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XXX

Die folgenden Monde waren sosehr erfüllt vom Aufbau und von der Einrichtung der Schule, daß sich jener doppelt bedeutsame Tag seinem Inhalte nach im Gesichtskreise des Philosophen stets mehr zurückschob. Galt es doch in erster Reihe, einen festen Stamm helfender Pädagogen heranzuziehen, der dem Weisheitsliebenden die äußere Last der Beaufsichtigung und Führung der zahlreichen Schar, die sich schon angemeldet hatte und noch von Tag zu Tag wuchs, abnehmen oder zumindest erleichtern könnte.

Dabei stellten sich unerwartete Schwierigkeiten heraus; denn da Pythagoras noch keine eigentlichen Schüler des höheren Wissens besessen hatte, die dem geplanten Lehrgange sowohl in sittlicher als in geistiger Weise vom Anbeginne an gefolgt waren, mußte er gerade das verantwortungsvolle Amt der Pädagogen in die Hände von Neulingen legen. Doch es blieb kein andrer Weg. Er mußte seinem durchdringenden Blicke für die Seelen der Menschen und den günstigen Mächten des Göttlichen vertrauen und in Geduld der Zeit harren, die es ihm ohneweiters möglich machte, aus Schülern strengster Vorbildung den Stand der Pädagogen zu ergänzen oder zu erneuern. So bestellte er vorerst den Jüngling Aristokles und den Hirten Pythagoras zu Aufsehern jüngster Knaben, während er einige ältere Akusmatiker, die sich besonders hervorgetan hatten, als Hüter der reiferen Jünglinge berief. Er schärfte diesen Ausgezeichneten jedoch besonders ein, daß sie sich vorläufig nur durch erprobte Untadeligkeit des Gemütes vor den anderen für bevorzugt halten dürften. Was die Lehre selbst betreffe, entsprächen sie heute noch lange nicht den Anforderungen ihres Ranges und müßten daher bestrebt sein, im Wettbewerb mit den anderen diese Ausnahmestellung zu verteidigen und dadurch erst voll und ganz zu erringen.

Nach eingehenden Proben und Belehrungen konnten dann endlich die Pforten der eigentlichen Schule geöffnet werden. Pythagoras wähnte zuerst, daß die Bedingungen viele Knaben abschrecken würden. War doch in den ersten Jahren – der Regel nach zwischen zwölf und siebzehn – vollständiges Schweigen zur Pflicht gemacht, so daß der Schüler, der zudem nicht einmal des körperlichen Anblickes seines Meisters teilhaftig werden würde, nur der Stimme der Weisheit lauschen durfte, ohne daß es ihm gestattet war, auch nur für den Sinn dunkler Worte Aufklärung zu erfragen. Dann erst – so wurde verlautbart – würde der Lernbegierige nach strengen Prüfungen des Herzens und des Verstandes in den eigentlichen engeren Schülerkreis aufgenommen werden; dann auch würde es erlaubt sein, den Weisheitsliebenden zu fragen, das Gehörte und Erlernte in selbstgewählter Form schriftlich aufzuzeichnen und sich darüber wetteifernd mit den Gefährten zu unterreden. Selbst wenn weitaus Ältere in die Schule eintreten wollten, könne von der reinigenden, entsühnenden Zeit des Schweigens nicht abgesehen werden. Nur die Herabsetzung auf zwei Jahre sei eine Begünstigung für solche, die bei den ersten Aufnahmen in reiferem Alter ständen.

Wie erwähnt, hatte Pythagoras die strenge Regel nicht nur aus Absichten des Götterdienstes und der Weihe für höchste Reinheitsstufen aufgestellt; den unbeirrbaren Ernst derer wollte er außerdem noch prüfen, die sich solchen Mühen und Entsagungen unterwerfen mußten, um zu einem Ziele zu gelangen, das nicht offensichtlich Vorteil und volle Befriedigung verhieß. Daher war er fast überrascht, als nach der Bekanntgabe dieser Vorschriften sich die Zahl der Anmeldungen eher hob als verminderte; was ihn mit großer Freude und Hoffnung erfüllte, da er darin allein schon einen neuen Aufschwung, eine neue Vertiefung des hellenischen Gemütes zu erblicken glaubte.

So betraten denn die Jünglinge und Knaben, durchschauert vom Geheimnis der künftigen Gottnähe, den blühenden Boden der Weisheitsschule und durften für kurze Stunden dem erhabenen Lehrer gegenüberstehen, der vorher schon über die Führung jedes Einzelnen durch vertrauenswürdige Freunde genaueste Erkundigungen eingezogen hatte; jetzt aber auch noch durch Augenschein von den Seelen derer sich überzeugen wollte, die bestimmt waren, sein großes Werk fortzusetzen und zu noch lichteren, noch unausdenkbareren Höhen hinanzuleiten. Rührung überkam den Philosophen oftmals, wenn er in die angstvollen Augen blickte, die zitternd von seinem Munde das schicksalschwere Wort der Entscheidung ablesen wollten, bevor es sich geformt hatte. Und mehr als einmal unterdrückte er die Verneinung, da er sich der fernen Zeit entsann, als er selbst in Heliopolis und Memphis alle Bitterkeit der Ablehnung hatte kosten müssen. So war es auch gekommen, daß er Kylon und Hippasos – zwei junge sybaritische Aristokraten – zur Schule zuließ, obwohl dem ersten mangelnde Reinheit, dem anderen zügelloser Ehrgeiz nachgesagt wurde.

Als aber endlich alle die Lernbegierigen gewogen und geprüft worden waren, sank die heilige Ruhe und das edle Gleichmaß allseitiger Durchbildung auf die mächtige Schule herab, die ihresgleichen bisher im ganzen Bereiche hellenischer Zunge nicht hatte. Dichtgedrängt saßen die Exoteriker, die schweigenden Neulinge, auf den Marmorbänken des großen Saales und blickten wie verzückt gegen die undurchdringliche Schwärze des Vorhanges, aus dessen schmalem Spalte die ewigen Worte orakelgleich in den Raum ragten. Als aber die Knaben den Platz verließen, um nach strenger Einteilung die Übungen des Leibes zu vollführen und sich dann sinnend auf den breiten Pfaden der Haine zu ergehen, begann Pythagoras zu den Esoterikern zu sprechen, die ihn innerhalb des Vorhanges umgaben und denen es gestattet war, in Rede und Gegenrede, Frage und Zweifel die Tiefe ihres Wissens zu vermehren und dem Sinne verborgenster Weisheit nachzuspüren. Wenige waren noch dieser Würde teilhaftig geworden. Denn nur den ausgewählten Pädagogen und einigen früheren Akusmatikern, die sich schon in Kroton hervorgetan hatten und die orphischen Weihen besaßen, war die Zeit der Vorbereitung vollends nachgesehen worden.

So war schon mancher Zeitraum verstrichen, manche neue Einrichtung, die sich als notwendig herausstellte, vorbereitet oder durchgeführt worden, als Pythagoras wieder die Hoffnung faßte, seine eigenen Forschungen einem weithinleuchtenden Kulme zuzuführen. Vorher sorgte er noch dafür, daß auch in den Angelegenheiten des äußeren Lebens seine Schüler eine nützliche Lehrzeit durchmachen könnten. Er teilte deshalb die ganze Schule in Gemeinschaften von je zehn Epheben ab, die miteinander schliefen, aßen und übten. Und zwar bestellte er aus diesen Dekaden je einen Oikonomen, der das Geld, das jeder Schüler für seinen Unterhalt beim Eintritte zahlte, verwaltete und davon die gesamten Kosten seiner Hetairie bestritt. Da das Amt aber bestimmungsgemäß halbjährlich wechselte und vom zweitenmal an durch Wahl besetzt wurde, hatte jeder der Knaben die Möglichkeit, im kleinen Kreise sich mit den Anforderungen bekannt zu machen, die einst das Leben an ihn stellen würde; außerdem aber noch Pflichtbewußtsein und Verantwortlichkeit zu üben und sich zu gewöhnen, jeden Unterschied, jede Bevorzugung zu meiden. Wenn jedoch einmal das Ereignis eintreten würde, das die bangen Gemüter nicht einmal auszusprechen wagten; wenn nämlich einer die Prüfungen des Herzens und Verstandes nicht erfüllen könnte, dann würde ihm sein ehemaliger Beitrag samt Zinsen wieder zurückgezahlt werden. Als Sinnbild dafür, daß jedes Band zwischen ihm und der Schule zerschnitten wäre.

In diesen Tagen, als sich Pythagoras eben wieder der weiteren Erforschung des Kanons und der Zahlenlehre zuwenden wollte, trat ein Ereignis ein, das viel von dem erweckte, was durch die rasche Folge und die gehäufte Mannigfaltigkeit der Aufgaben zurückgedrängt worden war. Eine Abordnung von Krotoniaten sprach nämlich bei Pythagoras vor und erinnerte ihn an den einstmaligen Entschluß, auch den Jungfrauen die Möglichkeit höherer Geistesbildung zu gewähren. Es hätten sich schon zahlreiche Mädchen um die Ehre der Gleichberechtigung mit den Epheben beworben und gebeten, diesen heißen Wunsch dem Philosophen zur Entscheidung zu unterbreiten.

Pythagoras fand zwar anfänglich, daß die höheren Lehren sich nicht in gleicher Weise wie die Akusmata für den weiblichen Geist eigneten. Außerdem befürchtete er, daß die gemeinsame Erziehung beider Geschlechter gewisse Schwierigkeiten, ja vielleicht sogar Gefahren mit sich bringen könnte. Schließlich aber siegte in ihm doch die Überzeugung, daß die künftige Heranbildung der Kinder, die Harmonie der Ehe und die Weiterverpflanzung des Wissens nur gewinnen würde, wenn begeisterte Jungfrauen sich der neuen Lehre widmeten. Vielleicht würden auch durch den Eifer der Mädchen die Jünglinge noch mehr angespornt und durch ihre Anwesenheit zu höherer Reinheit und Sittsamkeit hinangeführt werden.

So stimmte er dem Vorschlage zu und beschloß, einige Dekaden und Gemeinschaften der Mädchen einzuführen, die räumlich von den Jünglingen strenge abgesondert werden würden; so daß sich das Zusammentreffen der beiden Geschlechter auf die schweigsamen Stunden des exoterischen Unterrichtes beschränken sollte.

Als aber die Aufnahmen schon fast beendet waren, führte ein heller Vormittag jenes herrliche Wesen vor die Augen des Philosophen, das ihn damals für kurze Herzschläge wie eine flüchtige Erscheinung mit dem reinen Strahl des glaubensvollen Blickes gegrüßt hatte.

Und er wußte, als er sie in ihrer hohen und jungen, gleichwohl aber schon reifenden und edlen Gestalt vor sich stehen sah, daß nur die Schwester seines Aristokles diese Züge tragen konnte.

»Theanó bin ich, die Tochter des Brontinos!« sagte die Jungfrau leise und bewegt und ein Zittern der Erwartung lag über ihrem Antlitze. »Willst du, erhabener Weiser, es mit einem Weibe versuchen, das gewillt ist, die höchsten Gipfel, die schwierigsten Pfade deiner Lehre zu bewältigen? Verzeih mir die Anmaßung! Aber mein Herz verbot mir, dich durch falsche Bescheidenheit zu belügen. Ich sagte ja nur meinen Willen. Den Erfolg soll dein unerbittliches Urteil prüfen!«

»Warum soll ich dir das verweigern, was ich anderen schon gewährte!« erwiderte Pythagoras kurz und nickte der Beglückten zu. Dann kehrte er sich schroff ab und verließ den Raum. Denn seltsame Gefühlsströme hatten das Gleichmaß seines Gemütes zu vernichten gedroht.

In den nächsten Tagen verging wohl keine Stunde, in der Pythagoras nicht dem dunklen Sinne des pythischen Spruches nachgrübelte, um aus den Worten Apollons Linderung und Richtschnur für sein Handeln zu gewinnen. Denn eine seltsame, fast müde Traurigkeit, ein Zurückgleiten aller seiner eben noch so leuchtend geschauten Pläne und Hoffnungen war plötzlich über sein Gemüt gekommen. Und er spannte die titanische Kraft seines Geistes an und erwog in Tausenden von Abstufungen jedes Für und Wider, das die Auslegung des Orakels nach manchen Richtungen verschob. Am Ende gelangte er zur Überzeugung, daß der Angelpunkt des Problems nur in der Bedeutung des Wortes »Erfüllung« liegen könne. Denn daß sich das Vorzeichen, die Teilung des schwarzen Vorhanges im Windhauche, streng nach der Weissagung zugetragen hatte, konnte selbst der zweifelsüchtigste Verstand nicht hinwegleugnen. Einen Augenblick lang prüfte er noch, ob nicht vielleicht er selbst das Eintreffen des Wunders herbeigeführt habe. Aber auch hier wies sich ihm keine einfache Lösung. Denn, wenn er auch die Anbringung des Vorhanges selbst angeordnet hatte, so war sicherlich die Farbe des Tuches nicht sein Werk. Hatte er doch ausdrücklich purpurne Stoffe verlangt. Erst die Baumeister hatten dann ohne sein Wissen die Farbe in Schwarz verändert, da nach ihrer Ansicht der Purpur den strengen Stil des dorischen Saales gestört hätte.

Was also hieß »Erfüllung«? Zwei Wege blieben offen. Denn der Spruch ergab vollen Sinn, wenn man diese Erfüllung als das Erreichen der Lehrziele auffaßte. Er hatte eben – das folgte aus den Worten – die Bestimmung damals noch nicht voll erkannt, als die siegesleuchtenden Augen des Aristokles ihm seine endgültige Heimat verkünden wollten. Lykoreias Traum, den Traum von Liebesglück, sollte er vergessen. Dafür würde ihm einst Erfüllung winken, wenn der schwarze Vorhang sich teilte; wenn seine Schule beginnen würde, endgültiger Hort seiner Weisheit zu sein.

So weit konnte man diesem ersten Wege, ohne in Widerspruch zu geraten, folgen. Ein einziges Wort aber leitete zum zweiten Wege, der all die Unruhe im Gemüte des Weisen erregt hatte und den ein dumpfes, halbbewußtes Gefühl wünschend bejahte. Warum sprach der Gott davon, daß Lykoreias Traum, das brausende Leben in der Weihe-Nacht des erweckten Lykitnes, Bote künftigen Geschehens sei? Konnte der Kuß der herrlichen Themistokleia, das Rasen der Thyiaden Bote sein des stillen Glückes, das er als Lehrer der Weisheit empfangen würde? War also Erfüllung doch andere, menschlichere, heißere Erfüllung? Und schloß sich bei dieser Deutung nicht wieder ein Zusammenhang? Die Augen, die gleichen herrlichen Augen, die unter dem Kotinoskranze hervorgestrahlt hatten und die nun in gleicher Pracht ihm aus dem Antlitze der Theanó leuchteten?

Und der Philosoph prüfte sich selbst am unerbittlichsten. Bis nach langer Zeit der furchtbare Zwiespalt in seinem Herzen abzuklingen anhub und die Pflicht des Führenden ihn sosehr in Anspruch nahm, daß nur mehr leise Wehmut, ein sanfter Nachhauch wieder einmal gelungener Entsagung, in manchen Augenblicken der Schwäche in ihm zitterte.

*

Fast ein Jahr war schon seit der Eröffnung der Schule verstrichen. Das stumme Aufnehmen der Exoteriker, die Pythagoras überhaupt nicht mehr von Angesicht sah, umschwebte ihn, wenn er hinter dem Vorhange, auf einer Art Thronsessel ruhend, die kurzen Weisheitssprüche formte, um sie mit klarer Stimme zu verkünden. Oder die langen Reihen der Fragen und Probleme aufwarf, die er stets auf neue wiederholte, bis er endlich, ebenso kurz und wuchtig, den dürstenden Hörern die Lösung offenbarte.

»Was ist das Weiseste?« klang es dann wohl durch den Vorhang. Und »Maß und Zahl!« wurde die Antwort. »Und nach diesem?« »Die Erfindung der Sprache!«

Oder hörten sie: »Was ist das Schönste?« »Die Harmonie!« »Was ist das Mächtigste?« »Das Vermögen der Erkenntnis!« »Warum ziemt es mir, zu handeln?« »Weil der Beginn die Hälfte des Ganzen ist!«

Mit den Esoterikern aber feierte der Weise heilige Feste geistigen Genießens. Erstaunlich war das Vordringen mancher dieser Reiferen in die Tiefen der Größenlehre. Und die eben von Pythagoras entdeckte Fünfzahl der regelmäßigen Vielflächner, der kosmischen Körper, wie er sie nannte, nahm alles Denken derart in Anspruch, daß oft schon die Nacht weit vorgerückt war, bis der Lehrer dem Drange der Schüler Einhalt gebieten konnte, die eine vollständige Durchforschung der umstürzend neuen Wissensgebiete im Fluge erzwingen wollten.

Gekrönt aber wurde dieser Abschnitt seines Wirkens, als einige seiner engeren Schüler neue Beziehungen und Regeln in selbständiger Gedankenarbeit auffanden, die sogar den Lehrer in Erstaunen versetzten.

Durch dieses gemeinsame Schaffen aber wurde er selbst wieder mächtig angeregt und vorwärtsgetrieben, so daß er beschloß, für kurze Zeit dem Unterrichte zu entsagen, um endlich das hartnäckigste aller Probleme, die Beziehung der Seiten des rechtwinkeligen Dreieckes, einer allgemeinen Lösung zuzuführen.

Doch auch diesmal war es noch nicht sein Schicksal, volle Forschungsruhe zu finden; denn als er sich kaum in die Stille seiner Grotte zurückgezogen hatte, erschien eines Tages, sprachlos vor Erregung, Aristokles zu ungewöhnlicher Stunde und bat, dem Weisen wichtige Mitteilung machen zu dürfen.

Der Philosoph wußte, daß der Jüngling nicht ohne triftigen Grund ihn zu stören gewagt hätte. So sprach er ihm mild zu und versuchte, die Erregung des Epheben zu beschwichtigen. Aristokles aber brach in heftige Tränen aus und gewann erst nach geraumer Zeit so viel Fassung, daß er mühsam und stockend sagen konnte:

»Wirst du mich verstehen, o Pythagoras? Doch was rede ich da Ungeziemendes? Was solltest du nicht verstehen? Ich wollte ja nur ausdrücken, ob du mein Handeln billigen würdest. Also höre, Erhabener, was sich an Frevel zugetragen hat. Du kennst jenen Kylon, jenen ungebärdigen Jüngling, der bald nun das neunzehnte Jahr überschreitet, trotzdem es sich aber nicht nehmen ließ, als Exoteriker bei dir einzutreten. Schon des öfteren erzählten mir die Knaben meiner Hetairie, daß er während der Vorträge unaufmerksam umherblicke, besonders aber sich an die Mädchen herandränge und versuche, sich ihnen durch Zeichen oder Flüsterworte bemerkbar zu machen. Ich beachtete dieses Gerede nicht.

Nun aber, da die Gefährten meine Abweisung dahin auslegten, daß ich nichts mehr über Kylon hören wolle, erfuhr ich das Letzte erst im Zusammenhange mit einer Tat, die große Erregung unter die Knaben trug. Heute morgens nämlich schlich sich Kylon hinüber, dorthin, wo die Mädchen zu lustwandeln pflegen, und stand plötzlich vor den Erschrockenen, die alle die Flucht ergriffen. Nur Theanó rührte sich nicht von der Stelle und blickte dem Eindringling stolz entgegen. Er aber reichte ihr schmeichelnd Blumen, und als sie über seine gekünstelten Worte zu lachen anhub, strich er ihr kosend über den Arm und sagte: ›Wie schön doch ist dein Arm, Theanó!‹ Da zuckte meine Schwester zornig empor und rief ihm höhnend ins Antlitz: ›Schön mag er sein, doch nicht für jeden Hergelaufenen!‹ Kylon aber, der solche Abweisung nicht erwartet hatte, wurde fahl und zischte: ›Nun, wie du willst! Der Hergelaufene aber wird seinen Gefährten jetzt die anderen Schönheiten deines Leibes beschreiben. Denn wahrlich mehr hat er schon an dir erblickt, als diesen Arm hier!‹ Und er wollte sie wieder anfassen. Da rief sie laut um Hilfe und Kylon verschwand, bevor einer zur Stelle war.«

Pythagoras, dessen Antlitz sich in steigender Erregung verfärbt hatte, fragte leise:

»Woher weißt du alles, Ephebe?«

»Jeder weiß es schon in groben Umrissen!« erwiderte Aristokles. »Ich aber wollte mir volle Klarheit verschaffen, da es doch die Schwester betraf, und sprach mit ihr selbst. Ich weiß, daß auch dieses Gespräch gegen die strenge Vorschrift verstieß. Was aber hätte ich tun sollen?«

»Dieser Verstoß ist dir wohl verziehen!« fiel Pythagoras ein. »Ich vergaß, diesen einen Fall abgesondert zu regeln. Niemand wird dir – und dies sei dir Richtschnur – je untersagen, mit der eigenen Schwester zu sprechen. Ich wollte nur nicht die einmal festgelegte Trennung der Geschlechter durch Ausnahmen auflockern. Das aber ist keine Ausnahme, es ist das Gesetz der Natur selbst, o Aristokles, das dir alles gestattet.«

»So fühlte ich auch!« erwiderte der Ephebe. »Doch höre jetzt das Letzte, das Furchtbarste!« Und er stockte. Dann aber sprach er rasch weiter: »Ich sagte schon, daß ich erst im Zusammenhange mit dieser Tat Kylons von Dingen Kenntnis erhielt, die mein Verstand nicht fassen kann. Einige Epheben meiner Dekade haben nämlich den Kylon beobachtet, als er wie Aktäon die badenden Mädchen belauschte und sosehr in den Anblick vertieft war, daß er nicht bemerkte, wie sich die ungebärdigen Knaben über ihn belustigten. Es waren unsre Jüngsten, die es mir erzählten. Sie faßten die Sache als dummen, höchst lächerlichen Streich auf und konnten sich nicht genug tun, den auf der Mauer hockenden und durch die Zweige spähenden Kylon nachzuahmen und in einem Spiele zu verlästern!«

Pythagoras war in furchtbarem Zorne aufgesprungen.

»Ist das wahr, was du da berichtest?« preßte er hervor.

»Es ist die reine Wahrheit, Erhabener!« antwortete leise Aristokles. Dann hob er das Antlitz und blickte dem Weisen gerade in die Augen: »Du, der wie keiner die Menschen kennt, wirst es ermessen können, daß schwere Kämpfe in mir tobten, bevor ich sprach. Träumte ich doch in lichten Stunden, daß deine Schüler später einmal wie Brüder unverbrüchlich zusammenstehen würden, jeder des anderen Freund, Beschützer und Wächter. Und da soll, da muß ich jetzt einen der Gefährten preisgeben, verklagen, der Schande ausliefern? Nein, Pythagoras, vielleicht irre ich! Vielleicht hat Kylon nicht aus unedlen Beweggründen gehandelt. Neugier ist es, oder gar Liebe vielleicht, was ihn trieb. Ich aber verstehe von all dem nichts. Mir ist ja ein Mädchen außer meiner Schwester nicht der Rede wert. Kann es doch weder so schnell laufen, noch so tapfer ringen wie ein Knabe. Theanó aber, die durch mich erfuhr, daß Kylon die badenden Jungfrauen begaffte, glühte zwar vor Scham, bat mich aber dennoch, den Unglückseligen, wie sie den Frevler nannte, nicht allzuschwer anzuklagen. Das aber ist alles, was ich weiß!«

Pythagoras war in tiefes Sinnen zurückgesunken und schwieg. Sein Zorn war entglitten und hatte schwerer Traurigkeit den Platz geräumt. Was ging vor? Ragte auch in seine Schule ein Strahl jener dunklen Glut herein, die alles Leben in Bewegung hielt? Durfte er richten und strafen? Er, der auf Lykoreias Grund eben diesem Feuer unterlegen war? Verhindern mußte er das Aufkeimen der Unreinheit. Belehren, ermahnen und Vorsorge treffen. Nicht aber strafen.

Noch mehr jedoch als der Frevel Kylons bewegte das Verhalten Theanós sein Gemüt. Liebte sie den Jüngling? War da Urgewalt am Werke, die diese jungen, emporwachsenden Menschen unwiderstehlich zueinander zog? Warum bat sie für den Missetäter, der sie mit Blicken und Worten geschändet hatte? Oder verstand er, der Weltkreisdurchwanderer, doch nicht die letzten Schwingungen der Herzen und Leiber?

Und ein würgendes Gefühl, das Gefühl des Verstoßenen, der sich in all jenen getäuscht sieht, denen er das Tiefste seines Wesens hatte darbringen wollen, nahm von ihm Besitz und verdüsterte vollends seine Klarheit. Doch nur für kurze Zeit. Dann reifte in ihm der Entschluß, Kylon auf den Weg der Tugend zurückzuleiten und zu erforschen, ob seine Versuchung nicht vielleicht Wille der Götter gewesen sei.

So entließ er mit tröstenden Worten den Jüngling Aristokles und gebot durch ihn den anderen Knaben, sich mit dem Ereignis nicht mehr zu beschäftigen, vielmehr das Gebot des Schweigens strenger und ausnahmsloser zu beobachten.– – –

Langer Umfrage bedurfte es, bis der Philosoph am späten Nachmittage Kylon auffand. Die Schüler hatten es sich nämlich, seit Pythagoras wieder einsamen Forschungen oblag, mit Erlaubnis ihrer Pädagogen zur Gewohnheit gemacht, einzeln oder in kleinen Gruppen auf den Grundstücken umherzustreifen und so das Vorbild des Weisen im engsten Kreise nachzuahmen. Auch Kylon hatte sich nach den Ereignissen des Morgens sogleich auf den Weg gemacht und war gegen die Berge zu in einen Wald gewandert. Hier saß er nun nahe dem Pfade auf einer kleinen Lichtung, die weiten Ausblick ins Land hinaus gewährte. Ein steinerner Tisch mit Bänken war dort aus dem weichen Felsen ausgehauen.

Kylon war anscheinend in eine angespannte Tätigkeit vertieft. Denn er beugte sich über den Tisch und ließ das Auge nicht von einem hellen Gegenstande, den er in den Händen hielt. Erst als Pythagoras schon nahe herangekommen war und unter seinem Tritte ein dürrer Ast knackte, fuhr er empor und warf im höchsten Entsetzen ein Tuch über das Unbestimmte, das er eben vor sich gehabt hatte.

Sein wirres gelocktes Haar fiel tiefschwarz in die Stirne und seine nachtdunklen Augen waren weit aufgerissen, als er mit unsicherem Gange dem Philosophen entgegentrat.

»Ich kam, um Aufklärung von dir zu fordern!« sprach ihn der Weise sogleich an und bemühte sich, den Ton zu vertrauenerweckender Milde zu dämpfen. Als ihn aber Kylon weiter sprachlos anstarrte, setzte er fort: »Was tust du hier, Jüngling? Was verbargst du vor deinem Lehrer? Warum blickst du mir ins Antlitz, als ob ein Feind nahte? Glaube mir, Kylon, daß nichts mich froher stimmen würde als eine Erklärung deiner ungewöhnlichen Übeltaten, die alles verzeihlich und begreifbar erscheinen ließe. Ich will nicht in Andeutungen mit dir sprechen. Ich weiß alles! Weiß, daß du die badenden Mädchen belauschtest, weiß, daß du Theanó belästigtest und schmähtest. Was hast du auf meine Anwürfe zu erwidern? Rede frei, du stehst einem wohlwollenden Richter gegenüber!«

Da ging in Kylon plötzlich eine Verwandlung vor. Die Milde der Anrede und der Ton, der jetzt schon halbe Vergebung verhieß, tilgten sogleich seine trotzige Entschlossenheit und veränderten die Abwehr zu einer Art gleichgestellter Vertraulichkeit. Tränen traten in seine Augen und er antwortete mit sanfter klingender Stimme:

»Ich danke dir, erhabener Lehrer, daß du erst richten willst, nachdem du den Verklagten hörtest! Schwer ist es für mich, wo doch alles gegen mich zeugt, dir die dunklen Irrwege meiner Pläne und Taten zu enthüllen. Ich bin ein Bildner, o Pythagoras, ein Mensch, den es antreibt, Geschautes nachahmend zu schaffen. Und mein Gemüt dürstet nach Schönheit. Was hätte ich tun sollen, als in mir der Drang erwachte, das Bild einer Göttin zu formen? Wo hätte ich das Vorbild einer Jungfrau gefunden? Da verließ mich meine Widerstandskraft und wie im Wahne lief ich zu dem Badeplatze der Mädchen und mein Auge sog die Formen ihrer Körper in sich, damit mein Werk, klein zwar, doch von heißem Schönheitswunsche befeuert, entstehen könne. Sieh her, großer Lehrer!« Und er ging wie entrückt zum Tische und hob das Tuch auf. Dann ergriff er das kleine Standbild, das er aus Wachs geformt hatte, und wies es mit gesenktem Blicke dem Philosophen.

Pythagoras aber, dessen scharfer, erfahrener Sinn vergeblich versuchte, zu enträtseln, ob Verstellung oder Wahrheit den Ton dieser Worte schuf, der zudem noch durch den Anblick der zarten, gelungenen und edlen Skulptur in neue Zweifel gezogen wurde, erwiderte langsam:

»Und was, Jüngling, kannst du mir als Rechtfertigung deiner Schmähung anführen? War auch diese Tat eine Folge deiner bildnerischen Bestrebungen?«

»Nein, Pythagoras!« sagte Kylon schnell. »Nein, es war etwas anderes, das mich diesen Frevel begehen ließ. Du siehst, Weiser, daß ich die Tat, rein äußerlich, gar nicht zu beschönigen versuche. Aber innerlich war sie doch wieder nicht unedlem Antriebe entsprungen. Sieh, ich spreche zu dir, wie ich nicht zum besten Freunde sprechen könnte. Ich sagte, daß nur Begeisterung für die Schönheit mich die Mädchen belauschen ließ. Dabei aber hatte ich vergessen, daß Schönheit von den Göttern dazu bestimmt ist, geliebt zu werden. Ist es ein Frevel, o Erhabener, wenn der Reiz Theanós mich überwältigte? Ist es so fluchwürdig, daß ich ihr ein kleines Wort der Anerkennung sagte? Mehr wollte ich doch nicht, eingedenk des Gebotes, das ich als Exoteriker zu achten habe. Und da erwiderte sie mir mit Hohngelächter und hieß mich einen hergelaufenen Menschen. War ich so schuldig, als mich mein verletzter Stolz und die Verkennung meiner Reinheit um die Überlegung brachte? Gewiß, o Weiser, ich hätte mich beherrschen sollen. Doch die großen Tugenden will ich ja von dir erst lernen! Bisher war ich nur einer der krotonischen Jünglinge, ein Nachkomme der Sybariten außerdem, der ohne höhere Belehrung in den Tag hinein lebte. Darum strafe mich, Erhabener, doch verstoße mich nicht! Ich will dir keinen Anlaß mehr zur Klage geben!«

»Die Taten der Zukunft sollen die Wahrhaftigkeit deiner Worte erweisen!« sagte Pythagoras in entschiedenem Tone. »Als Sühne magst du zehn Tage deinen Raum nicht verlassen und in der Einsamkeit, in unverbrüchlichem Schweigen gegen jedermann, dein Gemüt sammeln und läutern. Die Nähe der Mädchen aber mußt du trotz deiner Bildnerlust bis zur Vollendung deiner Lehrzeit meiden. Hast du doch, wie mir dein Bild beweist, dein Auge hinlänglich sattgetrunken. Für menschliche Liebe aber, o Kylon, ist hier noch kein Raum! Wenn du sie höher schätzest als die Weisheitsliebe, dann müßtest du dem Wissen entsagen und dich wieder zu den Menschen des gewöhnlichen Lebens zurückbegeben!«

»Ich danke dir für deine Milde!« erwiderte Kylon leise. »Das Leid aber, das ich dem Wissen zuliebe auf mich nehme, wird mir mehr Buße und Läuterung sein als die kleine Sühne, die du über mich verhängtest!«

Pythagoras kehrte sich ab und ging langsam von dannen. Und er begann, während er den Waldpfad abwärts schritt, jeden Blick, jede Miene, jedes Wort, das Kylon gesprochen hatte, noch einmal prüfend zu erwägen. Wo war der verwirrende Knoten in der Glätte dieser Schnur? Wo ein Angriffspunkt? Sonderbar war es gewiß, daß der Bildnerdrang des Jünglings nicht an schon Geschautem ein Genüge fand und sich aller Sitte und allem Gebote zuwider so gewaltsamen Ausweg suchte; sonderbar auch, daß erst als Folge reinsten Strebens menschliche Triebe zur Erweckung gelangt waren. Aber lag nicht in jedem Menschen Heiliges und Irdisches unlösbar verknüpft nebeneinander? Hatte er nicht selbst um die Harmonie des Menschlichen und Göttlichen gerungen? Und doch! Etwas, das er mit Worten nicht deuten konnte, eine Ahnung, zog ihn unterbrechungslos zur einfachen, unentschuldbaren Deutung des ganzen Ereignisses; zur Auslegung, daß blinder Trieb der Sinne den Jüngling es hatte versuchen lassen, sich dem Weibe, sich vornehmlich der schönen Theanó zu nähern, um irgend etwas, vielleicht alles zu erringen. Doch dabei fragte wieder plötzlich eine andere Zone seines Gemütes, ob nicht etwa gar der Richter befangen sei, ob nicht er selbst, verwirrt vom dunklen Sinne des pythischen Spruches, mehr für seine Schülerin fühlte, als es der gleichmäßigen Zuneigung des Lehrers gemäß sei; und daher einen leisen Schleier der Eifersucht über das Bild der Tat lege. Schließlich hatte er die unwiderrufliche Entscheidung ja schon gefällt! Das weitere mußte er nach seinen eigenen Worten der Zukunft und den Göttern überlassen. Vor allem aber war es noch seine Pflicht, auch Theanó zu hören. Denn es konnte noch vieles verborgen geblieben sein, das selbst das scheinbare Vertrauen des Kylon ihm nicht preisgegeben hatte.

So beschied er, nach seiner Rückkehr in die Gebäude, Theanó zu sich, die in kurzem mit angstvollem Blicke vor ihm stand und seiner Anrede harrte.

»Du weißt,« begann er ohne Einleitung, »was ich dich fragen will. Doch du weißt nicht alles. Dunkel bleibt in deinen Taten der Grund, aus dem heraus du Aristokles bestürmtest, einen Jüngling zu schonen, der nicht bloß dein Schamgefühl, sondern auch jede Achtung vor dir verletzte. Sollten da Mächte im Spiele sein, die zwar deine Handlungen bestimmen, deren Dasein ich aber gleichwohl noch nicht erfuhr? Sag mir alles, Theanó, und fürchte nichts. Denn wichtiger und notwendiger ist für das ganze Werk meines Lebens die restlose Wahrheit, als die Schonung eines Einzelnen. Ich beschwöre dich, mir nichts zu verschweigen. Ist es doch anders nicht möglich, Wege zur Lösung des Wirrsals zu finden!«

Pythagoras schwieg. Theanó aber blickte starr zu Boden und ein heißer Strom von pulsendem Blute ließ ihr Antlitz erglühen. Endlich antwortete sie stockend und hart:

»Es ist überflüssig, Erhabener, wenn ich ein Wort spreche. Ich vermag ja selbst das Chaos meines Gemütes nicht zu deuten. Ich bat, – soviel kann ich dir sagen – weil ich selbst sündhaft bin und weil es dem Schuldigen nicht gut ansteht, die Schwächen anderer allzu schwer anzuklagen. Jetzt aber fordere ich von dir das Recht der Exoterikerin, schweigen zu dürfen. Habe ich doch fast schon zu viel gesprochen.«

Und sie beugte sich, noch immer in heißer Röte erzitternd, über die Hand des Philosophen und hauchte einen fast unmerklichen Kuß auf seine Rechte. Dann richtete sie sich zu ganzer Größe empor und stolze Kraft schien plötzlich in ihrem Wesen alles andere verdrängt zu haben. Denn sie wandte sich schweigend ab und verließ, ohne sich umzublicken, den Raum.

Pythagoras aber, vor dem das Unbegreifliche sich zu stets undurchdringlicheren Wänden emporreckte, zweifelte nicht mehr, daß ein Geheimnis alles verband, das ihm vorläufig unzugänglich blieb. Und ein bitteres, wehes Gefühl legte sich auf den letzten Rest seiner Forscherfreude, da er sich kaum noch der furchtbaren Erkenntnis verschließen konnte, daß die unerbittliche Macht des Eros, spielerisch und hämisch, über den tiefen Ernst seines Erziehungswerkes triumphierte und selbst dort wahllose Begierden erregte, wo er heiligsten Eifer und unbedingte Hingabe an die wolkenhohen Ziele seines Geistes erhofft hatte. Was bedeutete schließlich der Abfall Kylons? Was war die Laune des Jünglings, selbst wenn man seiner Verantwortung keinen Glauben beimaß, im Vergleiche zu der Verirrung des Mädchens, der Schwester des Aristokles? Wem sollte er noch Vertrauen schenken, wenn die edle Tochter des Brontinos und der Deinonó das Gegirre und die Zügellosigkeit eines schwarzlockigen Jünglings höher hielt als das Wissen um die Urgötter?

Und in namenlosem Schmerze wanderte der Philosoph durch die nächtlichen Haine, um das Gleichmaß seiner Seele wiederzugewinnen. Mehr als einmal aber trat in jener Nacht die Versuchung an ihn heran, wilde Anklagen gegen die Götter zu erheben, die all sein ausschließliches Streben mit Schmerz und Enttäuschung vergalten. Erst der grauende Morgen brachte neue Erkenntnisse, neue Stufen der Reife und des Allverständnisses zur Oberfläche des klaren Bewußtseins und glättete die dumpfen Wogen seines Gemütes zu herber, herbstlicher Stille. –

*

Ein sonderbarer Ausgleich des Schicksals wollte es, daß in der nächsten Zeit sich die frohen Ereignisse: Entdeckungen, Erfolge, der Zustrom von Schülern, die Beweise der Anhänglichkeit und der dankbaren Gesinnung sosehr verdichteten, daß sich der Philosoph mehr als einmal die mahnenden Worte Themistokleias in seine Erinnerung heraufrief und den Zustand einer gewissen sorglosen Heiterkeit wiedergewann.

Schon nahte der bakchische Herbst. In all ihrer Grellheit leuchteten die blutroten Blätter des wilden Weines, und manchmal stand die zackige Linie der Gebirge, der Buchten und Landzungen in so klarer Schärfe und Reinheit vor dem Auge des Betrachtenden, daß er wähnte, mit wenigen Schritten die Landschaft der italiotischen Halbinsel durchqueren zu können.

Dabei begannen die Hänge vom dionysischen Lärm der Weinlese zu widerhallen, und schwerbeladen brachten Packtiere und knarrende Karren die holde Last des bakchischen Segens heim. Und der Reichtum, der in die Hände des Weisen strömte, gab ihm die helle Zuversicht, noch größere, noch endgültigere Ziele verwirklichen zu können. An manchen Tagen träumte er sogar spielerisch davon, mit seinen Schülern ein eigenes Gemeinwesen zu gründen, das an Macht und Reinheit seinesgleichen nicht haben sollte unter den hellenischen Völkern.

In diese Zeit, die nur der Zukunft gehörte und die Zwischenfälle der Vergangenheit fast vollends schon dem Vergessen überliefert hatte, ragte nun plötzlich wieder die düstere Mahnung dieser überwundenen Ereignisse herein.

Aristokles war es, der zögernd und voll Angst Bote ward und den Philosophen bat, ihm Gehör zu schenken, als eben die Exoteriker den Lehrsaal für heute verlassen hatten. Pythagoras sah in der Miene des Jünglings sogleich das Vorzeichen nahenden Ungemachs. Trotzdem hoffte er, daß es sich nur um eine jener kleinen Störungen handle, die ein großer Kreis von Menschen naturgemäß mit sich bringt. Deshalb lag es ihm auch fern, an jene Vorfälle zu denken, die er für allemal als geregelt wähnte.

Er war daher um so erstaunter, als ihm Aristokles gleich am Beginne des Gespräches, zu dem der Weise den Knaben in die abgelegenen Forschungsräume hinaufgeführt hatte, die Mitteilung machte, seine Sorge gelte neuerlich der Schwester.

»Ich kann es nicht mehr leugnen«, sagte der Ephebe mit trauriger Stimme, »daß meine Schwester von einer dunklen, unfaßbaren Macht überkommen ist, die ich mir nicht zu deuten weiß. Deiner Erlaubnis gemäß, o Erhabener, pflege ich manchmal nach dem Unterrichte eine Weile mit ihr durch die Haine zu wandeln und über all das zu sprechen, was uns beide bewegt. Von Tag zu Tag aber wird nun ihr Sinn düsterer, ihr sonst so lichter Verstand beginnt sich zu trüben, und Verworrenheit, Unaufmerksamkeit, ja sogar rätselhafte plötzliche Flucht vor mir und meinen Fragen haben mich mehr als einmal erschreckt. Was nützt es, wenn ich sie mit meiner geringen Kenntnis des menschlichen Gemütes beobachte? Wie ein trennendes Meer liegt es oft zwischen uns und kein Drängen, keine Bitte öffnet die Pforte ihrer Geheimnisse. Andeutungen und unverständliche Worte, unbegründete Selbstanklagen und Tränen sind alles, was ich als Antwort erhalte; oder die ebenso nebelhafte Erwiderung, daß sie selbst den Zustand ihres Gemütes am wenigsten begreife. Dabei sind ihre Augen nicht mehr so hell wie früher. Wie Müdigkeit liegt es über ihrem Antlitze und ihrer Gestalt und die frische Farbe ihrer Wangen beginnt sich zu bleichen. Das aber alles, o Erhabener, hätte ich selbst zu heilen versucht, wenn nicht ein neues, weit merkwürdigeres Geschehen in mir den Verdacht des Zusammenhanges erweckt hätte; einer Verbindung, in die einzugreifen ich selbst weder die Macht noch die erforderliche Reife des Urteiles besitze. Ich erfuhr nämlich erst gestern, daß jener unheimliche Kylon – verzeih, daß ich ihn so nenne, aber ich kann mich dieses Eindruckes nicht erwehren – daß also jener Kylon mehr als einmal schon an Theanó Briefe gerichtet habe. Was mich aber vollends mit Entsetzen erfüllte, war, daß meine Schwester ihm auf diese Schreiben Antwort gab.«

»Irrst du nicht?« unterbrach Pythagoras, der in höchster ansteigender Erregung den Worten gelauscht hatte, den Knaben. Doch dieser antwortete:

»Es ist nicht möglich, daß ich irre, o Erhabener. Denn ich habe Theanó selbst gefragt. Und sie bejahte meine Frage mit einer Traurigkeit, die mir Tränen in die Augen trieb. Als ich aber weiter in sie drang, mir doch endlich alles anzuvertrauen, wurde sie trotzig und hart und sagte, daß ich all' das, was sie bekümmere, nie verstehen würde. Ich aber wurde von Kränkung übermannt und machte ihr sanfte Vorwürfe und ermahnte sie, von Taten abzustehen, die mit deinem Befehle nicht im Einklange wären. Da blickte sie mich starr an und erwiderte, daß sie ihre Handlungen nur vor sich und den Göttern zu verantworten habe. Das sei der wahre Sinn deiner Lehre, nicht aber ein blinder, urteilsloser Glaube an halbverstandene Befehle. Und sie kehrte mir den Rücken und sprach kein Wort mehr zu mir. Da kam die furchtbarste Unruhe über mich und ich beschloß nach stundenlangen inneren Kämpfen, dir alles zur Entscheidung vorzulegen. Und das auch ist der Grund meiner Worte, du mögest meine Schwester retten, die ich mehr liebe als mich selbst, die aber von düsteren Dämonen auf Irrwege gelockt zu werden scheint. Ich weiß, daß ich an Theanó und an dir frevelte, Erhabener. Was aber sollte ich tun, um dem Unheil zu steuern?«

Und Aristokles blickte in namenloser Qual zu Boden.

Pythagoras aber erwiderte leise:

»Geh, Aristokles! Du handeltest recht, als du die falsche Scheu überwandest. Denn nur ich selbst kann hier rettend eingreifen. Sei wieder fröhlich, Ephebe! Wird doch alles bald gelöst und entwirrt sein. Du zeigtest dein Vertrauen, als du sprachst. Jetzt beweise mir größeres Zutrauen dadurch, daß du nicht weiter trüben Zweifeln nachhängst und gläubig von mir die richtige Entscheidung erwartest!«

Als aber Aristokles schweigend den Raum verlassen hatte, verlor Pythagoras für wenige Herzschläge die Beherrschung seiner Gemütskräfte und ein trockenes Schluchzen durchkrampfte seine mächtige Brust. Denn klar und unerbittlich wußte er in diesem Augenblicke, daß er Theanó mit schicksalhafter Urgewalt liebte. Und daß er für den Zeitraum dieser Wiedergeburt ihr entsagen und verzichten mußte. Keine andre Deutung war nach den ahnungslosen und doch so beredten Worten des Epheben denkbar: Jugend hatte sich zu Jugend gefunden, und der ungebärdige Bildnergeist des schwarzlockigen Kylon hatte nach ewigen Gesetzen vom Gemüte des herrlichen Mädchens Besitz ergriffen!

Jetzt mußte er hinunter in den Saal zu den Esoterikern. Aber sein Entschluß stand fest. Heute noch würde er mit Kylon sprechen und beide, wenn ihre Liebe stärker war als ihre Wißbegier, in allen Ehren aus der Schule entlassen.

Als der Philosoph aber hinter dem schwarzen Vorhange inmitten seiner Esoteriker im Thronsessel lehnte, hatte sich ein harter, herber Zug in seinem Antlitze eingeprägt, den er vergebens unter dem gütigen Lächeln und dem sprühenden Feuer seiner Weisheit zu verbergen trachtete.

*

Greller Mondschein flutete in breiten Bändern in die Schlafsäle der Knaben. Unhörbar wie ein riesiger Schatten war Pythagoras in den Raum getreten, in dem Kylon ruhte. Und er vergaß des Zweckes, um den er gekommen war, als sein Auge über die holdem Knabengestalten glitt, die in göttlicher Leichtigkeit, rein und erfüllt von gläubigen Gedanken, träumten und der Größe des künftigen Schicksals verklärt entgegenlächelten. Er beugte sieh nieder und küßte den Jüngsten, der den Arm unter seinen Lockenkopf geschoben hatte, unendlich zart auf die Stirne. Dann suchte sein Blick den Kylon. Doch ein furchtbarer Schreck ließ ihn des charitischen Bildes vergessen:

Schimmernd in silberner Weiße starrte ihm das linnene Lager leer entgegen. Was ging vor? War er geflohen? Oder hatte sich anderes zugetragen? Schlich der Ephebe durch die Nacht, um seiner Geliebten näher zu sein?

Und tausend Gedanken überkreuzten einander im Gemüte des Weisen, bis er die Sinnlosigkeit bloßer Vermutungen einsah und sich entschloß, Gewißheit zu schaffen. Sanft und schonend erweckte er die Knaben, die zuerst nicht fassen konnten, warum man sie aus ihren unschuldigen Träumen riß, dann jedoch sich freudig um den Meister scharten, den sie endlich wieder so nahe vor sich sehen durften. Rührung überkam den Philosophen und die fragelose Liebe der Kinder träufte Linderung über sein Gemüt. Als er aber erfahren wollte, wohin sich Kylon begeben habe, war das Entsetzen allgemein und keiner konnte auch nur den leisesten Anhaltspunkt mitteilen. Wie stets sei er mit ihnen zur Ruhe gegangen, sagten sie, und habe sich auch am vorgeschriebenen Gesänge beteiligt. Dann, nachdem sie der Regel gemäß dreimal die Taten des Tages prüfend überlegt hätten, habe er noch einige Scherzworte zu ihnen gesprochen. Weiter wüßten sie nichts.

Der Philosoph überlegte in großer Erregung kurze Zeit. Dann aber ließ er die Knaben einen furchtbaren Eid unverbrüchlicher Verschwiegenheit schwören und kehrte sich ab.

Den Rest der Nacht jedoch verbrachte er in düsteren Gedanken, da das Rätsel Kylons immer verworrener, immer ungreifbarer vor ihm lag. Und große Enttäuschung war in seinem Gemüte, da er gehofft hatte, in nächtlichem Gespräche mit dem Jüngling alles einer harmonischen Lösung zuzuführen.

*

Nach einem Tage, dessen Licht die Augen des Philosophen schmerzte, stand er, gehüllt in einen dunklen Mantel, nahe dem Wege, den Kylon nehmen mußte, wenn er das Gebäude, in dem sich der Schlafsaal seiner Hetairie befand, verließ. Unwürdig schien es ihm und schmählich, hier dem Ahnungslosen aufzulauern. Doch was hätte eine Frage, eine Unterredung für Nutzen gebracht? Ausflüchte hätte er gehört oder Trotz und Abweisung. Vielleicht sprangen die Pforten dieser Jünglingsseele erst auf, wenn die große Erschütterung plötzlichen Ereignisses ihm die Möglichkeit vorbereitender Erwägung benahm. Wer wußte das Ende? Daß aber ein Abschluß aller Zweifel und Heimlichkeiten unerläßlich war, das war gewiß. So harrte der Philosoph, und die Nähe der Entscheidung hatte seinem Gemüte wieder die stolze Ruhe zurückgegeben, die ihn sicher und siegreich durch den Weltkreis geführt hatte.

Lange Zeit wurde seine Geduld auf die Probe gestellt. Erst als die Gestirne schon fast Mitternacht anzeigten, löste sich ein geschmeidiger Schatten von der Wand des Gebäudes und schritt unhörbar und eilend in der Richtung davon, in der die Stadt Kroton lag. Pythagoras folgte in weiter Entfernung, doch verlor er ihn bald aus dem Gesichte und erst auf freiem Felde gelang es ihm wieder, die hurtige Gestalt zu erspähen.

Viele Stadien lagen schon hinter ihnen und sie näherten sich bereits den Grenzen des Landgutes, als Kylon plötzlich vom Wege abbog und zu einem kleinen Hain strebte, der ein Heiligtum der Demeter verbarg. Einen Herzschlag lang durchzuckte den Weisen der Gedanke, Kylon sei vielleicht in jugendlicher Schwärmerei ausgezogen, um die herrlichen Bildsäulen, die dort standen, im Scheine des Mondlichtes zu betrachten. Und er wäre fast umgekehrt, um nicht durch eine solche Widerlegung seines Verdachtes beschämt und in neue Rätsel gezogen zu werden.

Da aber tönte deutlich und unleugbar ein leiser Ruf durch die stille Nacht und eine andre, hellere Stimme antwortete.

Wie ein gräßlicher Schlag traf dieses Einverständnis den Philosophen und er bebte trotz aller Beherrschung bei dem Gedanken, daß vielleicht in wenigen Augenblicken schon sich die Schwäche des Weibes Theanó vor ihm mitleidlos offenbaren würde. Nicht aus Zorn oder Eifersucht zitterte sein Leib. Weit darüber hinaus hatte ihn sein Entschluß gehoben. Nein, er wollte sie, die er höher gestellt hatte als die anderen Frauen, nicht erbärmlich, nicht schal und gewöhnlich befinden.

Und er folgte schnell dem Schalle, da er die Frevelnden zur Rede stellen wollte, noch bevor ein Kosen sie blind und taub gemacht hätte. Schon sah er die beiden sich leuchtend vom Hintergrunde der dunklen Gebüsche abheben. Und er erblickte die hohe Gestalt des Mädchens.

Da stieß er absichtlich mit dem Fuße hart gegen das Gerölle, damit sie sein Nahen bemerkten. Als aber Kylon in das helle Mondlicht hervortrat und auch das Mädchen folgte, erblickte er zu seinem Staunen fremde Züge.

»Keinen Schritt weiter!« rief Kylon drohend.

Doch er kehrte sich nicht daran, sondern donnerte dem Jünglinge, der ihn in geschmeidigem Satze ansprang, entgegen:

»Was geht hier vor? Macht dein Frevelsinn nicht einmal vor der geweihten Stätte halt? Wer ist dieses Weib?«

Da stockte der Jüngling mitten im Sprunge und furchtbares Entsetzen lähmte seine Glieder. Dann aber lachte er plötzlich heiser auf.

»Du schlichst mir nach?« ächzte er. »Du, der Lehrer der Weisheit, stiehlst dich vermummt durch den Mondschein? Nein, Feigheit sollst du Kylon nicht nachsagen!«

Und seine Stimme mäßigte sich zur Beherrschung. Er trat näher und setzte fort:

»Verzeih den unziemlichen Ton meiner Erregung! Sieh, Pythagoras, ich weiß, daß ich das Spiel verlor. Ich weiß auch, daß ich dir ein Wort brach. Aber in meinem Gemüte liegen die Tugenden und Laster anders geschichtet als in deinem Herzen. Und deshalb werde ich nie einsehen, was es dem Weiterstreben meines Geistes anhaben soll, wenn ich, statt zu schlafen, den Wundern, den göttlichen Offenbarungen der Liebe und der Lust lausche. Kallopis ist dort, die du siehst. Eine der unseligen verstoßenen Nebenfrauen, deren Herz dein harter Sinn verwundete. Nimm es als Vorzeichen, Samier, daß die Kräfte, die du zerschmettert zu haben wähntest, stets wieder dir dort ihre Urgewalt weisen werden, wo du es am wenigsten erwartetest. Du streitest gegen das Lebendige. Das Lebendige aber ist stärker als du!«

Pythagoras, den all das Unerwartete, die Sprunghaftigkeit im Gemüte des Kylon und die furchtbaren Worte des Jünglings, die aus dem Hades gleichsam zu schweben schienen, erschüttert hatten, war so lange stumm dagestanden, bis Kylon geendet hatte. Jetzt aber schäumte plötzlich heiligster Zorn und tiefste Verachtung in ihm empor und er rief mit steinerner Härte:

»Dort führt der Weg nach Kroton, Frevler! Eile dem Leben zu, das du verstehst! Und führe auch jenes Weib mit dir, das sich nicht scheute, an heiliger Stätte mit unreifen Knaben zu buhlen! Geht!« Und er streckte fortweisend den Arm.

Kylon zuckte zusammen, als ob ihn ein Peitschenhieb getroffen hätte. Plötzlich aber antwortete er mit einer sonderbar gepreßten Stimme, in der Lachen, Weinen, Drohung und Bedauern zugleich sich ballte:

»Das hättest du nicht sagen sollen, Pythagoras! So hättest du nicht sprechen sollen! Gut, ich sündigte nach deiner Ansicht. Aber ist das genug, wie ein Hund fortgejagt zu werden? Nein, Pythagoras, du warst jetzt töricht und hart! Jetzt, in diesem Augenblicke hast du dich und dein Werk vernichtet. Es schmerzt mich, denn ich liebte dich. Ich liebte dich, Pythagoras, hörst du? Du aber verstehst den größeren Teil des Lebendigen nicht. Weisheit bist du ohne Blut und Fleisch! Ist das noch Weisheit? Deshalb auch müßt ihr, du und deine Anbeter, vernichtet werden. Denn eine Fessel seid ihr, Feinde des Lebens! Hörst du, ich liebte dich! Jetzt aber werde ich nicht ruhen, bis all das Schutt und Asche ist, was du bautest. Komm, Kallopis, noch ist er Herr dieses Grundstückes. Wir wollen gehen. Leb wohl, härtester aller Tyrannen, Feind des Volkes und der Freiheit!«

Pythagoras aber, der für kurze Herzschläge das andere Ufer sah, auf dem der Geist Kylons stand, der zudem klar erkannte, daß es mit diesem Feinde keinen Frieden mehr geben würde, solange sie beide lebten, erwiderte kalt:

»Ich verachte dich nicht, Kylon, ich hasse dich nicht! Doch so schnell, so sicher wird es sich nicht entscheiden lassen, wer von uns beiden unrecht hat. Wirf dich denn diesem Leben in die Arme, das als letzten Weisheitsgrund Blut, Mord und Vernichtung anruft. Ich kann dir nicht mit gleichen Waffen erwidern. Die Ewigkeit erst wird beweisen, wer von uns beiden das Richtige, wer die Wahrheit vertrat. Leb wohl! Ich fürchte dich nicht! Gedenke der Sybariten!«

»Und du gedenke der athenischen Tyrannen!« rief Kylon noch aus, der mit Kallopis schon den Weg nach Kroton betreten hatte.

Pythagoras aber schritt, ohne sich umzublicken, zum entweihten Heiligtume der Demeter und betete lange. Und unlösbare Widersprüche verstrickten sich in seinen Gedanken; bis die gräßliche Angst in ihm emporstieg, Theanó könnte die Beute der Urgewalt dieser typhonischen Seele geworden sein und Unwiederbringliches für eine Laune des gewissensfremden Jünglings hingeworfen haben.

*

Am frühen Morgen beschied Pythagoras alle Schüler und Schülerinnen in den großen Saal und verkündete ihnen in bewegten Worten, daß der erste ihrer Brüder abgefallen sei vom Wege zur Weisheit und die flüchtigen, unbeständigen Freuden des Lebens dem Ziele der Götternähe vorgezogen habe. Und er ermahnte sie, dem Beispiele Kylons nicht zu folgen, sondern eingedenk zu bleiben, daß ihnen ja allen nach den Jahren der Sühnung endgültigeres, fester begründetes Menschenglück winke. Zum Zeichen der Trauer aber solle heute jeder einsam bleiben und in dieser Einsamkeit die Festigkeit seiner Vorsätze prüfen und neue Entschlüsse fassen. Und der tiefsten Bedeutung des Menschenschicksals nachsinnen!

Die Bewegung, die das unerwartete Ereignis erregte, war groß. Und mancher der Zuhörer zuckte bei dem Gedanken in schmerzlichem Schrecken zusammen, daß auch vielleicht einmal ihn das gräßliche Abschiedswort des Ausschlusses aus dem trauten Kreise der Gefährten, der jähe Zusammenbruch aller Hoffnungen auf Erreichung wolkentiefer Ziele treffen könnte.

Der Philosoph selbst aber schritt allein und nachdenklich durch die bakchische Glut des herrlichen Morgens hinauf zu seiner Grotte. Noch hatte er nicht gewagt, den letzten verbergenden Schleier, der über dem Geheimnisse Kylons lag, zu heben. Denn die furchtbare Pflicht der Strafe, die an ihn herantreten würde, wenn er vom Frevel einer Jungfrau unabänderliche Kenntnis erhielt, stand jetzt schon als derart schwere Tat vor seinem inneren Gesichte, daß er zweifelte, ob nicht durch Ausführung der Verbannung der Rest seines Lebenswillens zerschellen würde.

Er klagte sich hundertmal strafwürdiger Feigheit an, als er über das herbstliche Meer hinausblickte, das in dunkler, kalter Bläue gegen die Ufer heranrollte und Myriaden schneeiger Schaumkämme unter dem Drucke eines frischen Windes auf seinem Rücken trug. Dann aber wieder drängte sich eine leise, schüchterne Hoffnung an die Oberfläche seiner traurigen Gedanken, die ihn von der Unschuld der Theanó überzeugen wollte. Warum, so fragte es in ihm, hatte Kylon, wenn er schon den Mut zum Frevel fand, nicht Theanó in die Verschwiegenheit der Nacht hinausgelockt? War es überhaupt wahrscheinlich, daß der Jüngling, der für Kallopis alles wagte, der Tochter des Brontinos ernstlich nachgestellt hatte? Hatte er nicht vielmehr mit ihr nur albernen Scherz getrieben? Denn all das, was Kylon selbst einst zu seiner Rechtfertigung gesagt hatte, das Geständnis, daß ihn der Reiz Theanós überwältigt habe, konnte doch heute, nach seinem Abfalle und Wortbruche, nur mehr als Ausflucht und unverläßliches Gerede erscheinen!

Die Angst des Philosophen aber ließ sich nicht beschwichtigen. Tausend Gegengründe bewiesen ihm mit zwingender Schärfe die Möglichkeit eines Frevels der Jungfrau, und ihr sonderbares Gehaben konnte jeden Verdacht nur verstärken.

So sann der Philosoph, ohne Ruhe oder wirklichen Halt zu finden, in engen Kreisen vor sich hin und der pythische Spruch stand in all seiner Dunkelheit wieder und wieder vor seiner Einbildungskraft.

Die Sonne hatte längst den Mittag überschritten und noch befand sich das Gemüt des Pythagoras am Ausgangspunkte seiner Gedankenpfade.

Da starrte plötzlich sein Blut. Denn als er wieder einmal das Antlitz hob, kam langsam, wie nachtwandelnd, die hohe charitische Gestalt der Jungfrau auf ihn zu. Ihr Haupt war gesenkt, als sie über die Halden schritt und eine Müdigkeit sondergleichen beherrschte den Rhythmos ihres Ganges. Als sie aber nahe herangetreten war, enthüllte sich erst ganz die Veränderung, die all das Geheimnis ihren Zügen aufgeprägt hatte: Schmal und bleich waren die zarten, vollen Wangen geworden und die herrliche, sanftgebogene Nase sprang scharf zwischen den dunklen Augen hervor, die sich in tränenerfüllter Unbestimmtheit zu matter Glanzlosigkeit getrübt hatten. Und wirr ringelten sich unter dem weißen Bande einige schwarze Locken in die Stirne.

Pythagoras hatte sich erhoben. Einen Herzschlag lang wollte ein Beben die Härte seines Willens zerknirschen. Dann aber drängte, wie stets in seinem bisherigen Leben, die Nähe der Entscheidung, das Schicksalhafte des Ereignisses, alle Schwäche in die dunklen Tiefen des Unbewußten zurück und nur Kummer, nur hilfsbereite Sorge klang in seiner Stimme leise mit, als er fragte:

»Was trieb dich hieher, Theano? Kamst du, um mir vertrauensvoll all das zu sagen, was sichtbar die Freude aus deiner Seele bannte und nun schon beginnt, dein Antlitz zu verändern? Sprich, Theano! Nichts soll es auf dieser Welt geben, was von edlen Herzen nicht gelöst, nicht gesühnt oder geheilt werden könnte!«

Theano aber sah starr auf. Mühsam schienen sich die Worte erst in ihrem Gemüte zu formen. Endlich aber hatte sie sich überwunden und erwiderte abgewandten Blickes:

»Vielleicht gibt es solche Dinge, die auch edle Herzen unlösbar verstricken und zerschmettern können! Vielleicht stehen fluchbeladene Schicksale, Freveltaten längst entschwundener Geburten über uns! Was aber bis zum Letzten geschehen muß, was als einzige Hoffnung auf künftige Reinigung dem Verdammten bleibt, ist unerbittliche Gerechtigkeit. Du hast sie heute vollzogen, Erhabener, als du Kylon verbanntest. Ich selbst bin gekommen, dir zu sagen, daß ich Kylon folgen muß, da nicht geringerer Frevel mich unwürdig deiner Schule und deiner Nähe macht!«

Sie schwieg und schien sich für das Letzte, das Schwerste zu sammeln. Pythagoras aber fühlte eine Welt, eine schönere, sonnigere, freiere Welt zerspellt und vernichtet entgleiten. Und kaum mehr mächtig seiner Gedanken, rief er entsetzt: »Du liebst also den Frevler, Unselige? Den Wankelmütigen, der heute schon dir jede Treue brach? Und bist das Opfer seiner unterweltlichen Verlockung geworden? Sprich, sage mir alles ...«

»Nein, Pythagoras! Tausendmal nein!« fiel ihm Theanó ins Wort und fast ein Lächeln huschte verwehend über ihr Antlitz. Dann schüttelte sie das Haupt und setzte sinnend fort: »Das also glaubtest du? Deshalb fragtest du mich einst? Nein, Pythagoras! Weit schwerer, weit unsühnbarer ist mein Frevel! Höre mich und verstehe: Wie könnte ich diesen eitlen, albernen Jüngling, diesen unreinen Diener der Aphrodite, lieben, da du, du selbst, Erhabener, mir Tag und Nacht in all deiner jenseitigen Größe alle Sinne erfüllest!«

Pythagoras aber faßte nicht den vollen Sinn ihrer Worte. Denn noch klangen die furchtbaren Erschütterungen zu übermächtig in ihm nach, die eben sein ganzes Denken durchtost hatten. So fragte er leise:

»Ich verstehe dich nicht, Theanó! Was also ist dein unsühnbarer Frevel, da du Kylon nicht liebst? Warum batest du für den Jüngling? Warum empfingst du seine Briefe und erteiltest ihm Antwort?«

Theanó lächelte schwach und erwiderte:

»Jetzt begreife ich endlich deinen Verdacht, Erhabener! Nein, noch einmal wiederhole ich es und schwöre es dir feierlich: Nicht einen Herzschlag lang liebte ich den tollen Epheben! Schwesterliche Milde, Hilfsbereitschaft war es, die mir Törichten die Hoffnung lieh, den Strauchelnden durch Ermahnung und Zuspruch wieder zur Pflicht zurückleiten zu können. Das ist alles, was mich und Kylon betrifft, o Pythagoras! Nichts habe ich dir verschwiegen!«

»Was aber ist dann dein Frevel? Was sündigtest du?« Und Pythagoras, den die Erlösung von seiner Angst noch nicht voll und ganz alle Ruhe zurückgegeben hatte, blickte sie fragend an.

Theanó aber richtete sich plötzlich auf und sah ihm mutig und entschlossen ins Antlitz:

»So sei es, da du mich nicht verstandest!« sagte sie mit dem Ausdruck unendlicher Würde. Dann setzte sie leiser fort: »Ich habe die Strafe ohnehin schon selbst vollzogen, indem ich dich bat, mich aus deinen reinen, herrlichen Gefilden auszustoßen. Du verbanntest Kylon, weil er sein Wort brach und die irdische Liebe der Weisheit vorzog. Was also gebührt mir anderes, mir, die ich in verstiegener, frevelhafter Weise meine Liebe dir zuwandte, dir, dem erhabenen Weisen?! Noch einmal sei es gesagt: Ich liebe dich, Pythagoras, liebe dich nicht wie die Schülerin den göttlichen Lehrer, nein, wie ein Weib den Mann! Und meine tollen, vermessenen Träume sind um dich, daß mein Leib zerbricht und meine Kraft entschwindet. Darum, o Erhabener, muß ich dich verlassen. Denn auch ich habe, gleich jenem Kylon, das Gelübde der Reinheit gebrochen! Leb wohl, Erhabener, und verachte nicht zu sehr das Weib, das zu schwach war, das Göttliche zu erringen!«

Schon die letzten Worte hatte sie stockend und tränenumflort in unsagbarem Weh hinausgerufen. Als sie sich aber jetzt zum Gehen wenden wollte und ihr Blick den sonderbaren, überirdischen Schimmer wahrnahm, der auf dem Antlitze des Weisen lag und ihm plötzlich fast die Schönheit eines olympischen Jünglings lieh, zerbrach ihre Kraft und sie sank mit einem kurzen Wehelaut in sich zusammen und begann zu wanken.

Ein mächtiger Arm leitete sie sorgend zur Marmorbank. Als sie aber endlich wieder klare Gedanken fassen konnte, hörte sie wie aus fernen Räumen die Stimme des Pythagoras:

»Über das, was du Frevel nennst, o Theanó, kann ich nicht richten. Denn gleicher Sünde machte auch ich mich schuldig. Höre es, Jungfrau, die du reiner und edler bist als alle Frauen, die ich bisher traf. Auch ich liebe dich, liebte dich seit langem und durchlitt schreckliche Qualen, da ich fürchtete, daß Kylon von deinem Herzen Besitz ergriffen habe. Sosehr aber liebte ich dich, Theanó, daß ich dir entsagt hätte und entschlossen war, dir und Kylon den Weg zum lebendigen Glücke ohne Zögern freizugeben. Und diese Liebe ist es auch, die mich jetzt, heute dir sagen läßt, daß du nicht deine blühende Jugend dem alternden Manne zum Opfer bringen darfst. Widersprich mir nicht, Theanó! Nur Täuschung ist vielleicht, was du für Liebe hältst. Nur jugendliche Verehrung und Begeisterung für Ziele, die ich euch allen weise, hat vielleicht die Meinung in dir erweckt, daß die Liebe, die du für das Göttliche hegst, dem Menschen gilt. Nein, Theanó, ich kann das Opfer deiner Jugend nicht annehmen, darf nicht all das Herrliche begehren, das wieder nur dem Jünglinge vorbehalten sein soll! Und du, edle Jungfrau, wirst einst meiner Entsagung danken!«

In Theanó aber war plötzlich eine wunderbare Veränderung vorgegangen. Ganz Stolz, ganz Kraft und heiliger Wille, sprang sie empor und stand mit flammendem Antlitze vor Pythagoras. Und sie rief mit voller Stimme:

»Antworte mir, Pythagoras aus Samos! Antworte mir, die jetzt Anklage gegen dich erhebt! Welcher Gott lieh dir das Recht, ein Menschenleben zu zerschmettern, weil es deine starre Regel so heischt? Antworte mir, Pythagoras! Wenn du aber wähnst, daß ein dummes, unerfahrenes Mädchen, ein Mädchen, das seine Gefühle noch nicht deuten kann, vor dir steht, so sage ich dir, daß ich zwar all das Herrliche, dessen Verkünder du bist, wie keine zweite verstehen und heilig halten will. Was ich dir aber heute zu sagen hatte, galt nicht dem Weisen, es galt dem Manne! Schon einmal sagte ich es, aber noch einmal, noch klarer sei es ausgesprochen: Ich will dein Weib sein, Pythagoras, dein Weib mit all der Glut meines Gemütes und meines Leibes. Und will die Mutter deiner Kinder sein, Mann aus Samos!«

Und sie warf sich vor dem Weisen auf die Kniee und bedeckte seine Hände mit wilden Küssen. Er aber hob sie zu sich empor und küßte sie leise und weihevoll auf die Stirne, als eben die Sonne rot in die bakchischen Fluten tauchte.

Dann sagte er mit unendlich klarer, ruhiger Stimme: »Du wirst mir Schülerin und Weib sein, Theanó! Der heilige Spruch des pythischen Gottes ist erfüllt!« –

*

Als aber die beiden durch die Haine den Gebäuden zuschritten, wies sich ihnen ein sonderbares Bild: Ernst und feierlich umstanden die Knaben einen frisch aufgeworfenen Grabhügel und murmelten die vorgeschriebenen Totenklagen. Auf dem Steinblocke aber stand groß und schwer der Name Kylon eingemeißelt.

Pythagoras, der nicht gleich verstand, was vorging, fragte leise den Aristokles, der sich umgewandt hatte.

Dieser aber flüsterte:

»Ob Kylon lebt oder nicht, werden wir niemals mehr erforschen. Für uns, für uns Pythagoreer, ist Kylon der Bruder, Kylon der Pythagoreer, am gestrigen Tage gestorben!«

Pythagoras und Theanó aber knieten unter die Knaben nieder und beteten still für die Umkehr und Reinigung des Verstoßenen!


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