und eine Stimme, außerhalb des Traumes geboren, zu schwach jedoch, ihn zu erwecken, drang in das Wirrsal der Gesichte:
»Der Jüngling schläft. Er gleicht einem der Olympier! Sieh nur die Muskeln! Die werden schwere Arbeit leisten können!«
Ein Kreischen und Schwirren übertönte die weiteren Worte.
Da schwang sich der Traum des Pythagoras in andere Zonen. Sein Traum ward Rede, die unaufhaltsam in seinem Innern tönte:
»Von Jonien über die Inseln hinweg bis Olympia und Dodona; über Delphi und Thrakien und Athen und Korinth; über Ithaka und Kerkyra und Kroton und Syrakus; bis nach Massalia und bis zu den Säulen des Herakles liegt ein Land und erwartet Gott! Es hat Götter dieses Land, lachende, liebende, frevelnde Götter! Aber alle die sehnenden Menschen kennen nicht das letzte Wesen dieser Götter, die nach den Worten der Dichter als Menschen durch die Haine wandeln und mit den Sterblichen leiden und kämpfen. Das sind nicht die Götter, die ich suche.
Am Fuße des Vorgebirges Karmel lagen zwei Schiffe. Eines, ein Schiff Sidons, wollte mich nach Mitternacht tragen, zurück zu den Phönikern und von dort nach Samos: zu den alten Göttern! Das andere, das Schiff wagender Kyprioten, klein und gebrechlich, richtete seinen Bug nach Mittag und setzte Segel. Es versprach, zum Nil zu eilen, nach Naukratis, nach Memphis, zum hunderttorigen Theben! Dorthin, wo vielleicht Kunde schlummert vom Wesen des Göttlichen, von den neuen Göttern!
Weit ist der Weg, unermeßlich weit der Erdkreis, und am Rande des Okeanos lauern die Gefahren!
Habe ich gewählt? Wo ist Karmel?«
Und plötzlich sah er all das Land zugleich, das Gott erwartet. Und er sah es wechseln in den Folgen der Geschlechter. Und sah mit einem Sinne, der nicht mehr Sterblichen eignet, das Vorwärtsrollen des Geschehens. Er erblickte das Land, das Gott gefunden hat:
Völker und Länder, Städte und Werkzeuge schichteten sich aufeinander. Erkenntnisse wuchsen und stürmten kyklopengleich den Olymp, so fremd, so neu, so unaussprechlich, daß er schreiend aufsprang und, noch torkelnd, die Hände vors Antlitz schlug.
Da schwollen die Laute, die bisher schon, außerhalb seines Traumes, um ihn gewesen waren, zu greller Deutlichkeit an: Schiffstaue ächzten im Sausen des Windes, das Segel klatschte an den Mast, die Wogen krachten an die Planken und rieselten zerstäubend in tausend rauschenden Stimmlagen, und Menschenworte schwirrten durcheinander.
»Faßt ihn! Jetzt ist's gelegene Zeit, er ist schwach und schlaftrunken!«
»Wir werden einen hohen Preis für ihn erzielen. Vielleicht kauft ein Suffet Karthagos den Sklaven!«
»Still! Er zieht die Hände von den Augen, es wird einen harten Kampf kosten!«
»Ergib dich ohne Widerstand! Verstehst du?« brüllte eine rohe Stimme, ganz nahe am Antlitze des Pythagoras.
Da war er vollends erwacht und breitete die Arme. Und kaum einen Herzschlag währte es, bis er alles erblickt hatte.
Auf dem schwarzen Nachthimmel funkelten, nur wenig verdeckt von darüber jagenden grellweißen Wolkenfetzen, die Sternbilder in seltener Leuchtkraft; das Verdeck des Schiffes aber glühte im Glaste lodernder Pechpfannen, deren schwelende Flammen der böige pfeifende Wind waagrecht streckte. Das Segel blähte sich blaffend fast zum Bersten und die Taue starrten in ihrer Gespanntheit wie Stangen. Die Bootsleute aber, zehn oder zwölf, standen nahe vor ihm und funkelten vor lüsterner Gier nach der lebendigen Beute.
Pythagoras jedoch hatte das Bild des Traumes in der Seele und alle Wirklichkeit entglitt ihm ins Reich der Schatten. So rief er:
»Heil dem Schicksale! Der Bug des Schiffes steht gegen Mittag und ich erblicke die Männer aus Kypros. Entschieden sind die Zweifel, die ein dunkler Alp noch einmal in der Wehrlosigkeit des Schlafes in mir emportrieb. Heil dem Schicksale, ich habe gewählt! – Was seht ihr mich so lauernd an, ihr Männer aus Kypros?« Und er richtete seine athletische Jünglingsgestalt, die letzte Trunkenheit des Schlummers von sich schüttelnd, hoch auf.
Mißtönend lachte einer der Schiffsleute heraus und brüllte:
»Verstehst du uns nicht, Fremder? Hast du deine Ohren mit Wachs verpicht? Unser Sklave bist du! Unser Eigentum!« Und er wandte sich zu den andern. »Bringt Stricke! Feste, knorrige Taue!«
Keine Miene veränderte sich im Antlitze des Pythagoras.
»Euer Sklave?« Und plötzlich wurden ihm früher gehörte Sätze greifbares Verständnis. »Euer Sklave?« wiederholte er langsam. »Ihr irrt, Kyprioten! Ich habe meine Herren schon gefunden, ehe ich euer elendes Schiff betrat. Aller Hellenen Sklave bin ich, aller Städte und Stämme Sklave, die von Jonien bis zu den Säulen des Herakles wohnen!«
»Holt die Stricke!« brüllte der vierschrötige Schiffsknecht noch wüster und machte Miene, sich auf den Jüngling zu stürzen.
»Ihr wollt mich an die Suffeten Karthagos verhandeln?« erwiderte Pythagoras mit klingender Stimme, während zwei Matrosen zu den Tauen schlichen. »Was soll das?«
»Schweig!« keuchte der Vierschrötige und ballte die Faust.
»Was soll das?« setzte Pythagoras mit gehobener Stimme fort. »Ich will es dir sagen! Zehn, fünfzehn Griechen aus Kypros werden im besten Falle um einige Minen, vielleicht Talente, reicher werden, das Geld wird in ihren Händen zerfließen; und alle Hellenen werden ärmer sein und die Götter werden zürnen!«
Der Vierschrötige wieherte auf. »Rede weiter, toller Fremdling, und erzähle uns, wodurch die Hellenen ärmer werden, wenn wir dich verkaufen!« Und er sah sich breit grinsend um.
Pythagoras aber war wieder in den Raum seiner Gesichte zurückgesunken und sah nicht mehr, was um ihn furchtbare Wirklichkeit war. So sprach er:
»Männer aus Kypros, Hellenen auch ihr, dürstend auch ihr nach neuen, nach älteren, nach endgültigeren Göttern! Wißt ihr nicht, ahnet ihr nicht, daß das Geschlecht, das auf den Schneekulmen des Olymps thront, das in den Ebenen Ilions die Heroen schirmte, nicht die Gottheit ist, die Anfang und Ende bedeutet? Seht ihr nicht, daß tiefere, grausigere Gewalten am Werke sind, den Erdkreis aufwühlend, das Chaos bannend, die Elemente bindend und lösend? Mich rief im Traume das Schicksal. Ihr kennt es, kennt die unerbittlichste Gottheit, gegen die alle Götter Staub sind. Laut rief es mich und befahl mir, vom Berge Karmel meine Fahrt mittagwärts zu lenken und die Spuren ehrwürdigster Götter zu suchen und sie euch, den anderen, allen Hellenen und ihren Enkeln zu bringen.
Männer aus Kypros! Die Schiffsleute, die die Taue holten, sind zurückgekehrt! Tut, was ihr wollt! Bindet mich, werft mich in den innersten Bauch des Schiffes, verhandelt mich den Karthagern um einen Scheffel Münzen! Und stemmt euch gegen die furchtbare Ananke, gegen den Schicksalszwang selbst, und werft das Volk der Hellenen um Äonen zurück und laßt es weiter in Sehnsucht darben.
Ihr zwölf Männer von Kypros! Ihr zwölf!«
Pythagoras hatte die letzten Worte klagend und anklagend, ins Leere scheinbar, hinausgerufen. Seine Augen leuchteten, den Strahl nach innen gekehrt, in mystischem Lichte und seine Gestalt schien mit jedem Tone zu wachsen.
Die Schiffsleute aber waren erbleicht. Starr hielten die beiden ihre Stricke vor sich hin und wagten nicht aufzusehen.
Einmal noch bäumte sich die gierige Frechheit des Vierschrötigen auf.
»Du bist vom Weine trunken, Fremdling! Ein paar Peitschenhiebe werden dich zur Besinnung bringen! Was faselst du von Träumen und vom Schicksale?« höhnte er.
Doch auch er erschauerte bereits unter dem Blicke des Jünglings, der ihn jetzt traf.
»Halt ein, lästere nicht! Siehst du nicht, daß er gleichsam in göttlichem Wahne spricht?« hastete ein Schiffer entsetzt hervor und schlug abergläubisch Beschwörungszeichen.
»Wie Odysseus wird er die Stürme auf uns loslassen und den Sack des Äolus losbinden: Euros zugleich und Notos und widrig wehender Zephyr werden sich auf unser armes Schiff stürzen!«
»Und er wird über Bord springen und inmitten ölglatter Wogen auf einem Delphin reiten und mit dem Horne Tritons alle Dämonen des Meeres zu unserer Vernichtung herbeirufen!« klagte ein dritter.
»Gebt den Weg frei!« herrschte da Pythagoras die erschütterten Seeleute an.
Und sie gehorchten schweigend. Er aber schritt zwischen ihnen durch und ging über die rotbestrahlten Planken, die unter dem tosenden Anpralle stets wilderer Wogen schwankten, zum Steuermann.
»Herr, das Schiff treibt ab! Arktos ist in Wolken gehüllt!« stammelte der Steuermann und stemmte sich mit aller Kraft gegen die knarrende Pinne des Steuers.
»Laß den großen Bären, Kypriote!« erwiderte Pythagoras. »Weißt du nicht, daß er kreist, gleich den anderen Sternbildern? Unbewegt ist nur einer im allnächtlichen Umschwunge des Gewölbes. Siehst du ihn dort oben im Schwanze des kleinen Bären? Richte den Kurs nach ihm und du wirst Mittag und Mitternacht in sicherer Linie durchfahren!«
Die anderen Schiffsleute waren ehrfürchtig und scheu nähergekommen.
»Wer bist du, Herr, daß du uralte Regeln der Schiffer umstoßest? Sind nicht unsere Väter und Vorväter stets dem großen Bären als Wegweiser gefolgt?« fragte einer schüchtern.
»Ihr hörtet, daß sich noch viel Größeres, viel Festerstehendes ändern soll als die Regeln der Steuerkunst. Wundert euch nicht! Die Kenntnis der Sterne aber lehrte mich Thales, der Weise Milets.«
»Wer bist du?« »Wer bist du?« klang es von allen Seiten. »Wer bist du, den Thales lehrte?«
»Ich bin Pythagoras, der Sohn des Mnesarchos aus Samos!«
»Pythagoras?« schrie ein älterer Kypriote auf. »Pythagoras, der große Schüler des größeren Thales und des erhabenen Pherekydes? Danket dem Schicksal, Freunde, das euch vor Frevel bewahrte! Er soll unser Herr sein, bis wir Ägyptens Boden betreten. Verzeihe uns, Jüngling, von dessen Ruhm heute schon die Küsten Joniens widerhallen!«
»Ihr werdet unsterblich sein, Schiffsleute, die ihr dem Werkzeuge des Schicksales helfet, die Spuren der Urgötter zu finden! – Jetzt aber zu den Tauen und Segeln, sonst erreichen wir niemals den Nil!«
Unheimlich grell lohten die Pechpfannen im Sausen des Windes und warfen lange rote Zungen hinaus auf die tobenden schwarzen Wasserwirbel. Die Planken stöhnten und krachten, das Segel knatterte und die Taue kreischten. Weißer Gischt tanzte in riesigen Flecken über die Schwärze der Fluten, und leuchtend lag hinter dem Schiffe das Phosphorband des Kielwassers.
Pythagoras aber stand einsam am Buge. Und während durch das tausendstimmige Tosen die wilden Seemannslieder der Kyprioten dröhnten, bot er sein Antlitz dem sprühenden Geriesel der emporspritzenden Bugwellen.
Und wieder lag Karmel vor ihm, stieg vor seinem inneren Gesichte wolkenhoch empor und er wußte, daß es in seinem Leben, mehr noch im Leben aller Hellenen den Punkt bedeutete, an dem ein großer Kampf sich entschieden hatte:
»Freut euch, olympische Götter, eure Voreltern sollen zu neuem Leben erstehen! Das Schicksal hat mich gerufen. Ich aber habe auf der Spitze des Vorgebirges das Schicksal erwählt, indem ich es erkannte!«
Das Schiff der Kyprioten aber bäumte sich noch einmal widerspenstig auf, dann erkannte auch das Holz der Planken die furchtbare Ananke und flog gefügig nach Mittag.