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XVI

So war die Flucht gelungen. Pythagoras war noch in derselben Nacht auf dem Rücken eines Kameles, vermummt und eingehüllt in Decken, mit der Karawane nach Norden ausgezogen. Als aber zwei Tage später einer der persischen Anführer aus Neugier beim Inder nachgefragt hatte, bedeutete ihm dieser, Pythagoras liege in heftigem Fieber und dürfe nicht einmal sprechen, da jede Bewegung den Verlust des Augenlichtes bedeuten könne. Bald darauf ließ er ins Lager melden, daß sich der Zustand seines Pflegebefohlenen zu bessern beginne und daß Aussicht für rascheste Heilung vorhanden sei. Wieder einen Tag später bestieg der Inder sein Pferd, um der Karawane nachzueilen.

Ein günstiger Zufall wollte es, daß erst mehrere Tage nach dem Abritte des Inders wieder ein Mann aus dem Lager kam, um sich nach dem Befinden des Pythagoras zu erkundigen. Da er das Haus verschlossen fand und ihm trotz aller Bemühung kein Einlaß gewährt wurde, schöpfte er Verdacht, hielt Umfrage bei den Nachbarn und eilte, als er auch dort nichts Sicheres erfuhr, ins Lager, um seinen Führern Meldung zu erstatten.

Inzwischen war die Karawane in angespanntesten Eilmärschen mit vieltägigem Vorsprung bereits hoch im Norden angelangt. Auch der Kaufmann weilte schon längere Zeit wieder in der Mitte seiner Leute. Und man war eben im Begriffe, nach Westen auszubiegen, um die Küste des Pontos Euxeinos zu gewinnen, als plötzlich ein neues Ereignis alle Pläne zunichte machte. Scharen von Flüchtlingen kamen der Karawane entgegen. Und alle erzählten übereinstimmend, daß ein neuer, furchtbarer Einbruch der Massageten das westlich gelegene Land verheere, daß die Perser jedoch alle Pässe und Straßen besetzt hielten und daß daher an ein Durchkommen durch dieses wilde Kriegsgetümmel nicht zu denken sei.

Tiefe Niedergeschlagenheit bemächtigte sich des Pythagoras und seines Befreiers. Um so mehr, als eine Rückkehr in keiner Weise möglich war. Es blieb also nur eine Richtung offen: Der Weg nach dem Osten. Für Pythagoras eine zunehmende Entfernung von seiner Heimat! Der Inder aber tröstete ihn.

»Es ist jetzt nur mehr erforderlich,« sagte er, »jeder Gefahr auszuweichen und in Sicherheit den Zeitpunkt abzuwarten, der dich zum Ziele deines Wunsches führt. Wo aber könntest du geborgener sein als in den Gebirgen meiner Heimat? Mag ein Jahr darüber hingehen! Kürzer ohne Frage ist dieses Jahr als lebenslange Gefangenschaft; besser als Tod oder Verstümmelung!«

Pythagoras sah ein, daß er sich fügen mußte, obwohl er am guten Ende seiner wirren Wanderschaft leise zu zweifeln anhub. Es war auch keine Zeit zu verlieren, da man die Karawane wahrscheinlich schon vom Süden her verfolgte. So verließ man mitten im unwirtlichsten Felsentale den Weg und stieg ostwärts durch gewundene Schluchten über Pässe auf eine Ebene, die sich wüst und endlos vor ihnen dehnte.

Die Vermutung des Pythagoras war nur allzu begründet gewesen. Man verfolgte sie mit aller Kraft, die man aufbieten konnte. Doch war der ungeheure Vorsprung auch durch Schnelligkeit und Abkürzungswege nicht einzuholen. Um so weniger, als sich plötzlich jede Spur der Verfolgten verwischte und die Perser mit streifenden Massageten in ein Gefecht gerieten, so daß sie ohne irgendein Wissen vom Wege, den Pythagoras genommen hatte, unverrichteter Dinge umkehren mußten.

Die Karawane aber durchzog die weite Steppe, auf der nur stachlichtes Gras und Aloen wuchsen, wo Salzkrusten schimmerten und gefleckte Schildkröten träge umherkrochen. Und nach den Steppen kamen Flußtäler und Wälder und Berge und dann ging es durch Sandwüsten und Buschwerk und über Hügelland. Stets nach Osten.

Unzählige Tage dauerte schon der Marsch, himmelragende, eisbedeckte Spitzen gleißten manchmal an klaren Tagen in unwahrscheinlicher Höhe; Regenschauer gingen nieder, Wüstenstürme heulten; und noch war kein Ende des Marsches abzusehen.

In diese Zeit fiel ein sonderbares Begebnis, das auf Pythagoras einen nachhaltigen Eindruck übte. Irgendwoher hatten sich eines Tages der Karawane mehrere indische Brachmanen angeschlossen, die schweigsam in ihren gelben Kutten neben den Kamelen einherschritten und ihre Gebete und Hymnen murmelten. Eines Tages aber, auf einem Hügel, hatten sie Altäre für das Soma-Opfer aufgestellt. Sinnend sah ihnen Pythagoras zu, wie sie zuerst die West-Ost-Linie mit der Schnur absteckten und hierauf darangingen, die drei Feuerstellen auszumessen. Quadratisch die erste, kreisförmig und halbkreisförmig die beiden anderen. Inmitten des Opferfeuers, des Hausfeuers und des Südfeuers aber – so hießen die drei Altäre – stellten sie die Vedi, die Opferbank, auf. Und sie mühten sich, die Altäre scharfkantig zu machen und die Winkel richtig zu bestimmen. Pythagoras entsann sich plötzlich, als er sie so mit der Schnur die rechten Winkel erzeugen sah, der Tempelgründung zu Memphis. Doch nur kurze Zeit weilte er in der Vergangenheit. Denn ein jäher Schreck riß ihn in die Gegenwart zurück. Was taten die Brachmanen? Was war das für ein langgezogenes Dreieck, das die Schnur umschloß? Und das trotzdem genau den rechten Winkel bildete?

»Was tut ihr? Was für Längen haben eure Schnurteile?« rief er in höchster Erregung.

»Nimm sechsunddreißig und fünfzehn und neununddreißig Padas, sagt das Sulvasutram!« antwortete freundlich ein Brachmane. »Oder fünfzehn, acht und siebzehn oder sieben, vierundzwanzig und fünfundzwanzig oder zwölf, fünfunddreißig und siebenunddreißig Padas und du erhältst den rechten Winkel!« Dann spannten sie weiter die Schnüre.

»Sind das alle möglichen Fälle?« fragte Pythagoras fiebernd weiter.

Da lächelte der Brachmane.

»Alle Fälle willst du wissen?« sagte er kopfschüttelnd. »Wer hat sie gezählt? Sind sie überhaupt zählbar? Nützt dir das Wissen um alle Möglichkeiten mehr als die Regel, die dir das Sulvasutram gibt? Vielleicht sind noch hunderttausend mal hunderttausend Arten, den rechten Winkel zu schlagen! Wir aber haben darüber nicht nachgedacht und können dir daher nichts weiter künden!«

Pythagoras grübelte die ganze Nacht und erwog das Gehörte nach allen Richtungen. Und er verglich die Zahlen, die sich seinem Gedächtnisse fest und tief eingeprägt hatten, mit dem ihm geläufigen Verhältnisse der Seiten drei, vier und fünf. Er fand jedoch keinerlei Zusammenhänge. Wie aus verschiedenen Welten schienen ihm die einzelnen Zahlenfolgen herzurühren, entdeckt durch Erleuchtung und Wunder. Und doch – und dieser Gedanke marterte seinen ordnenden Hellenengeist bis zur Erschöpfung – und doch mußte eine Verwandtschaft, eine Regel bestehen, nach der es gelingen könnte, den ganzen Kosmos dieser Zahlengruppen zu umfassen und beliebig zu erzeugen. Erst, als sich im Morgengrauen seine Einbildungskraft mit bunten Fratzen tanzender Dreiecksfiguren und wirren Zahlen füllte, schlief er ein. –

*

Je weiter die Karawane nach Osten vorrückte, desto veränderter und fremdartiger wurde das Land. Viele Tage ging es schon bergan. Vorberge tauchten auf, sanfte Hänge, mit dichten Wäldern bedeckt, neigten sich abwärts. Und in den dampfenden Pflanzenmassen schossen breite Flüsse zu Tal und alles strotzte. Dann wurden die Waldungen lichter, die Berge höher. Und von kahlen Kuppen sahen sie jetzt oft Reihe vor Reihe, Kette vor Kette, schwindend am Horizonte in den abgestuften Tönungen heller werdenden Dunstes.

Sie kletterten über Pässe empor, zogen an schwindelhohen Talflanken, auf deren Sohle, tief unten, die unvorstellbaren Strudel und Katarakte tosender Ströme ihren weißen Gischt an querliegende Felsblöcke schleuderten und sich an moosbewachsenen Klippen emporbäumten. Um dann endlich, ungeduldig und unaufhaltsam, in steil geneigten, grünlich schimmernden, glatten Schnellen zwischen den Blöcken hinabzustoßen.

Schon wehte die Luft kühl. Und wenn sich die Wolkenfetzen des Horizonts hoben, stand plötzlich, greifbar nahe, die endlos lange Kette der ragenden Schneeberge vor ihnen, deren grelles Weiß sich am dunkelblauen Himmel in weichen Falten zahnte.

Dann aber stiegen, unmittelbar vor ihnen, die kahlen Vorberge so hoch an, daß die Kette des Eises versank. Und wieder mußten sie auf schwindelnden Saumpfaden über Paßsättel hinan, bis die nordseitigen Talwände schon mit grauweißen rundlichen Schneeflecken gesprenkelt waren und der nackte feuchte Fels allenthalben schwärzlich und gelb und rot zutage lag.

Überall aber behauptete sich das Leben: Herden gab es und Hirten; Dörfer und Einsiedeleien klebten, vom Felsen kaum zu unterscheiden, wie Vogelnester in den Wänden und auf den Schroffen; Seilbrücken überquerten in waghalsiger Höhe die Wasserfälle; und Pilger begegneten ihnen auf den schmalsten Pfaden, die sie schritten.

Und als endlich, in einem der Hochtäler, das Ziel der Karawane erreicht war, da kam dieses Lebendige von allen Seiten an sie heran. Den Geist des Pythagoras umschwirrte mondelang eine Welt, die so fremd, so neu war, daß er nur langsam ihre ungeheure Größe umfassen konnte. Und mitten in diesen Felsenwüsten, in denen die losgelösten Steinblöcke in die Katarakte hinabdonnerten; mitten zwischen Schneestürmen, denen heiße sonnenblendende Tage folgten; im Anblicke naher Eishänge, an deren Flanken der Pulverschnee wie Wolken zum Himmel stob und in den Sonnenstrahlen verrauchte, erstand ein andrer Kosmos vor ihm, tönten Hymnen, zogen Büßer, sannen Weise, unterredeten sich Brachmanen. Und sie brachten Kunde herauf in die kalten Berge von den Dickichten und Fluren des Fünfstromlandes, von den Blüten, die farbiger blühen und wonnevoller duften als sonst irgendwo auf dem Erdkreise. Und sie erzählten von Meeren und Schlangen, Elefanten und reißenden Tigern, von goldstrotzenden Palästen, von marmornen Tempeln und Gärten mit Kaskaden, Teichen und Springbrunnen. Und von Mangobäumen und heiligen Hainen, in denen die Büßer hausten und Wunder in der Abtötung des Fleisches vollbrachten. Dann wieder tiefe Weisheit, undurchdringliche Gedankenketten, Betrachtung und Wissenserweiterung.

Pythagoras, der bisher die Form, den Rhythmos jedes Volkes erfaßt hatte, wollte auch hier die gegensätzliche Weite dieses indischen Geistes umgreifen. Doch er scheiterte in seinem Drange. Denn zu nebelhaft, zu riesengroß war die Seele dieser Menschen. Und ausschweifend nach allen Seiten ins Unendliche. Und er erkannte, daß alles hier Ahnung war, tiefe, unaussprechliche Ahnung und daß selbst schärfste Regel, klarster Anfang sich in den Fernen verfliehender Ausblicke ins Unergründliche verlor. Und daß dieses Volk aus dem Gemüte heraus die Welt baute.

So lauschte er und zwang seinem Willen die Stimmung des Empfangenden, des untätig Aufnehmenden ab, um teilhaftig werden zu können letzten Wissens über das Wesen des Seins und der Urgötter: Er versank mit den Weisen im Atman-Brahman, im All-Einen, in der grenzenfremden Weltseele. Er erfuhr von Zahlen, so groß, daß sie der Mensch nicht begreifen kann. So hörte er die Geschichte vom Bhodisattva, der jetzt schon ein Buddha war, wie er einst um Gopa, die Tochter des Dandapani, gefreit hatte. Und wie ihm, dem vollkommen Weisen, die Aufgabe gestellt wurde, zu sagen, aus wieviel Ur-Teilchen wohl die Länge eines Yojana-Maßes bestehe. Und wie er geantwortet hatte:

Sieben Ur-Teilchen seien ein sehr feines Stäubchen, davon sieben ein feines Stäubchen, davon sieben ein vom Winde aufgewirbeltes Stäubchen. Weiter aber seien sieben solche ein Stäubchen auf der Fußspur des Hasen, sieben davon ein Körnchen auf der Fußspur des Widders, sieben davon ein Staubteil auf der Spur des Stieres. Sieben solche Stäubchen gäben einen Mohnsamen, sieben Mohnkörner einen Senfsamen, sieben davon ein Gerstenkorn. Und aus sieben Gerstenkörnern setze sich ein Fingergelenk zusammen, zwölf Gelenke seien eine Spanne, zwei Spannen die Elle; und vier Ellen halte der Bogen, tausend Bogen das Krosa, und vier Krosas endlich das Yojana-Maß. Die Zahl aber sei daher größer als hunderttausend mal hunderttausend, hundertachtmal genommen.

Und wie diese Zahl des Bhodisattva schwamm alles andre am Rande des Unendlichen, um im Wesen zur Einheit zurückzukehren und als Schluß zu ergeben, daß die ganze Welt der Sinne eine Täuschung sei, ein Blendwerk, ein Schein. Maya ist die ganze Welt, Maya, der große Trug!

Und alles muß wieder und wieder sterben, wieder und wieder geboren werden, um sich vom großen Blendnis langsam zu befreien; bis hinan zum Nirvana, von dem niemand fragen darf, ob es ein Sein oder ein Nichtsein ist.

Und den Wiedergeborenen, der jetzt noch verdammt ist, vom Maya umschleiert zu leben, nehmen das Wissen und die Werke vormaliger Geburten bei der Hand und seine frühere Erfahrung. Wie eine schlingende Raupe, nachdem sie zur Spitze des Blattes gelangt ist, einen anderen Anfang ergreift und sich selbst hinüberzieht, so auch die Seele, nachdem sie den Leib abgeschüttelt und das Nichtwissen des Maya losgelassen hat. So ergreift die Seele einen anderen Anfang und zieht sich selbst dazu hinüber. Und wie ein Goldschmied von einem Bildwerke den Stoff nimmt und daraus eine andere, neuere, schönere Gestalt hämmert, so auch diese Seele, nachdem sie den Leib abgeschüttelt und das Nichtwissen losgelassen hat. So schafft sie sich eine andere, neuere, schönere Gestalt, sei es die der Väter oder der Gandharven oder der Götter oder des Prajapati oder des Brahman oder andrer Wesen. Je nachdem einer nun besteht aus diesem oder jenem, je nachdem er handelt oder wandelt, danach wird er wiedergeboren: Wer Gutes tat, wird als Guter geboren, wer Böses tat, wird als Böser geboren; heilig wird er im Fortgange der Wiedergeburt durch heiliges Werk, böse durch böses! Der Mensch ist ganz und gar gebildet aus Begierde; je nachdem seine Begierde ist, danach ist seine Einsicht, je nachdem seine Einsicht, danach tut er das Werk, je nachdem er das Werk tut, danach ergeht es ihm im Laufe der Geburten!

Das letzte Geheimnis des indischen Mysteriums aber enthüllte sich für Pythagoras, als er den herrlichen Schöpfungshymnos des Rigveda erfuhr, den Hymnos der Schöpfung, der nicht sinnlich, äußerlich den Kosmos aufbaut, sondern ihn entspringen läßt aus der Tiefe des Herzens, des wissenden, geläuterten, ans Ziel gelangten Gemütes. Und so das All-Eine in der Brust des Menschen versammelt. Die Ur-Teile dieser Einheit jedoch aufdeckt: Selbstsetzung, den Urgrund, das Wesen der Dinge; und die Angespanntheit, ihre Erscheinung, das trügerische Maya. Alles, alles innerhalb der Seele, außerhalb ihrer nichts als Schein.

Und so ward diese tiefstgründige aller Welten. Und der Rigveda kündete von ihrem Werden:

Nicht war ein Nichtsein irgendwo, doch auch kein Sein war damals noch;
der Luftraum fehlte überall, der Himmelsraum, der jenseits liegt.
Was hüllte dieses All nur ein? In wessen Obhut ruhte es?
Wo war des Weltgewässers Strom? Der Abgrund, der die Tiefe birgt?
Nicht Tod war damals in der Welt, auch nicht des Todes Gegenteil.
Die Nacht mit ihrem Sternenglanz gebar noch nicht die Tagespracht.
Das Eine vielmehr atmete, hauchlos, nur durch sich selbst gesetzt.
Denn andres Dasein gab's ja nicht, sei's dieser oder jener Art!
In diesem selbstgesetzten All war nur die tiefe Finsternis
und, von der Finsternis umhüllt, ein Wogen ohne Ziel und Licht;
doch barg die dunkle Hülse schon die Lebenskraft in ihrem Schoß
und jenes Eine wurde nun geboren durch die Glutenpein.
Da ward aus diesem Weltbeginn Urwillens erster Samenkeim
und Liebe kam jetzt in das All, die dieser heil'ge Same war.
Wie aber Sein im Nochnichtsein geheimnisvoll verwurzelt ist,
das fand in unsres Herzens Grund, tief forschend, frommer Weiser Schar.
Und ihre Meßschnur spannten sie quer durch des Weltenkeims Bereich.
Was war da unten in dem Sein? Was oben, da es Keim nur war?
Des Werdens Träger sahen sie, der Kräfte zagen Urbeginn.
Selbstsetzung, die da unten lag, und Angespanntheit oberhalb.
Doch wer soll diesem Urbeginn, als alles umgeschaffen ward,
in klaren Worten Ausdruck leih'n? Selbst Göttern ist es ja versagt,
da diesseits von der Schöpfungstat ihr erster Ursprung Dasein ward!
Wenn Göttern also Willen fehlt, wem sollt' es sonst zu eigen sein?
Er aber, von dem, machterfüllt, die Schöpfung einst geworden ist,
gleichgültig ob er sie erzeugt, ob sie auch nicht Erzeugung war,
er, der vom höchsten Himmelsraum das Weltgetriebe überschaut,
der weiß des letzten Rätsels Grund! – Doch weiß auch er ihn etwa nicht?

Pythagoras aber wußte plötzlich, daß sein Geschick, das Geschick, rufend auf den Höhen des Berges Karmel, erfüllt war! Vollendet lag das Wissen um die Urgötter vor ihm, gespiegelt in den vielfältigen andersgearteten Seelen von vier uralten Völkern. Und die letzte Stufe des Wissens hatte ihn dort hingeleitet, wo sich der Ring der Erkenntnis schließt und aus dem Allwissen leise wieder Nichtwissen wird.

Da sah er, körperhaft und unerbittlich, die Weiten vor sich, die ihn von seinem hellenischen Heimatstrande trennten. Und er wollte verzagen, jetzt, am Ziele, jetzt, da er wollend und getrieben, tätig und erleidend, den Gipfel dessen gewonnen hatte, was der Befehl seines Daimons gewesen war.

Da plötzlich sank Raum, Zeit, Weite und Gefahr vor ihm zurück. Seine Seele begann in unnennbar mächtigen Gesichten das All zu umfassen, es zu umschließen. Und als die Zeit zerbrach, stieg er rückwärts hinab in die Folge der Wiedergeburten und erlebte sich schaudernd und wonnevoll als Euphorbos, als Pyrander. Und weiter riß es ihn zurück vor die Zeiten des Krieges um Ilion. Düsterer und wilder, fleischlicher und tiernäher wurden die Vorleben, in die er zurücksank. Bis in den Urzeiten der Götter und Heroen plötzlich Hermes vor ihm stand. Hermes, der hellenische Gott, der auch Thot war, der ägyptische dreimal größte, und dessen Sohn er war. Er, jener rätselhafte Erste, jene erste Geburt seines irdischen Leibes.

Sein Körper fieberte unter den wilden Schauern der Zeitzersprengung, der hemmungslosen Rückschau. Und sein Geist wollte das Rätsel umfassen. Da tönte leise, traumhaft, wie durch Nebel jener letzte Vers des Schöpfungsmythos in seinem Gemüte; jener Vers vom größten, vom unbekannten Gotte,

der weiß des letzten Rätsels Grund! –
Doch weiß auch er ihn etwa nicht?

Sieghaft aber zerrissen plötzlich die Nebel stummer, duldender, allweiser Wissensentsagung. Und hoch stand der Spruch des Weißen Yajurveda oberhalb der Schneeberge Indiens, der heilige, allsiegende Spruch:

Wenn alle Wesen du in dir; und dich in allen Wesen siehst,
dann hast Allwissen du erreicht, dann ist dir nichts mehr ungewiß!


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