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II

Nach dem kalten Schäumen der unerbittlichen See, nach dem Tosen des Sturmes, nach der Gier entfesselter Menschen, nach Schicksalszweifeln und wildem Gottsuchen plötzlich unfaßbare Ruhe, Glätte, Entrücktheit!

In welcher Region des Alls war dieser Wechsel der Dinge geboren?

War es der strahlende blaue Himmel, die satte Sonne, die alles ringsum in scharfe Sicht rückte?

Eintönig tauchten die Ruder der Kyprioten in die lauen Wasser des Nilarmes und kräuselten sie kaum, während das Schiff unmerklich stromauf rückte; schlaff hing das Segel, bis ein Mann das Ruder verließ, die Taue löste und die bauschige Leinwand aufs Verdeck herabholte.

Eine Art Thron hatten die Schiffsknechte auf dem Vorschiff errichtet, damit er, den sie verehrten, seitdem er sie bezwungen hatte, in ungehemmter Schau das Wunder des heiligen Landes Kemi erleben könne; des Landes, das die Hellenen Ägypten nannten.

So saß der Jüngling und konnte nicht fassen, warum plötzlich soviel Ruhe, Glätte und Entrücktheit um ihn war. Und er nahm die Bilder in sich auf, verwob sie mit bereits Gesehenem, suchte in der Erinnerung: Von Herzschlag zu Herzschlag wurde das Rätsel größer und die Umwelt bunter.

Schlammbraun und grünlich und hellblau der Fluß. An den Ufern Schilf und dichte Papyrosstauden; verwirrt und verheddert und jeden Ausblick hemmend. Dann wieder niedere Ufer, über die man hinaussah in die Grenzenlosigkeit der Delta-Ebenen. Manchmal sogar schien der Lauf des Flusses höher zu stehen als die Weiten, die sich nach rechts und links erstreckten. Da dehnten sich stundenweite Felder, auf denen mannshohe Halme zitterten und die riesigen Ähren strotzend neigten. Grelle Weiden, deren Gras fast das gesprenkelte Vieh verbarg, das sich in unübersehbaren Herden zwischen den breiten Gräsern seinen Weg bahnte. Plätschernde Schöpfräder, niedere Hütten, weite Gemüsegärten.

Wieder andere Bilder: Dichte Ölbäume auf beiden Seiten des Flußarmes; Sandbänke, auf denen träge Krokodile mit aufgesperrten Rachen schliefen. Muntere Regenpfeifer, die in den Rachen der furchtbaren Panzerechsen hüpften und die Stechfliegen aus ihrem Zahnfleisch pickten.

Dann unwahrscheinlich weite Flächen voll von Blumen, daß die betäubenden Aromen über das Wasser strichen und den Atem beengten.

Und schließlich das heilige Reich selbst, die eigensten Werke seines Volkes und seiner Kraft: Steinerne abgeböschte Ufer, daß sich die süßen, blühenden Perseabäume in den glatten Gewässern spiegelten. Schleusen aus gewaltigen Quadern, auf denen die Bedienungsmänner standen, um das unterbrechungslose Gewimmel, den scheinbar unendlichen Zug tiefbeladener Barken durchzulassen und in das Wirrsal der schnurgeraden, sauberen Kanäle zu leiten. Jetzt eben, zu linker Hand, hohe Speicher, riesenhafte Schleusen, ein breites Fahrwasser, nach Aufgang von Masten bedeckt, soweit das Auge reichte: der große Kanal, hinüber zum anderen Meere!

Und alle Gebäude, die, aufs neue stets, aus den übersatten Hainen lugten; die zwischen gefiederten Palmen und blühenden Bäumen durchschimmerten? Warum ergriffen sie das Gemüt so sonderbar? Grau waren sie, poliert und spiegelnd; rötlich gleißten andere und tiefschwarz und gelb und braun. Und überall leuchteten aus der unfaßbaren Härte und Schärfe der Flächen die heiligen Bilder und Zeichen in Blau und Weiß, in Gelb und Rot und Grün; und schlossen sich mit den Kanten und Kapitalen, Pylonen und Monolithen, Obelisken und Sphinxen zur Einheit zusammen.

»Kosmos! Heilige Ordnung! Weltgefüge geschlossenster Wesenheit!« Das war die erste Erkenntnis, die Pythagoras gewann. Und diese Erkenntnis verschmolz ihm die ersten Eindrücke, die erste einzelhafte Schau von Tempeln und Speichern, Schleusen und Kanälen, Schiffen und Kasernen, Hornsignalen und übenden Kriegsvölkern, Wachen und Zollbeamten, Herden und Schöpfwerken zu einem Ganzen, zu der Ruhe, die er gefühlt hatte, ohne daß er sich hätte klarmachen können, woher sie stammte. Und so flog sein Wissen, seine Ahnung Tausende von Stadien weiter und er erblickte vor sich das ganze ungeheure Land, gelenkt von den rhythmischen Atemzügen äonenalter Ordnung.

Eine goldschimmernde Barke, schlank und geschmeidig, schoß am Schiffe der Kyprioten vorbei. Auch hier wieder dieselben Maße, dieselben Kanten und Verschneidungen, dieselben hieroglyphischen Zieraten. Und der Takt der lange durchgezogenen Ruderschläge, das gleitende Vorwärtsjagen des traumhaft prächtigen Bootes, die von Edelsteinen und Glasur funkelnden Thronsessel, auf denen hieroglyphengleich die Eigentümer des Reichtumes saßen und mit ihren dunklen Augen ruhig vor sich hinsahen, all das war Einheit: Eins mit der Landschaft, in der jetzt aufgescheuchte Pelikane und Reiher, Marabus und Ibisse flatterten, eins mit dem Strome, in dem eine Schildkröte sich wirbelnd kollerte – und eins mit den Ahnungen, die in Pythagoras dämmerten; mit den Ahnungen vom Geiste und den Göttern dieses Volkes.

Das Gewimmel der Schiffe wurde dichter. Mächtige Dämme begleiteten den Strom, der sich mit den anderen Mündungsarmen des Deltas vereinigte und in ungeheurer Breite dahinströmte. Landungsplätze und Zufahrtstraßen; Molenköpfe, an denen Barken, mit Steinblöcken beladen, vertäut lagen; das Hämmern von Steinmetzen; das Getrappel langer Kamelkarawanen, die weißbestaubt von den Natron-Seen kamen; das Vorbeiziehen eines Regimentes, das in Kähnen den Fluß übersetzte; schnelle Kriegswagen, die den Dämmen entlang rasten: alles deutete darauf hin, daß sich die Fahrt einem Mittelpunkte des Geschehens näherte.

Noch eine kurze Unterbrechung: Plötzlich standen, unwahrscheinlich groß und erhaben, bunt und geschlossen, die Tempel von Heliopolis zu linker Hand. Und ehrfürchtig schwieg an diesem Ufer auf lange Strecken das hastige Treiben, gleichsam, um die Stadt der Priester, das heilige Anu, in seinem gottnahen Treiben und Forschen nicht zu stören.

Versunken in die Majestät des Anblicks, gebannt auch hier wieder vom hehren Rhythmos der Formen, hatte Pythagoras für lange Zeit seine Augen auf dieses Wunder gerichtet, bis ihn endlich die stets zunehmende Mannigfaltigkeit des Getriebes und Geräusches erweckte.

Er sah vor sich hin, sein Herz stockte und seine Pulse huben an zu tosen:

Memphis! Memphis, die Stadt des Sonnensohnes, des Freundes der Wahrheit, des erhabenen Königs mit der rotweißen Doppelkrone; des Herrn im unaussprechlichen Kosmos dieses ältesten Landes.

Und er sah, duftig, zart und ferne, die beiden Randgebirge schimmern, sah die weiten Massen der Häuser und die ragende Burg mit den Palästen und Tempeln, sah die hochgemauerten Uferböschungen, die Haine und Heerstraßen, und sah am Untergangshorizonte, am Fuße der Gebirge, in glänzendem Glaste die unausdenkbare Reihe der Pyramiden.

Seine Gedanken und Gefühle begannen dithyrambisch zu rasen. Er rang nach Ausdruck. Eine leise, sonderbare Melodie hub an in ihm zu wogen, die das Klingen des Sistrums in vorbeigleitenden Lustbarken ausgelöst hatte. Was war das alles? Was suchte er? Was würde er finden? Sollte er umkehren, fliehen? Enteilen in die Schneeberge und Steppen der mitternächtlichen Zonen?

Was war diese Melodie? Was wollte sie ihm künden?

Näher rückte das Gewirr der Paläste, Tempel und Häuser. Und wieder sah er, wie alles dalag. Nicht nur das Einzelne, das ihm seine bisherige Fahrt gewiesen hatte, auch das Gehäufte, die Masse, trug das gleiche Kennzeichen.

War aber nicht auch Einheit und Ruhe über den Kunstwerken von Milet, der schimmernden Stadt mit den drei Häfen? Über den Prachtbauten von Ephesos, von Tyros, von Sidon? Über den Tempeln und Palästen seiner Vaterstadt Samos?

Was war es, das ihn hier sosehr ergriff und seinen Atem stocken machte?

Lauter und rauschender summte die Melodie in ihm.

»Unbekannter Gott dieses Weltalls, leihe mir für einen Herzschlag den letzten Ausläufer deiner jenseitigen Weisheit!« betete es fiebernd in seinem Herzen.

Nahe stand Memphis vor ihm, hell schimmerte der Riesentempel Ptahs, des heiligen Weltbildners.

Da fiel ein kleiner Funke in das Herz des Pythagoras und eine fremde Stimme flüsterte ihm fremde Worte zu, fremder und unverständlicher als die Hieroglyphen.

Doch er verstand sie; nur für einen Herzschlag zwar, nur nebelhaft und kaum geboren; doch er verstand sie.

Und er sah plötzlich, daß die schimmernden Werke der Hellenen dem Augenblicke dienten, der unwiederbringlichen Gegenwart, der Lust am Jetzt. Was aber hier um ihn emporstieg, diese glatten, schwindelhohen Flächen polierten Granites, diese ernsten Weiser längst versunkener Geschlechter, ruhte in anderen Zeitmaßen. Und ruhte daher in einem anderen Sinne, wuchtiger und endgültiger als der Kosmos der Hellenen. Hier stand alles für die Zukunft: Ewigkeit stand hier für die Ewigkeit! Für die Zeiten, die nie enden sollten für das heilige Kemi. Ein Volk wollte die Zeit überwinden und erst ruhen, wenn es sie besiegt hatte. Nicht wie die Hellenen, die Zeit verneinen und im Augenblicke ruhen.

Und noch etwas hörte er, als wieder die Melodie in ihm erklang: Er erfaßte das innerste Wesen der Harmonie und sah an den Bauwerken Kemis, daß der letzte Grund dieser Harmonie die Zahl sei. Nicht aber die Zahl im gewöhnlichen, schalen Sinne des Wortes, nein, im geläuterten Verstande des Verhältnisses, der Beziehung von Größen und Gestalten.

Doch das Brausen der ungeheuren Stadt erweckte den Jüngling aus seinem Traume.

Und zwischen dem Gewirre der Barken suchte das Schiff der Kyprioten den Weg zu den Landungsplätzen von Memphis. – –


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