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XXXII

Wenige Monde später erhob sich auf der Stelle, von der Pythagoras den Gipfelsatz seiner Mathesis verkündet hatte, ein mächtiger Würfel aus weißem Marmor. Die Oberfläche dieses Kybos aber überhöhten zehn kleine Säulentrommeln, die, ein Sinnbild der heiligen Zehnheit, sich aufsteigend von der Vierzahl in der Form eines Dreieckes bis zur Einheit verjüngten: So zwar, daß die unterste Reihe, die auf dem Würfel aufsaß, aus vier Kylindren gebildet war, deren Zwischenräume von den dreien der nächsthöheren Reihe überbrückt wurden; über deren Zwischenräumen aber standen noch zwei, und als Spitze über dieser Zweibeit der letzte Säulenstutzen: so, daß jedes Auge sehen konnte, wie aus der Vermählung der vier ersten Zahlen die heilige Zehnheit entstände, und wie Einheit und Vierfaltigkeit hiebei Scheitel und Basis darstellten.

Ein Weihegeschenk war dieser Stein, das der große Bund der Pythagoreer zur unvergänglichen Erinnerung an die ewige Geistestat des Meisters gestiftet hatte. Noch einen Zweck aber sollte der Würfel erfüllen: Ein mächtiges Bollwerk würde er bilden wider all die Verleumdungen, die gegen den erhabenen Philosophen und gegen seine Lehre ausgestreut wurden. Deshalb auch hatte man mit seiner Erlaubnis ein kleines Stück des Geheimnisses gelüftet und mit goldenen Buchstaben in die vier senkrechten Flächen des Kybos das herrliche Gebet eingemeißelt, das alle die Tausende von Pythagoreern täglich beteten und das als unverrückbare Richtschnur ihr Handeln bestimmte. Das Volk Krotons, alle Hellenen, sollten stehen und prüfen, ob auch nur ein Wort Kylonischer Verleumdung auf festem Wahrheitsgrunde ruhte.

Das goldene Epos aber, das dort, weithinstrahlend, auf der Agora von Kroton schimmerte, sprach in folgenden Worten zu den Herzen der Hellenen:

»Ehre die Götter zuerst, dich beugend vor ewiger Satzung!
Halt auch heilig den Eid und alle die hehren Heroen.
Ehre dann die Daimonen des unterweltlichen Reiches
und vergiß nicht der Eltern und derer, die nah dir verwandt sind.
Aus den anderen wähle zum Freund, wer durch Tugend hervorragt.
Laß dich rühren durch sanfte Worte und hilfreiche Taten.
Grolle nicht rasch dem Freund, der kleine Schuld nur auf sich lud.
Sieh ihm die Fehler nach; denn die Kraft wohnt ja nahe dem Zwange.
Das nun befolge genau! Es werde dir aber Gewohnheit,
stets zu meistern den Bauch, die Wollust, den Schlaf und den Jähzorn.
Schmähliches Werk sollst du weder jemals mit andern verüben,
noch auch allein; denn es ziemt dir am meisten Scham vor dir selber.
Dann beherzige stets das Gerechtsein in Taten und Worten,
nichts möge je dich bestimmen, die wuchernde Torheit zu dulden,
wirst du doch bald erkennen, daß nur der Tod uns gewiß ist,
und daß die irdischen Schätze, kaum noch errafft, schon zerrinnen.
Was aber widrige Mächte den Menschen an Ungemach bringen,
was du selbst auch erlost, das trage in trotzfremdem Gleichmut.
Heilen sollst du es wohl, wo nur immer du kannst; doch bedenke,
daß nicht allzuviel Leid das Schicksal dem Guten zuteilt.
Viel Gerede wird dich umschwirren, hassend und liebreich:
Du erschrick darum nicht, noch lasse dich gar vielleicht hemmen!
Würdest du aber verleumdet, dann lächle, verzeihend, in Sanftmut.
Jetzt aber künd' ich dir mehr noch, damit du ganz dich vollendest:
Biete Trotz der Verführung, der Lockung durch Worte und Taten,
etwas zu sagen, zu tun, das du selbst nicht als Besseres billigst.
Wäge zuerst und dann handle, auf daß nicht Torheit erwachse,
daß du auch sonder Reue verflossenen Werks dich erfreun darfst;
wird doch ein Taugenichts nur das Sinnlose tun oder sagen.
Was du nicht voll verstehst, laß unbegonnen und lerne,
bis du den Mangel besiegtest und leicht dir dadurch dann die Tat wird.
Frevelhaft ist es, das Göttergeschenk der Gesundheit zu stören,
maßlos wütend in Speise und Trank und gymnastischen Werken.
Maß aber sei das genannt, was nie dich erschöpft, nie dich aufpeitscht!
Reinlich halte den Körper, doch nie verwöhnt und verweichlicht.
Hüte dich stets auch davor, durch Prunk nur Neid zu erregen.
Trage einfache Tracht; an Schönheit soll nicht es ihr fehlen.
Meide zudem noch den Geiz; denn das Maß ist in allem das Beste.
Schade nicht leichthin dir selbst und wäg', wie gesagt, vor den Taten.
Nie aber soll sich der Schlaf auf die müden Augen dir senken,
ehe du dreimal die Werke des Tages durchmusternd erwogest.
Was ward versäumt? Was getan? Welche heilige Pflicht nicht vollendet?
So, vom ersten beginnend, geh alles durch, und wofern du Schlechtes
verübt, so erschrick! Das Gute jedoch sei dir Freude!
Scheue nicht Mühen für dieses Gute und liebe es sorgend,
denn es bringt dich ja stets auf die Fährte der göttlichen Tugend.
Zugeschworen sei das bei dem, der die Vierheit uns eingab,
jenes ewigen Werde-Stroms Quelle! Ans Werk denn begeistert!
Flehe um gutes Ende die Götter! Doch hast du erlangt dies,
wirst du plötzlich erkennen der Götter und Menschen Verbindung,
die ja alles durchdringt und allem mit Urmacht gebietet.
Klar wird dir sein der geregelte Gleichklang des strömenden Werdens,
der vor vergeblicher Hoffnung dich schützt und versteckten Gefahren.
Sehen wirst du, wie Menschen durch Selbstschuld das Leiden sich schaffen,
und so nah sie dem Guten auch sind, in verderblicher Blindheit,
tauben Ohrs, die Erlösung vom Übel nur selten erkennen.
So sehr verblendet den leichten Sinn ihnen Torheit. Von Wirbeln
werden sie fortgerissen ins Grenzenlose des Unheils
Unsichtbar blieb ihnen ja das Verderben des schrecklichen Zwiespalts,
der sie begleitet und den sie locken, anstatt ihn zu fliehen.
Vater Zeus, o wie vielfachem Weh enthübest du alle,
wenn du nur jedem zeigtest, welch furchtbarer Daimon ihm nachfolgt.
Doch sei getrost! Denn der reine Mensch ist ja göttlichen Stammes
und sein heiliges Wesen wird selbst ihn jegliches lehren.
Hast du an solchem Teil, dann wirst du siegreich bestehen,
und wirst heilend die Seele aus allen Übeln erretten!
Meide die Anfänge nur, die ich wies; und durch Sühnung gereinigt,
prüfe den Geist, die Fessel ihm lösend. Und endlich dann kröne
all dein Werk und setze Vernunft als obersten Lenker des Handelns.
Wenn du, verlassend den Leib dann, zum freien Äther emporsteigst,
wirst unsterblich du sein, ein seliger Gott und kein Mensch mehr!«


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