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Zweites Buch

Harmonie der Sphären

XVII

Das phönikische Schiff stand mit dem Buge gegen Mitternacht. Schlaff hing das hohe Segel am Maste, denn kein Windhauch kräuselte die Fläche des Inselmeeres. Nur die langen Ruder peitschten in mächtigem Gleichklang die glasige Bläue.

Es war einer jener süßen jonischen Herbstnachmittage, einer jener bakchischen Nachmittage, an denen die glühenden Trauben sich in letzter Reife dehnen; und ein flirrendes, helles Singen, ein Rhythmos in der unfaßbar klaren Luft liegt, der die Erfülltheit des Lebens, die Sättigung des Gewordenseins in wehmutloser Heiterkeit kundgibt.

Zur Rechten ragte das Vorgebirge Mykale wie eine Brücke gegen Samos, und der Schimmer Milets gleißte halb im Rücken des Schiffes. Vorwärts aber dehnte sich lang und wuchtig die Insel selbst, Samos, die Heimat!

Und Pythagoras, der an den Planken des Vorschiffes lehnte, betete in stummer Ergriffenheit zu den vertrauten Schroffengipfeln seines väterlichen Eilandes. Vom westlichen Kantharion, zu dem die überragende Höhe des waldigen Kerketeus abfiel, hinweg über die Hänge des Assoron und Ampelos, wanderte sein trotz aller Gewißheit ungläubiger Blick bis zur Ebene des Ostens, aus der sich der Tempel der Hera erhob; und weiter, wo die Feste Astypalaion schwebend die kyklopischen Mauern der Stadt überhöhte, der Stadt, die weiß und glitzernd aus satten Hainen, das Graugrün stets durchbrechend, sich breitete; und mächtige Dämme und Molen in die Glätte des Meeres hinaussandte.

So sah Pythagoras an einem bakchischen Nachmittage die Heimat wieder, die er in einer schwülen, ahnungsvollen Vorsommernacht fliehend verlassen hatte. Und Hellas drang von allen Seiten urgewaltig in seine Seele. Zuerst war es ein Staunen über die spielzeughafte Kleinheit der Tempel und Paläste, Mauern und Häuser. Dann aber versank der Stoff, und die Form gewann über ihn Gewalt. Und diese Form war es, dieser unausdrückbare Zusammenstrom von Bergen, Farben, Hainen und Bauwerken, von Oliven, Weingärten und Häfen, von Meer und Luft, was seiner Seele tief im Untersten ein Brausen und Jubeln entpreßte, was die letzten Kräfte und Wünsche seines Gemütes unentrinnbar packte und ihm das Gefühl endgültiger, unübertrefflicher Größe lieh. Nur wie riesige, unverständliche Schatten standen dahinter Theben und Memphis, Babylon und Persepolis.

Näher rückte das Schiff den Dämmen und Molen von Samos, das ihn von Tyros hiehergebracht hatte.

Ein sonderbares Zusammentreffen, ein Wunder fast war es gewesen, das ihm diese Heimkehr ermöglicht hatte. In kurze Zeiten zusammengedrängt, waren wilde Schicksalswechsel an ihm vorbeigejagt. Als nämlich der Winter gewichen war, hatten die Inder gewähnt, es sei gelegene Zeit zur Flucht. Und wieder war er mit Karawanen durch die Wüsten Baktriens gezogen. Diesmal westwärts. Wer könnte die Unbilden und Ereignisse dieser Irrwege beschreiben? Plötzlich hatten ihn persische Reiter ergriffen und als Gefangenen nach Persepolis geschleppt und er hatte grausamen Tod oder lebenslange Sklaverei vor sich gesehen. Doch es war anders gekommen: In den herrlichen Hallen von Persepolis war er vor dem Throne des erhabenen Dareios gestanden, der ihn lange mit wehmütigem Lächeln betrachtet hatte. »Pythagoras, kehre heim nach Samos!« hatte der König gesagt. »Kehre heim, denn meine Macht ist geringer als die Macht deiner Freunde! Demokedes hat mir sein Wort gebrochen und ist nicht zurückgekehrt! In Kroton hat er das Schiff verlassen und die Perser, die ich ihm mitgab, führerlos ihrem Schicksale preisgegeben. Unkundig der Gewässer und Klippen, litten sie Schiffbruch. Die Hellenen aber nahmen sie gefangen und bedrohten sie mit Sklaverei. Da hat nun Gillos aus Tarent, jener Gillos, den seine Vaterstadt verbannte, die Söhne Ahura-Mazdas losgekauft und als Dank von mir gefordert, ihm durch Fürsprache Heimkehr nach Tarent zu vermitteln; und außerdem Demokedes zu verzeihen und dich, Pythagoras, aus der Gefangenschaft zu entlassen. Er wußte, dieser Gillos, daß Ahura-Mazda von seinen Anbetern Dankbarkeit fordert! Was sollte ich tun? Soll ich Demokedes zürnen, der mich und die Königin heilte? Soll ich dich töten, der du die reine Lehre zu den Daevas-Anbetern bringen willst?

Geh, Pythagoras! Geh und lehre dein Volk, daß auch die Heiligung der Wahrheit oberstes Gebot ist! Ahne ich doch, daß ich nicht würde kämpfen müssen, um in das Herz von Hellas einzudringen. Würde doch aus eurer Mitte, wie stets bisher, der Verräter erstehen, bereit, meine Heere durch Pässe und durch verschlossene Tore zu führen.

Geh, Pythagoras! Vergiß den Ton der Bitterkeit, der meine letzten Worte bewegte! Geh und sei glücklich! Vielleicht hat dich die Lehre Zoroasters soweit erleuchtet, daß du in Hellas das beginnen kannst, was meine Heere vollenden werden!«

Und Pythagoras war in aller Gnade, überhäuft mit reichen Geschenken, entlassen worden, und ein sicheres Gefolge hatte ihn bis Tyros gebracht, wo er an Bord des phönikischen Schiffes gestiegen und nach Norden gesegelt war.

Als Pythagoras, erfrischt durch ein laues Bad, das Gelaß seines greisen Vaters betrat, lag das letzte Flirren der untergehenden Sonne im Räume. Ein tiefer, fast jenseitiger Friede, eine Ruhe ohne Vorbehalt und ohne das Aufschrecken durch verwirrende Gedanken und Sorgen war in seinem Gemüte. Eine Stille, die ihm um so mehr wohltat, als sein Herz auf dem Wege vom Hafen zum Vaterhaus herauf wild gepocht hatte.

Alle hatte er wiedergefunden, von denen er vor unzähligen Jahren gegangen war. Alle! Deshalb war die Ruhe über ihm.

Und der Kaufherr Mnesarchos, der hohe würdevolle Greis, wollte sich bei seinem Eintritte erheben. Da stürzte Pythagoras vor ihm auf die Kniee und bedeckte seine Hände mit Küssen. Als er aber endlich wieder aufgestanden war und einer weisenden Geste des Vaters folgend sich ihm gegenüber niedergelassen hatte, sagte Mnesarchos voll und stark:

»Ich habe auf dich gewartet, Pythagoras! Ich wußte, daß du heimkehren würdest, ehe mich das Schattenreich umfangen hätte. Es hat sich vieles, allzuvieles geändert seit deiner Abreise, in mir und um mich!«

Pythagoras antwortete leise. Fast scheu war seine Stimme, als er anhub:

»Schon als du mir den Weg zur Priesterschaft Ägyptens ebnen halfst, wußte ich, daß du mir verziehen hattest. Beides verziehen, was gleicherart deinem Planen widersprach. Doch glaube mir, Vater, daß nicht Mißachtung deines Berufes mich andre Ziele als den Reichtum suchen ließ. Wähne auch nicht, daß ich floh, leichtsinnig und eigenwillig, ohne zu bedenken, wie großen Schmerz ich dir dadurch bereitete!«

»Sprich nicht weiter!« fiel ihm Mnesarchos lächelnd ins Wort. »Laß das alles! Du hättest als Vater, ich als Sohn nicht anders gehandelt. Ist es doch das traurige Vorrecht des Älteren, zweifelsüchtig die stürmischen Träume der Jünglinge zu belächeln und vorzusorgen, daß nichts Unwiderrufliches erfolgt ist, wenn sie einmal zur Nüchternheit erwachen. Ich hatte nichts zu verzeihen! Denn als ich sah, daß deine Träume Wirklichkeit zu werden anhuben, als Jonien von deiner Begabung widerzuhallen begann, als ein Thales dich nicht als Schüler verschmähte, da mußte ich, der Ältere, einsehen, daß dein Traum mehr Berechtigung gewann als meine Träumereien. Es war kein Schmerz für mich! Wie könnte es den Vater schmerzen, den Sohn über sich selbst, über seinen Beruf, über sein Ziel hinauswachsen zu sehen? Du hast Brüder, Pythagoras! Brüder, die zwar an den stolzen Schwung deines Geistes nicht heranreichen, die aber gleichwohl fähig und tüchtig genug sind, das kleine sterbliche Ziel weiterzuführen, das ich mir steckte. Sie werden das Vermögen unsres Hauses vermehren und die edle Kunst des Steinschneidens weiter pflegen und werden Samos an Ruf und Wohlhabenheit bereichern. Dir aber werden sie helfen, frei von Sorge und Not, ein großes Ziel zu erreichen. Wir wissen, was wir dir schulden, Pythagoras! Nicht als Eltern, nicht als Brüder und Verwandte!

Nein! Als Hellenen, Pythagoras!«

Tränen standen im Auge des Pythagoras. Tränen der Rührung und Begeisterung. Und er erwiderte schnell:

»Ich habe nur die Gaben des Verstandes und Herzens, die ich von dir, Vater, erhielt, fortgebildet und treu gehütet! Noch habe ich nichts Eigenes geschaffen, noch liegt in mir Eindruck neben Eindruck, Erinnerung neben Erinnerung. Vielwissen ist in mir, noch nicht Weisheit! Marmorblöcke wuchten auf dem Arbeitsfelde meines Gemütes; ein Bau aber ist noch nicht getürmt. Bisher trug mich das Geschick. Jetzt werde ich selbst Schicksal, selbst Führer sein müssen! Ich glaubte einst, der entscheidende Schritt meines Lebens sei meine Flucht gewesen. Heute weiß ich, daß alle Entscheidung noch vor mir liegt! Darum dankt erst, ihr Hellenen, wenn ich euch in Wahrheit beschenkte!«

Er schwieg. Mnesarchos sann vor sich hin und wollte widersprechen. Doch er fand, daß Widerspruch vielleicht nur die erhabene Stimmung zerschlagen hätte können, die jetzt über ihnen lag. So sprang er im Gespräche von der bisherigen Linie ab und lenkte es in andre Zonen.

»Ich sagte, daß sich vieles geändert habe!« begann er nachdenklich. »Vieles um uns! Du dürftest wissen, daß der große, glückliche Polykrates ein gräßliches Ende fand. Seit seinem Tode gehört Samos nicht mehr sich selbst, wie alle die Städte und Inseln Joniens. Wer hätte diesen Umschwung im Verlaufe eines kurzen Mensohenalters geahnt? Wer gewähnt, daß Satrapen des übermütigen Barbaren uns nach Gutdünken Tyrannen senden würden? Gewiß ist äußerlich, ganz an der Oberfläche, wenig verändert worden. Dem Polykrates folgte sein Bruder Syloson und jetzt herrscht Aiakes, der Sohn Sylosons, der eben den Dareios auf seinem Zuge gegen die Skythen begleitet. Alle diese abhängigen Tyrannen umschwirren das grelle Licht des mächtigen Barbaren. Alle, wie sie auch heißen: Strattis von Chios und Leodamos von Phokaia und Histiaios von Milet sind unter ihnen und viele andre. Und weil sie den Barbaren umschmeicheln, hat er seine Truppen nicht in unsre Städte gelegt und wir können weiter in Wohlstand ohne Bedrängnis leben. Doch ist trotz allem mit der Freiheit etwas von uns gewichen, ein unmeßbares Lebensschäumen, das bisher uns Jonier zu den Ersten von Hellas machte. Wie aber der eine Arm der Waage steigt, wenn der andre sinkt, so ist im äußersten Westen seit unsrem Niedergange ein andrer Zweig von Hellas erstanden und wirbelt zu schwindelnder Höhe empor. Tarent ist es und Sybaris und Kroton, Metapont und Syrakus. Groß-Hellas, das größere, das neue, jetzt das eigentliche Land der Hellenen!

Und was wird folgen, wenn Dareios stirbt? Weißt du das? Du kennst ihn, wurdest durch ihn befreit und beschenkt. Ich brauche dir also nicht zu sagen, daß ihn selbst die Ägypter lieben und ihm gleich ihren eigensten Königen göttliche Verehrung aus freien Stücken zollen. Was wird geschehen, wenn ein neuer Kambyses auf Dareios folgt?«

Plötzlich hob Mnesarchos den Blick.

»Wir wollen nicht trüben Gedanken unseren Sinn leihen!« sagte er fest. »Sieh dorthin, mein Sohn! Dies sind die Gewänder, die ich vorbereiten ließ, damit du auch äußerlich wieder ein Hellene seiest!« Und er wies gegen eine Truhe, auf der herrliche jonische Himatien aus zartestem purpurgefärbten und bortenverbrämten Gewebe hingebreitet lagen. Und er winkte gebieterisch Schweigen, als Pythagoras, von heißem Danke überwältigt, den Mund auftun wollte.

»Noch etwas«, fuhr er fort, »noch etwas habe ich vorgesorgt. Du bist kein Jüngling mehr, Pythagoras! Auch hast du lange genug mit eigenen Händen schwerste Arbeit verrichtet. Jetzt sollst du andre Hände erhalten, die für dich arbeiten, gute, starke, willige Hände!«

Und er schlug mit einem Stabe gegen eine eherne Schale, daß ein heller Klang in der Luft zitterte.

Als der Ton aber noch kaum verweht war, stand ein riesenhafter, blondhaariger Sklave im Gelasse, der seine blauen strahlenden Augen fragend auf Mnesarchos richtete.

Der Kaufherr sagte lächelnd:

»Siehe, mein Sohn! Dies ist Zamolxis, der Thraker! Er ist ein wilder, ungebärdiger Diener. Doch ist er treu und stark. Er ist von jetzt an dein Sklave! Willst du ihn zum Geschenke nehmen?«

Da blickte der Thraker erstaunt und fragend gegen Pythagoras, der sich erhoben hatte und auf ihn zugeschritten kam. Als aber seine Augen den Riesen trafen, geschah etwas Sonderbares. Zamolxis warf sich verzückt vor seinem neuen Herrn auf den Estrich und umfaßte seine Kniee. Dann rief er wie in hellem Jubel:

»Du bist es, bist es, von dem ich schon als Kind in den Bergen meiner Heimat hörte! Du bist es, der alle Völker, alle Stämme des Weltkreises zurückführen wird zu den heiligen Gärten und seligen Zeiten, die sie verloren. Du bist es, bist der Mann mit dem göttlichen Blicke! Wie bin ich froh, daß ich dein Sklave sein darf!«

»Ich will dir ein milder, gerechter Herr sein!« sagte Pythagoras leise und erschüttert über das unerwartete, unverständliche Vorzeichen, das sich durch den Mund dieses schlichten Menschen offenbarte.

Mnesarchos aber schüttelte sinnend das Haupt:

»Nein, Pythagoras!« setzte er, wie anknüpfend an längst Gesprochenes, fort. »Nein, mein Sohn! nicht nur ein Vielwisser, nicht nur ein Weiser bist du! Auserwählt bist du vom Schicksale, ausgewählt unter Unzählbaren zum Führer und Erneuerer! Denn der harte Sinn dieses starken Zamolxis ist die Wahrheit. Die Wahrheit selbst! Und niemandem außer dir hat er bisher die Proskynesis geleistet. Aus deinem Antlitze muß für Sehende, für Menschen, die dem Anbeginn noch näher sind, etwas leuchten, das wir selbst nicht sehen: Weder du, noch ich, noch die anderen stumpfen Zeitgenossen! Doch jetzt leb wohl, Pythagoras! Will doch auch deine Mutter den sehnsuchtsvoll Erwarteten noch begrüßen, bevor dich Zamolxis in das Landhaus deines Bruders geleitet, wo ein fröhliches Symposion deiner harrt. Und auch dein zweiter Sklave, Aristaios, der Lydier, wird sich dir anschließen, nachdem er dir geholfen hat, die Gewande anzulegen. Leb wohl, mein Sohn und verzeihe mir, daß mein Alter den Anstrengungen eines munteren Zechgelages nicht gewachsen ist!«

Pythagoras verließ jedoch den Vater erst, als sich sein Dank und seine Beglückung in heißen, innigsten Worten vollen und würdigen Ausdruck geschaffen hatte.

Es war viel Leben in den abendlichen Straßen, als Pythagoras, angetan in die neuen Festgewänder, gegen Westen schritt. Wenige Ellen hinter ihm gingen die zwei Sklaven und trugen Fackeln für die Nacht und eine kleine Truhe mit Willkommgeschenken.

Pythagoras setzte wie im Traume einen Fuß vor den andern. Kaum achtete er des wohlbekannten Weges und merkte nur hie und da auf, wenn Häuser fehlten, die er einst gekannt hatte, oder Straßen sich hinzogen und neue Tempel und Paläste emporwuchsen, wo früher Haine und Gärten ragten.

Was ihn jedoch am meisten zur Betrachtung aufforderte, waren die Menschen, die jetzt, nach Sonnenuntergang, über die glatten Fliesen des Pflasters lustwandelten und in plaudernden, munteren Gruppen beisammenstanden, während wohlklingende, geistvolle Gespräche bruchstückweise den Vorbeieilenden erreichten. Fast glaubte er nicht dem Zeugnis seiner Sinne, sosehr war er dieses Anblickes entwöhnt.

»So viele Hellenen, Hellenen, wie weit auch der Blick reicht! Nur Hellenen!« summte es in seinen Gedanken.

Und er lächelte, da er es nicht begreifen konnte, woher die vielen Hellenen kamen und warum die zahllosen Fremdvölker, alle die Ägypter, Perser, Babylonier, Elamiter, Inder, und wie sie alle hießen, hier fehlten. Dabei aber legte sich, den Tiefen seines Gemütes entstiegen, ein wonnevolles Gefühl von Geborgenheit und Sattheit über ihn; und alle die furchtbaren Kräfte, die er jahrelang der ihn umbrandenden Fremdheit als Einzelner, als Einziger hatte entgegenstemmen müssen, um nicht im Wesenskerne seiner Eigenart erdrückt zu werden, durften endlich für kurze Weile schlummern. Noch etwas aber war da, das wieder in anderen Tiefen seiner Seele mächtige Bewegung wachrief, das sogar für Augenblicke die gewonnene Ruhe zerstörte:

Die Frauen und Mädchen, die klugen, aufrechten, ebenmäßigen Jonierinnen, die es so wohl verstanden, Körper und Geist, Geste und Blick zu liebebereitem und anspruchslosem Getändel zu vereinigen, gewannen in ihrer bunten Vielfalt und charitischen Zauberei, in ihrer nahen Stammesverwandtschaft Macht über die schlafenden Sinne des Weltkreisdurchwanderers. Doch er verweigerte auch diesem kleinen Versuch seines Glückstrebens, sich allzu heftig vorzudrängen, Eintritt in seine Seele und tötete die verweilende Ergötzung seiner Gedanken und Gefühle durch die Schärfe seines Verstandes, indem er sich in der Einbildungskraft vorwärts versetzte und einsah, daß nach wenigen Tagen dieses Gefühlsströmen der Heimkehr einer Gewöhnung und Ernüchterung weichen würde.

Sie näherten sich der Grenze der Stadt. Ein mächtiges Tor durchbrach die Stadtmauer und ließ sie in die Ebene hinaus, wo fern und hoheitsvoll der Tempel der Hera am Ende einer schnurgeraden Straße ragte, und in üppigen Gärten wahllos eingestreut die zauberschönen Landhäuser der reichen Bürger lagen. Bald bogen sie von der Straße ab und schritten, schon in tiefer Dämmerung, auf schmalen Pfaden zwischen weißen Mäuerchen dahin. Bis sie endlich, an aufblitzenden Lichtern vorbei, die den Landhäusern entglitzerten, das Ziel ihrer Wanderung erreichten.

Der Bruder war von der Heimkehr schon verständigt und ließ es weder an herzlicher Begrüßung, noch an äußeren Zeichen seiner Festesfreude fehlen. Gesinde und Verwandte waren versammelt, um den Gast zu empfangen, und die Töchter des Bruders, süße jonische Mädchen, küßten scheu und ehrfürchtig den stolzen Mann, der für ihr Gefühl ein Fremder und nur für ihren Verstand der Oheim war.

Pythagoras aber lächelte und wunderte sich, daß das Schicksal ihm auf diesem sonderbaren Irrwege so schnell einen flüchtigen Hauch, einen zarten verwehenden Duft hellenischer Liebeswonne zugefächelt hatte.

Dann aber schloß er den Bruder in die Arme, den mächtigen Kaufherrn, den er zum letztenmal als unmündigen Knaben gesehen hatte. Und lächelte wieder und freute sich, daß das Leben fortwirkend auch dann seinen beglückenden Weg ging, wenn dieses anmaßende Selbst, das jeder für die Voraussetzung des Geschehens hielt, sich in unerreichbaren Fernen und Fremden umhertrieb. Und ein sonderbarer Zufall wollte es, daß derselbe kindlich-eigenwillige Gedanke vom Bruder zu Worten geformt wurde:

»Den Göttern Dank!« sagte dieser heiter. »Dank ihnen allen, daß sie auch dann aus einem Manne etwas machen, wenn ich nicht wachsam dabei bin!«

Die Brüder betraten den prächtigen Raum, in dem schon die Gäste beim Symposion lagerten und den heimgekehrten Weisen mit lautem Zuruf begrüßten.

»So viele Hellenen! Nichts als Hellenen! Kein Wort fremder Zunge!« klang es wieder in den Gedanken des Pythagoras.

»Er soll Symposiarch sein!« ließ sich eine Stimme vernehmen. »Wohlan, Pythagoras, nimm deinen Platz ein und vergiß nicht, daß du unter Samiern weilst! Nichts Neues sind uns weite Fahrten zu Wasser und zu Lande! Da wir dir aber gern den Siegespreis zuerkennen wollen, möge jeder erzählen, wieviel fremde Städte er gesehen hat. Du als letzter, Pythagoras, da ich fürchte, daß sonst keiner von uns noch zur Erzählung kommt!«

Alle lachten. Pythagoras aber stimmte sogleich in den ungezwungenen Ton ein, lehnte sich auf seinen Platz und fragte:

»Fürchtest du meine Geschwätzigkeit oder die Länge meiner Reisen? Diese Frage sollst du mir ohne Schonung beantworten! Ich will dich jedoch nur darauf hinweisen, daß lange Reisen dazu angetan sind, samische Eigenschaften abzulegen.«

»Dann sind nur mehr seine Reisen zu fürchten! Im übrigen danke ich dir, Pythagoras, daß du den vorlautesten Schwätzer unsrer sonst so schweigsamen Stadt sogleich eingehend belehrtest!« lachte ein andrer. »Doch wir wollen jetzt trinken und den Mann feiern, der den Ruhm von Samos am weitesten in die Welt hinaustrug!«

Dunkler Samierwein mischte sich im ehernen Krater mit kaltem Quellwasser, und die Becher standen, bis zum Rande gefüllt, vor den Gästen.

Pythagoras aber sagte:

»Dieser Wein, gewachsen auf freien jonischen Berghängen, gereift in einer Sonne, die nur das Reine und Gute liebt, sei auf ein Hellas dargebracht, das alle Knechtschaft stolz von sich wirft! Auf ein Volk, das gierige Barbaren ebenso verjagt wie unedle Sitten und unreine Götter!«

Und er trank. Alle aber stimmten begeistert in seinen Trinkspruch ein, obwohl sie nicht ganz klar erfaßten, was er mit den unreinen Göttern meinte.

Heiter und ungetrübt nahm das Gelage seinen Fortgang. Scherzworte und packende Schilderungen weiter Reisen, Betrachtungen über Aussprüche von Dichtern und Weisen schwirrten hin und wider. Und Flötenspielerinnen und Tänzerinnen belebten die erhitzten Sinne mit schmeichelnden Tönen und geschmeidigen Rhythmen.

Schon war einigen Zechern der schwere Wein zu Kopf gestiegen. Da lallte plötzlich ein reicher Kaufmann:

»Darf ich dich fragen, Pythagoras, wozu deine ganze Weisheit dient? Ärmer, scheint mir, bist du heimgekehrt, als du auszogst. Mein Sohn darf kein Weiser werden, denn ich fürchte, daß meine Enkel sonst hungern würden.«

»Der Wein ist stark! Wozu solche Reden?« versuchte ein zweiter die Mißstimmung zu bannen, die diese ungeschlachte Frage bei Pythagoras zu erwecken drohte.

»Nein, er soll mir antworten! Ein Weiser muß antworten können, wenn man ihn fragt! Sonst ist er kein Weiser, sondern ein Tölpel!« beharrte der Trunkene starrsinnig.

Pythagoras aber lächelte, obwohl es wie leise Wehmut ihn ankroch.

»Ich bin kein Weiser!« antwortete er mit starker Stimme. »Vielleicht auch kein Tölpel. Das aber sollen andre entscheiden! Da du jedoch wissen willst, was Weisheit trägt, mag dir ein Weiser an meiner Stelle Bescheid geben: Ein Mann, vor dessen Urteil selbst du dich beugen wirst! Höre: Thales wurde einst von einem vorwitzigen Milesier gefragt, was wohl die Weisheit eintrage. Darauf schwieg er, behielt sich aber vor, der Stadt bei gegebener Zeit Auskunft zu erteilen. Nun hatte ihn – es war im Frühling – seine durchdringende Kunst instand gesetzt, mit Bestimmtheit zu wissen, daß der Sommer eine überaus reichliche Öl-Ernte bringen werde. So ging er hin und mietete, ohne einen Grund anzuführen, sämtliche Öl-Pressen in Milet und in der ganzen Umgebung. Alle Milesier, der Vorwitzige voran, der längst seiner Frage vergessen hatte, schüttelten die Köpfe und raunten, Thales sei durch lauter Sternguckerei nun vollends von Sinnen gekommen und werde zugleich mit dem Verstande noch den Rest seines Vermögens einbüßen. Denn die Summen, die er zahlte, um alle Pressen in die Hand zu bekommen, waren in Wahrheit übermäßig große. Da lag der Sommer über Milet und die Ölbäume brachen fast vor Üppigkeit. Und alles führte die Früchte zu den Pressen, um den Segen der Ernte möglichst rasch zu verwerten. Wer aber schildert die verdutzten Mienen der guten Milesier, als von Tag zu Tag der Preis des Auspressens in die Höhe schnellte? Nichts half! Anfangs wollte man Trotz bieten. Als aber die aufgestapelten Olivenladungen zu verderben drohten, mußte man sich murrend der Tyrannis der Preise beugen. Thales aber, der in jenem Sommer sein Vermögen verzehnfachte, der es dazu gebracht hatte, daß ganz Milet im Winter teureres Öl verbrauchen mußte, obwohl die Ernte so reich gewesen war, lud den Vorwitzigen und andere Milesier zu sich, gab ein prunkvolles Gastmahl und sagte: »Seht, ihr Wißbegierigen, die ihr hier um euer eigenes Geld ein herrliches Festmahl abhaltet! Seht, dazu dient die Weisheit, wenn es ihr einmal beifällt, die reine Sphäre ihrer Arbeit zu verlassen und sich auf euer Gebiet zu begeben!«

Alle lachten hellauf und jubelten Beifall.

»Euoi Bakche! Eua Thales! Heil der Weisheit!« riefen sie durcheinander.

Der trunkene Kaufmann aber ließ auch jetzt nicht nach und murrte:

»Eine sehr witzige, sehr sonderbare Geschichte! Hoffentlich wirst du nicht die Weinkeltern von Samos mieten und unsren Wein verteuern, Pythagoras! Damit du aber nicht allein das große Wort führst, werde ich dir jetzt eine andre Geschichte erzählen. Eine, bei der es dem Weisen schlechter ergeht als deinem Thales! Kennst du den Pherekydes? Was frage ich? Wie könnte ein Weitgereister ihn nicht kennen? Nun gut! Dieser Pherekydes war so weise, daß er die Götter lästerte; daß er wähnte, die Götter seines Kopfes, die Götter seiner Hirngespinste seien besser und reiner als die wahren Götter, an die alle Hellenen glauben. Nun hat ihm seine Weisheit den Lohn eingetragen! Auf Delos liegt er im Sterben, die Phthiriasis zerfrißt seine Glieder und ...« weiter kam er nicht. Denn Pythagoras war erbleicht und aufgesprungen.

»Pherekydes im Sterben? Ist es wahr?« preßte er hervor.

»Er spricht die Wahrheit!« nickte sein Bruder. »Alles Volk fabelt von der Götterstrafe. Wir wollen morgen davon reden. Laß dir nicht die Freude stören, Bruder! Ist er doch schon ein alter Mann und trägt sein Leiden, wie es einem Weisen geziemt!«

Pythagoras hatte sich zwar wieder niedergelassen und hatte versucht, seine Erregung zu meistern. Die Heiterkeit jedoch war verflogen. Nicht so sehr wegen der furchtbaren Nachricht. Denn Tod und Grauen, Krankheit und Schrecknis hatte er schon zu viel erlebt, als er in Kemi und Babel weilte. Nein, die krasse Undankbarkeit, die schmähliche Verleumdung, die nach jenem einsamen, gottbegeisterten Weisen griff und den noch Lebenden der Verachtung preisgab, war es, was ihn zutiefst empörte. Und der Krämersinn und der kindische Aberglaube der Hellenen erschreckten ihn und ließen ihn für sein eigenstes Ziel erzittern. Und er dachte der Worte des Demokedes und des Dareios und fühlte das Heranbranden der Barbaren. Und sein Volk fluchte den Weisen und fragte stets wieder nach dem Geldertrag des Urwissens?

Längst war der scheelsüchtige Kaufmann eingeschlummert, längst waren die Gäste fortgegangen. Blaues, kaltes Morgenlicht lag über den Hainen, als Pythagoras, umflort vom Dunste des Weines, stumpf vom Gelächter und ernüchtert durch Enttäuschung, mit seinen Sklaven zum Meeresstrande hinunterstieg, seine Kleider fortwarf und in den schäumenden Fluten der Brandung neues Gleichmaß seines Gemütes, neue Kraft zu Entschlüssen suchte. Da ihm nur kurze Stunden geborgener, beseligender Ruhe beschieden gewesen waren! –


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