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IX

Ein sonderbarer Glanz lag über Ägypten. Nach all den Jahren der Umwälzungen und Wirren, die der Regierungszeit des Amasis vorangegangen waren, schien es fast, als habe das Schicksal beschlossen, Kemi zu entschädigen. Nicht nur, daß ein Herrscher die Doppelkrone trug, dessen Wille und Tatkraft täglich neue Wunder des Wohlstandes und der Kunst hervorzauberte; nicht nur, daß das blühende Land ungetrübten Frieden genoß, der bloß einmal durch die ruhmvolle Wiedergewinnung von Kypros unterbrochen wurde: selbst die heiligen Gewalten des Alls waren durchaus gnädig. Einer reichen Ernte folgte die andere, die Überschwemmungen des Stromes hielten das notwendige Maß und keine Seuche verheerte die Städte.

Und das alles geschah, obwohl die östlichen Reiche des Erdkreises von wildestem Kriegslärm widerhallten, obwohl sich dort neue Welten türmten und übereinander schichteten, obwohl Staaten, so mächtig wie Kemi, krachend zusammenstürzten und die Trümmer des Einsturzes neue Völker, neue Herren an die Oberfläche der Weltmacht wirbelten: Euphrat und Tigris waren rot vom Blute, der heilige Nil aber ergoß sein süßes Wasser lebenbringend über die Fluren.

Sonderbar war dieser Glanz Kemis. Denn es lag wie leises Zittern in der Herrlichkeit; jenes kaum bewußte, schattenhafte Aufzucken mitten im Taumel, das die ahnungsschwere Frage an die Götter richtet, ob ein ungetrübtes Glück im Plane des Weltenlaufes liege. Ob nicht vielmehr das Getriebe des Kosmos auf die ewige Schwankung, auf ein Hinauf und Hinab gestellt sei, seitdem die Schuld der Menschen das goldene Zeitalter zerstörte.

Pythagoras aber lebte im Gleiten dieser Jahre dahin gleich einer Pflanze, die unmerklich wächst und stets tiefere Wurzeln in den saftreichen Boden schlägt. Wenn auch der Rausch der ersten Erkenntnis längst vorbei war, genoß er um so mehr die Vertiefung und Verbreiterung seines Wissens. Die Lust der Einzellösung, der Sonderfrage erfaßte ihn und er schritt mondelang stille, schilfumraschelte Seitenpfade der Weisheit, an deren Ende er als Lösung eine kleine bunte Muschel fand. Trotzdem aber fühlte er mit der Allgewalt seiner untrüglichen Schicksalsahnung, daß diese Ruhe, dieses genießerische Aufnehmen und Forschen nur eine Herberge, eine Oase war, aus der er wieder hinaus mußte durch endlose unerforschte Wüsten, bis dorthin, wo die letzten Randberge des Wissens und Erkennens schwindelhoch zum Endgültigen aufstrebten.

So verließ er manchmal das heilige Tape, die hunderttorige Stadt, verließ die unerhörten Säulenwunder und Steinmassen und wanderte.

Und er kam nach Hermopolis, nach Ombos, nach Bubastis und Sais. Und wieder wandte er sich nach Memphis und Heliopolis und Philae; und überall sprangen die Pforten der Tempel und Priesterschulen weit vor dem Hierogrammateus des großen Amun auf. Weiter zog er nach Süden bis in die Regionen der wunderbaren Felsentempel, bis zu den Grenzfestungen des Landes Kasch.

Dann war er wieder in Theben, denn neue Rätsel, neue Fragen hatte er von seiner Wanderschaft mitgebracht. Tag für Tag saß er in den Büchersälen und unterredete sich mit den gelehrtesten der Priester. In letzter Zeit aber hatte ihn ein Problem tief erfaßt, dessen Lösung ihm niemand bringen konnte; ein Problem, das er sich schon damals zu deuten gesucht hatte, als er für den König die Knoten in die Meßleinen schlug. Hundertundzwanzig Ellen, hieß es in den hermetischen Büchern, oder zwölf Ellen oder zwölfhundert müßte die Schnur an Länge aufweisen. Die Knoten aber seien derart anzubringen, daß nach dreißig oder drei oder dreihundert der erste, nach weiteren vierzig oder vier oder vierhundert der zweite die Leine abteile. Der Rest sei dann fünfzig, fünf oder fünfhundert Ellen. Zwischen der Dreiheit und Vierheit aber entstehe der rechte Winkel.

Warum war dies so? Warum gab es außerdem noch unzählige rechtwinkelige Dreiecke mit anderen Seiten als drei, vier und fünf? Warum konnte man die dritte Seite in ganzen Zahlen nicht messen, wenn die zwei Schenkel des rechten Winkels gleich lang waren?

Und er stellte unzählige Versuche an. Zuerst überzeugte er sich von der Wahrheit der Lehren des hermetischen Buches in allen drei Fällen. Dann überlegte er, ob nicht das Maß Nebensache, Hauptsache vielmehr das Zahlenverhältnis sei. Und er ging daran, die Dreiheit, Vierheit und Fünfzahl mit beliebigen Zahlen zu vervielfachen. Es gelang. Stets wieder ergab sich der rechte Winkel. Der Allgemeinheit der Frage aber kam er trotz aller Unterstützung durch gewiegte Rechner und Feldmesser nicht näher, und manche scheinbare Entdeckung stellte sich bald als Irrtum oder Täuschung heraus.

So wandte er sich wieder den Göttern und den letzten Geheimnissen und Weihediensten zu. Sonderbare Dinge auch sah er, die ihn mächtig ergriffen: Zauber und Verwünschung, Besessenheit und Vorhersage, Verkündigung des Geschickes aus den Sternen, Abwehr böser Mächte durch Spruch und Amulett. Doch nicht lange fand sein lichter Verstand an diesem dunklen Getriebe Gefallen. Sonchis auch war es, der oft die habgierige Kehrseite dieser spukhaften Ereignisse ihm enthüllte und ihm ans Herz legte, jeden Hang zu falscher Ahnung bei seinen Schülern zu unterdrücken. Gebe es doch Rätselhaftes noch genug auf dem Erdkreise, so daß es nicht nötig sei, die Dunkelheit des Daseins, eine angeborene Neigung der Menschen ausnützend, zu vermehren. »Licht sollen wir bringen!« sagte dann wohl der Greis, »Licht, wie der große Rā. Nicht aber die Finsternis heraufbeschwören. Denn leichter und williger kriecht das Dunkel herbei, als es die Menschheit wünscht. Und schneller, schneller als der belebende freudige Strahl des herrlichen Gottes!« –

Auch nach Krokodeilonpolis kam Pythagoras auf seiner Wanderschaft und durchforschte die Irrgänge des Labyrinths. Als er aber, einer plötzlich aufsteigenden wehmütigen Erinnerung folgend, den Palast Bertreris suchte, fand er fremde Herren in den Gärten. Nie hatte er gefragt, nie hatte man ihm etwas von ihr erzählt, um sein Herz zu schonen. Jetzt aber erfuhr er durch die Schwatzhaftigkeit der neuen Besitzer, die dem mächtigen Priester gefällig sein wollten, daß Bertreri längst einem Großen der Kyrenaika sich verbunden habe. Als Unterpfand des jüngst geschlossenen Bündnisses mit diesen elenden Hellenen, fügte man vertraulich hinzu.

Pythagoras lächelte und kehrte dem Palaste den Rücken. Doppelt lächelte er. Zuerst über den zähen Willen der Königstochter, einem Manne seines Stammes anzugehören und lieber die Heimat und den süßen Gau Piom zu verlassen, als dieses Ziel aufzugeben. Dann aber wieder über den tiefen Haß, den die neuen Besitzer des Palastes gegen seine Volksgenossen hegten. Wozu solche Gegensätze? Wozu abgrundtief lieben und hassen? War das Volk Kemis schon so schwach und zwiegespalten? Warum ganze Völker mit den Gefühlen umfassen? Warum nicht das Einzelne betrachten, den einzelnen Menschen, die einzelne Eigenschaft, das einzelne Geschick, die einzelne Begabung?

Und er begann sich in tiefe Gedanken zu verlieren, warum er nach den Jahren der Reinigung trotz des Rates und Wunsches der Priester kein Weib gewählt hatte. Bis heute noch keiner dieser herrlichen, schlanken, liebevollen und granitglatten Jungfrauen genaht war, die sich mehr als einmal sehnend ihm angeboten hatten. Und er fand keinen deutlichen Grund. Keinen, den er aus den Sitten seines Volkes oder Kemis erklären konnte. Ein Tiefstes aber, das nicht einmal Sonchis voll verstand, rief in ihm, sobald sein Leib wankte, er dürfe des Glückes der Liebe erst genießen, wenn sein Ziel erreicht sei. Was aber war sein Ziel?

Und weiter führten ihn die Fragen. Seine Erinnerung richtete Karmel vor ihm auf, Karmel, das schon ein leiser Nebel der Zeit umflorte. Und wie ein Schrecken durchzuckte ihn die stets zurückgeschobene Klarheit des Ablaufes vieler, vieler Jahre.

Als er wieder südwärts fuhr und das süße Wehen des Nordwindes die Segel seiner Barke blähte, wußte er, daß er in das Alter des reifen Mannes getreten war und zurück zu seinem Volke mußte. Zurück, um ihm das Wissen von den Urgöttern zu bringen, um das er als Jüngling ausgezogen war. Und er wußte plötzlich, daß er nicht mehr sich selbst gehörte, nicht mehr seiner Leidenschaft des Forschens, Lernens und Wanderns. Und er betrat Theben mit dem Entschlusse, von den Priestern, von Sonchis vor allen, Entlassung und Erlaubnis zur Heimkehr in seine Vaterstadt zu erbitten.

Am frühen Vormittage eines ausnehmend heißen Tages traf er ein. Als er aber in den Tempelbezirk kam, fiel es ihm sogleich auf, daß bei den obersten Priestern ein übergewöhnlich reges Gehen und Kommen herrschte und daß sich eine gewisse Spannung und Aufregung geltend machte, die er sich vorerst nicht deuten konnte. Auch sein Versuch, bei Sonchis vorzusprechen, blieb vergeblich. Man teilte ihm im Auftrage des Oberpriesters mit, er möge sich für den späten Abend bereithalten und sich auf Entscheidendes gefaßt machen.

Was ging vor? Er war doch eben erst durch die ganze Ausdehnung Kemis gesegelt. Nichts hatte er wahrgenommen, was Umwälzung oder Veränderung gleichsah. Ein Geheimnis scheinbar, um das bisher nur ganz wenige wußten.

Jedenfalls mußte er bis zum Abende ausharren, wobei es noch ungewiß blieb, ob er eingeweiht werden würde. Doch nein! Sonchis hatte ja Entscheidendes angekündigt!

So verstrich der Tag in fiebernder Erwartung und sein Entschluß, um Abschied einzukommen, schob sich vor den dunklen Rätseln zurück. Er ging in die Büchersäle und versuchte, Papyrosrollen, die er von den Priestern des Labyrinths zum Geschenke erhalten hatte, zu lesen. Doch die hieratischen Zeichen tanzten vor seinen Augen und die bunten Bilder verzogen sich zu drohenden Fratzen.

Endlich wurde es Abend. Aber auch jetzt nahm die Spannung noch kein Ende. Denn ein dienender Priester erschien und teilte ihm mit, er möge erst um Mitternacht in das Gebäude der Oberpriester kommen, um Sonchis abzuholen.

Mühsam zwang er sich zur Geduld. Denn eine Unruhe hatte ihn ergriffen, die ihm sonst fremd war und die er nur als Ahnung ungeheurer Ereignisse deuten konnte. Und er warf sich auf sein Lager und beruhigte sich erst, als er darauf verfiel, schwierige Rechenprobleme im Kopfe zu bewältigen.

Als er aber nach unsäglich langer Zeit aus seinem Hause trat, da träufte die herrliche Nacht sogleich Stille auf sein Gemüt. Denn über den Palmenhainen, in denen die Wohnungen und Schulen der Priester lagen, stand ein blauweißer, greller Mond, der sosehr leuchtete, daß die Fiederkronen und Schäfte auf dem Silbergrunde lange Schatten warfen. Und die drückende Hitze des Tages hatte balsamisch durchfluteter Kühle Platz gemacht.

An der Pforte des Versammlungssaales traf er Sonchis, der ihn seltsam bewegt umarmte und sagte, er wünsche sich auf das Dach des Tempels zu begeben, um sich nach den Aufregungen der letzten Stunden auszuruhen.

So gingen die beiden schweigend durch die Haine, und überirdisch, in dunkler Bläue, lag plötzlich die Riesenmasse des Tempels vor ihnen. Nur die Fronten der Pylonen traf das volle Licht des Mondes. In aller ihrer Vielfalt erglitzerten sie, und Gesimse und Reliefs erzeugten mächtigere Schatten als im Strahle des Tages. Die Farben aber hatte der kalte Glanz vernichtet, so daß bloß hellere und tiefere Töne, von Silber bis zu Tiefblau, sichtbar wurden.

An der Außenwand des Tempels, die, aus der Nähe gesehen, in unsicherem Lichte wie ein Felsgebirge anstieg, drangen sie durch eine verborgene Tür in die Steinmassen. Und klirrend fiel die Granitplatte hinter ihnen zurück, daß ein Uneingeweihter geglaubt hätte, der Bau habe die Schreitenden verschlungen. Dumpfige schmale Treppen leiteten hinan. Und es währte lange Zeit, bis sie endlich die Krönung des Tempels, oberhalb der großen Säulenhallen, betraten.

Kühl und herrlich war hier die Luft und der Umkreis überwältigend. Rechts dehnte sich der Vorhof in mystischem Glaste und tief unter ihnen träumte die Reihe der Standbilder und Säulen den ewigen Traum. Pylonenkulme überhöhten sie in ungewohnten Formen und Verschneidungen. Und eine der Flächen auf der pyramidenartigen Spitze der Obelisken funkelte in blendendem Widerscheine. Darüber hinaus aber lag alles im gleichen Flirren des Mondlichtes: Die Sphinxalleen, der zitterndstreifige Fluß, das Häusergewoge und die Randgebirge.

Knapp vor ihnen ragten die metallenen Wunder, die Werkzeuge der Sternbeobachtung, und der Himmel selbst war trotz des starken Vollmondes über und über mit gleißenden Gestirnen bedeckt.

Sonchis ließ sich in einem der Lehnsessel nieder, die neben den Tierkreisen standen, und bedeutete dem Pythagoras, seinem Beispiele zu folgen.

Er blickte lange und wie traumverloren vor sich hin. Dann aber straffte sich plötzlich seine Miene und er begann mit eindringlicher Stimme:

»Pythagoras, deine Zeit ist gekommen! Ich habe dich heute beschieden, um dir zu sagen, daß du das heilige Land Kemi verlassen mußt!«

Pythagoras zuckte empor. Was war geschehen? Und obwohl er selbst um die Gestattung der Abreise hatte bitten wollen, traf ihn die Ankündigung mit gräßlicher Schärfe, da der Wille nicht von ihm ausging. Sonchis aber, der den Kampf auf dem Antlitze seines Schülers las, setzte beschwichtigend fort:

»Höre mich weiter, damit du alles verstehst. Und vertraue dem, der heute schon das hundertste Jahr seines Lebens überschritt und die lange Zeit seines Lebens prüfend und richtend die Geschicke Kemis bewachte!«

»Ich vertraue dir mehr als mir selbst!« flüsterte Pythagoras. »Doch auch du wirst es verstehen, daß mir der Abschied aus diesem Lande, aus meiner zweiten Heimat, nicht so leicht wird. Um so mehr, wenn ich nach deinen Worten fürchten muß, man habe beschlossen, mich zu entfernen!«

Sonchis lächelte. Dann aber wurde sein Antlitz sofort wieder ernst, als er antwortete:

»Entfernen? Was sind das für Reden, Pythagoras? Haben wir dir vom ersten Tage an nicht gezeigt, wie sehr unser Herz das deine sucht? Nein, weit anders ist alles! Eben weil wir dich lieben, weil wir dein letztes Ziel kennen, haben wir beschlossen, dich freizugeben, bevor es zu spät ist!«

»Was heißt das? Hat sich Unheil begeben? Oder muß es mir verborgen bleiben?« hastete Pythagoras hervor.

»Nein, du sollst, du mußt alles erfahren!« erwiderte der Greis. »Also höre: Vor vier Tagen ist der Sohn der Sonne gestorben. Amasis lebt nicht mehr, der Begründer der Gerechtigkeit auf Erden. Wir aber hielten es geheim, denn ein furchtbarer Sturm, eine vernichtende Woge naht vom östlichen Horizonte. Um dir aber alles zu erklären, muß ich tief in die Vergangenheit zurückgreifen. Du weißt von jenem Kyros, der aus dem Nichts sich emporschwang und schließlich die alten Reiche am Euphrat zerschmetterte. Dieser König litt an den Augen und kein Arzt konnte ihm helfen. Da sandte er flehende Botschaften an Amasis und bat um einen unserer Ärzte. Bereitwillig sandten wir ihm den gelehrtesten und geschicktesten Heilkundigen und der Herr der Perser genas. Die Schwatzhaftigkeit und Ruhmredigkeit des Gefolges aber wußte am persischen Hofe die Schönheit der Königstöchter Kemis sosehr zu preisen, daß der Sohn des Kyros, der wilde Kambyses, in Lüsternheit nach den Reizen unserer Jungfrauen entbrannte. Als nun sein Vater im Kampfe gefallen war und er selbst zur Königswürde gelangte, trat er auch sogleich an Amasis heran und freite um eine seiner Töchter. Wir rieten damals dem Sonnensohne, die Bitte abzuschlagen und das furchtbare Reich, das früher oder später unser Feind werden würde, anzugreifen, wenn der zurückgewiesene Perser beleidigende Worte gebrauchte. Oder aber die schönste Tochter zu senden und ein Bündnis zu schließen gegen Punt und Kasch. Amasis folgte unserem Rate nicht. Er griff zur Täuschung, zu einer List, die im Laufe der Zeiten offenbar werden mußte und den günstigen Augenblick des Kampfes versäumen ließ. Er sandte Nitetis, die Tochter des Uahabra, die Schwester jener Bertreri, und gab vor, sie sei sein eigenes Kind. Nitetis aber, von der wüsten Art des Kambyses beleidigt, empört über die Schmach, die ihr Amasis zugefügt, noch immer hassend den Überwinder ihres Vaters, enthüllte dem Perserkönig den Betrug. Und es kam, wie wir es befürchtet hatten. Ja, es geschah noch Schlimmeres. Kambyses schwieg und sandte eine heuchlerische Botschaft nach der anderen zu Amasis. Bis wir, vor wenigen Tagen erst, erfuhren, daß ein gräßliches Heer gesammelt ist, ein Heer von unzählbarer Stärke, um für den Schimpf Rache zu nehmen. Nitetis aber hat uns höhnend mitgeteilt, daß sie bald in Kemi einziehen werde, um die Seele ihres Vaters zu begrüßen. Des Vaters, den Amasis erwürgte. Vernichten aber werde sie den Rebellen, der gelogen hatte, ihr Vater zu sein.«

Sonchis machte eine Pause in seiner Rede. Pythagoras aber hatte sich erhoben und stand jetzt knapp vor dem Thronsessel des Oberpriesters. Und er sagte feierlich:

»Als ich den Nil heraufsegelte, gestern noch, als ich schon in Theben war, wollte ich euch um Entlassung bitten, denn ich hielt meine Aufgabe für erfüllt, die Kraft, Neues aufzunehmen, für erschöpft. Und ich wollte heimwärts wandern, um den Schatz eurer Weisheit meinem Volke zu bringen. In der Form, die eure Geheimnisse nicht verletzt. Jetzt aber ist alles anders geworden, erhabener Lehrer und Vater! Jetzt ist das Volk in Bedrängnis und Gefahr, das herrliche Volk, von dem ich Edles und Hilfreiches nur bisher erfuhr. Jetzt bleibe ich und werde euren Kampf, euren Sieg teilen und erst ziehen, wenn neuer Friede über Kemi leuchtet.«

»Unseren Sieg teilen?« Wie ein wehmutvoller Aufschrei gellte diese Frage durch die Nacht. Dann aber dämpfte Sonchis wieder die Stimme, als er fortsetzte: »Ich habe diesen Entschluß von dir erwartet, Pythagoras! Groß und edel, deiner würdig ist deine Rede. Aber er ist falsch, dieser Entschluß! Denn wir werden nicht siegen, Pythagoras! Kemi wird sterben, vergehen, verderben! Und du, eben du mußt diesem Weltende entrinnen. Soll doch der Weisheitsschatz der Jahrtausende zu anderen Völkern kommen, solange sie noch jung und gläubig sind. Damit du aber nicht wähnst, daß ich düsteren Stimmungen, greisenhaften Anwandlungen nur meine Seele leihe, sollst du Gründe für meine Ahnung hören.« Er senkte das Haupt und schwieg.

Pythagoras aber, der sich schon während der Rede des Oberpriesters wieder niedergelassen hatte, antwortete leise:

»Wer kann vorhersagen, was das schwankende Glück des Krieges bringen wird? Wüsten liegen zwischen uns und den Persern, unkundig sind sie der Gegend und des Weges. Vielleicht wird es nicht so schwer sein, ihre ermüdeten Streiter zu vertreiben. Ein Volk wie das von Kemi wird im Augenblicke der Gefahr sich verzehnfachen an Mut und Widerstand!«

»Auch wir vertrauten den Wüsten, bauten auf unsre Krieger, hofften auf die hellenischen Söldner!« fiel Sonchis ein. »Zwei dieser Träume sind vorbei, Pythagoras! Vielleicht alle drei! Die Wüste schützt uns nicht mehr. Denn Phanes, ein Hauptmann unserer hellenischen Hilfstruppen, ein Mann aus Halikarnassos, ist am Hofe des Kambyses und hat dem Perserkönig ein Bündnis mit den Arabern vermittelt. Die Araber aber werden mit Scharen von schlauchbeladenen Kamelen in die Wüste ziehen und das Heer des Persers mit Wasser versorgen. Was jedoch werden unsre Söldner tun, wenn einer ihrer Führer im Dienste des Feindes steht? Kannst du das sagen, Pythagoras? Vertraust du deinen Volksgenossen? Oder sind sie alle wie jener Phanes?« In den letzten Worten lag tiefe Bitterkeit und anklagender Schmerz.

Pythagoras aber stieß entsetzt hervor:

»Das hat euch einer meines Stammes getan? Verflucht sei er, tausendfach verflucht! Nicht Hellene soll mehr heißen, der solches verbrach. Zu den Söldnern aber werde ich selbst sprechen und ihnen sagen, wo ihre Pflicht ist!«

»Du wirst an die Mündung des Stromes fahren und ein Schiff besteigen, das dich nach Samos bringt! Verstehst du mich, Pythagoras? Der größte Dienst ist es, den du Kemi erweisen kannst. Auch sollst du nicht im Lande bleiben, wenn Urteilslose vielleicht den Schimpf des Phanes auf alles Hellenische übertragen. Das hättest du nicht verdient, edelster Sohn des Inselvolkes. Doch antworte jetzt nicht! Höre weiter! Wüste und Söldner, sagte ich, sind uns kein Schutz mehr. Wo aber sind Kemis Krieger? Sind noch die Helden, die zahllosen Scharen im Lande, die einst den Erdkreis bezwangen? Wieder muß ich in die Vergangenheit zurückgreifen. Hörtest du, daß unter dem ersten Psamtik, unter der Herrschaft des Urahnen Uahabras, zweihundertvierzigtausend Streiter nach Kasch zogen mit Waffen und Kriegsgerät? Und dort das Reich der Überläufer gründeten, wie wir es nennen? Gewiß, sie sind längst gestorben, diese Unzähligen! Wo aber sind ihre Söhne und Enkel? Wo die Überlieferung ihrer Kampftüchtigkeit? Nein, Pythagoras! Ich kann mich nicht belügen, wie furchtbar mir auch diese Erkenntnis wird: Kemis Welttraum ist ausgeträumt! Um so mehr, als nicht im Osten allein die Feinde erstehen. Ihr Hellenen, ihr, deren Geist ich an dir kennenlernte, deren Urkraft und Schlachtenglück ich in meiner Jugend sah, baut im Norden ein neues Reich und im Westen setztet ihr euch fest in der Kyrenaika. Kasch rüstet; die Überläufer, ausgestattet mit allen Waffen Kemis, pochen an seine südlichen Pforten. Und Punt und die Araber schlagen sich zu den Persern. Zur Abwehr aber dieses drohenden Weltkreises bleiben uns Neulinge und Fremde und – Verräter! Das war der Unterbau, auf dem das unglaubliche Friedensglück des Amasis schwebte. Der glücklichste Herr Kemis war er, weil er starb, bevor der Krieg hereinbrach. Nicht er hat das Glück erzeugt, er hat es nur weise genützt und sein Feld geerntet, bevor die Heuschreckenschwärme den Himmel des Ostens verdüsterten. Noch einmal, Pythagoras, fliehe in die Länder, denen die Zukunft gehört. Es sind deine Länder, es ist deine Heimat! Hier aber wird es Abend und Nacht werden. Schuldlos werden wir versinken, wir, die mehr taten, um Ewigkeit zu erreichen als alle anderen Menschen des Erdkreises! Als alle anderen, die waren, sind und sein werden!« Er schwieg.

Pythagoras aber, den furchtbares Mitleid überkommen hatte, der zudem den jähen Wechsel der Dinge nicht fassen konnte, weil sein mutiger Sinn einen aussichtslosen Kampf nicht anerkannte, versuchte den letzten Einwand:

»Schuldlos, sagst du, Sonchis, werde das Volk Kemis sterben. Bei diesen Worten erinnerte ich mich der Anwürfe, die einst Bertreri gegen Kemis Herrscher, gegen euch – uns – Priester erhob. Vielleicht ist doch nur durch augenblicklichen Irrtum die Lage des Landes so verdüstert. Vielleicht wird einmal Hellas mit Kemi im Bunde aufs neue die Welt erobern, den Osten niederwerfen und das einige Reich der Weisheit aufrichten!«

»So dachte der erste Psamtik, als ihm die Hellenen seinen Thron erstritten und dabei die Männer Kemis erschlugen. So wähnte Uahabra. Du hast recht, Pythagoras, recht in dem Sinne, daß du die Gedanken Bertreris richtig wiedergibst. Das aber ist der abgrundtiefe Haß der ersten saitischen Könige gegen uns Priester, weil sie uns nicht verstanden. Gut, Söldner, Seeräuber stritten für Psamtik! Was aber dann? Doch nicht Auslieferung Kemis an die Fremden? Konnte man ihre Taten nicht mit Gold und Reichtum lohnen? Für euch Hellenen ist neben uns kein Platz! Zu hoch ist die Anlage deines Volkes, Pythagoras. Entweder wir oder ihr! Das wußten wir, als du einst um Aufnahme in die Priesterschule ansuchtest. Wir nahmen dich auf, nicht weil Amasis bat. Wir hätten ihm getrotzt gleich den Priestern von Heliopolis und Memphis. Nein, weil wir dein reines Herz sahen und weil wir euch, euch Hellenen, zu Erben unseres Geistes einsetzen wollen. Ich weiß, daß ihr himmelweit anders seid als wir. Eines aber werdet ihr weitervererben durch die Jahrtausende: Den Gleichklang der Klarheit, des Glaubens und der Weisheitstiefe. Daher zum letzten Male, Pythagoras: Dein Weg geht heimwärts! Morgen wirst du Theben verlassen!«

Pythagoras sann dumpf vor sich hin. Endlich sagte er gepreßt:

»Ich werde gehorchen! Aber vorher werde ich noch mit den Söldnern sprechen. Das kannst du mir nicht verwehren. Denn ewig würde das Unterlassen dieser schwachen Hilfe als Undank in meinem Gemüte haften.«

»Tue es, Pythagoras, wenn es dein Herz verlangt! Am großen Ablaufe des Schicksals wird auch diese edle Tat nichts ändern!«

Beide schwiegen und sahen hinauf zu den Gestirnen. Und ein sonderbar ruhiges Gefühl senkte sich auf die Wissenden. Das Gefühl, daß, am Ablaufe des Kosmos gemessen, alles Erdenschicksal nur flüchtigen Herzschlag des Alls bedeutete. Und die Zeit verrann und sie schwiegen und sannen: Und ihre Gedanken flogen hinaus in die Reiche des Werdens, in die Zonen, wo Allwissen zum Anbeginn zurückkehrt und wieder eins wird mit den Uranfängen. Trotzdem aber aus sich selbst Höheres gebiert und so, vom Nichts zum Nichts, aufsteigt im Kreislaufe der Weltenentstehungen zur letzten Stufe der Vollendung. Und die Gesichte des Aufwärtsstrebens blendeten ihre Augen und ihr Blick verlor sich in Nebeln.

Die Gestirne blaßten ab, der Mond versank.

Höher und höher schob sich der Widerschein des werdenden Lichtes oberhalb der östlichen Randgebirge. Brandrote Streifen überzogen plötzlich die dunkle Bläue des Himmelsgrundes und der erste Lichtpfeil schoß bis zum Scheitelpunkte des Himmelsbogens.

Da standen plötzlich, in merkwürdigem Halbkreise, acht Hundekopf-Affen, die heiligen Tiere des Tempels, knapp über ihnen auf der Zinne des Mittelpylons und kehrten sich, wie betend, mit ausgestreckten Händen dem entspringenden Morgen zu. Ein leiser trillernder Laut enttönte ihren Kehlen und sie wiegten sich im Rhythmos von rechts nach links.

Lächelnd sah Sonchis hinauf und murmelte die Worte des heiligen Textes:

»Das sind die Musikanten des Lichtgottes Rā! Sie erscheinen für ihn, sie tanzen ihm zu, sie singen für ihn, sie reden zu ihm. Erscheint der große Gott als Schöpfer der wissenden und erleuchteten Menschen, so hören sie die Worte der Hymnen in der Sprache des Landes Ueten. Sie sind in Wahrheit die Sänger des Rā!«

Plötzlich aber erhob sich der Oberpriester und blickte erstaunt um sich, denn die Affen schrieen mißtönend auf und flohen.

Pythagoras wies gegen den Himmel. Dunkle, schwere Wolkenschwaden hatten sich, wie aus dem Nichts hervorgezaubert, traumschnell über all den werdenden Morgen gelegt, fahle Ränder schoben sich übereinander und ein Windstoß schrillte in den Lüften. Dann aber prasselte unaufhaltsam die laue Flut eines rauschenden Regens nieder.

Da hob Sonchis seinen Arm und deutete im Kreise über die Stadt und das Land und sagte dumpf:

»Solange die Hunderttorige steht, zurück in die Jahrtausende, ist kein Regen gefallen in diesem Erdstriche. Der Unerforschliche gibt ein Zeichen: Urgewässer durchbrechen das Firmament, um den Anfang wiederzubringen, der für uns ein Ende ist. Geh hinaus, Pythagoras, und künde dem Volke, daß Amasis eingeht in die ewige Wohnung. Und sage ihnen, daß das gräßliche Vorzeichen den Schmerz Amuns um seinen Tod bedeutet. Tränen sind es, Tränen des herrlichen Gottes, die er um seinen irdischen Sohn vergießt. Sag ihnen das, denn das Volk Kemis bedarf des Trostes. Dann aber eile nach Norden. Leb wohl, Pythagoras, den ich mehr liebte als mein eigenes Kind! Baue neue Welten, da die alte Welt zum Uranfang zurückkehrt!«

Und er umarmte Pythagoras lange und innig und küßte seine hohe Stirne. Dann wandte er sich ab und hob die Hände betend gegen Osten, wo jetzt durch wild zerklüftetes Gewölk wieder siegreich der Sonnenspeer des großen Rā durchbrach. – –


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