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Als Pythagoras mit seinen Sklaven auf der heiligen Straße nordwärts wanderte und die Erlebnisse und Gesichte Delphis in all der Schärfe erster rückschauender Erinnerung vor ihm aufstiegen und erst jetzt so recht Sinn und Zusammenhang erhielten, da überkam ihn mit unwiderlegbarer Deutlichkeit die Ahnung, daß die Zeit des Umherirrens, die stets wieder angebrochene Forderung des Suchens und Planens sich ihrem Ende zuneige. Und er betrachtete fast munter die Wildheit der Gebirgstäler und das Düstern des Wintermorgens.
Erst am Ziele der Wanderung, in den Schluchten Thrakiens, begann er an der Richtigkeit seiner Ahnungen zu zweifeln; denn eine neue Welt umfing ihn. Und neue Gedankenkreise stürmten auf ihn ein, die ihn mächtig ergriffen.
Vor allem anderen war es die ungeheure Persönlichkeit des orphischen Weihepriesters Aglaophamos, die für ihn die Erkenntnis jenes düsteren Mysterienglaubens zur Einheit schloß, jener zweiten Götterlehre, die geheimnisvoll sich körperlich am Fuße des irdischen, des lichten und heiteren Olympos heraufrankte.
Je mehr ihn jedoch Aglaophamos in die innersten Tiefen der Orphika einweihte, desto erstaunter sah der lernbegierige Schüler, daß er hier nur dunkle, ins griechische Denken übertragene Reste des ägyptischen Osiriskultes vor sich hatte. Und der freudige Gedanke erfüllte ihn mit frommen Schauern, daß es ihm auf diese Art leicht gelingen müßte, zwischen seinem Urgötterwissen und der dumpfen Sehnsucht hellenischen Mysteriendranges eine schimmernde Brücke zu schlagen.
So verflossen die Monate schnell, und der Frühling, der in diesen Zonen das Fest der trieterischen Dionysien brachte, leuchtete in schwärzlicher Bläue und Klarheit über die bukolischen Matten, die sich in grellstem Grün von der dunklen Pracht feuchter, ragender Felsschroffen abhoben. Dazwischen aber rauschten die Gebirgsbäche übermütig zu Tal und die Fluren, auf denen Herden auszogen und Hirten die Syrinx bliesen, sprenkelten sich mit weißen, gelben und rosenfarbenen Blumen und Dolden.
Um so unbegreiflicher war es dem Pythagoras, als ihm Aglaophamos enthüllte, daß hier, inmitten dieser milden, Frieden atmenden Bergesstille, in abgelegenen Seitentälern der Dienst des Dionysos noch ab und zu Anlaß zu grausigen Menschenopfern gebe; obwohl eine Erinnerung an das Treiben der Thyiaden die Glaubwürdigkeit der Priesterworte außer Zweifel stellte.
Die letzte Bestätigung aber erfuhr er durch das Fest selbst. Jetzt auch verstand er erst die ganze Sage des Dionysos.
Und er sah, wie in der Weihenacht die ungeheure Schar der Bakchen, die aus allen Gegenden zusammengeströmt war, über die Berghalden raste, nachdem sie das Hirschfell umgehängt und ihre Antlitze zur Sühnung mit Ton und Kleie bestrichen hatte. Männer und Frauen feierten hier das Fest und zeigten durch die Verunreinigung des Angesichtes den befleckten Zustand der eigenen Seele.
Das Rasen aber bedeutete die Verfolgung des Dionysos und das Hirschfell versinnbildlichte die wilden Titanen, die es auf das Leben des lichtesten Gottes abgesehen hatten. Und sie fanden ihn und zerrissen den Unglücklichen in Gestalt des Opferstieres. Dann jedoch, als das rohe Fleisch noch in ihren Händen zuckte, verwandelten sich die tollen Titanen in das Gefolge des Gottes zurück, und die furchtbare Totenklage gellte durch die Berge. Bis endlich der letzte Rest der Unreinheit durch Gebet und Räucherung gebannt war und die Bakchanten entsühnt ihr: »Ich entrann dem Übel und fand das Bessere!« ausriefen. Noch aber lag kein Jubel in ihrer Stimme, noch schienen sie nicht zu wissen, ob das Schicksal ihres Gottes endgültiger Tod sein werde. Und in Fieberträumen schliefen sie ein und all der Lärm und das aufgepeitschte Blut toste durch ihr Hirn, daß sie aus dem Schlummer schreckten und wild nach den Gefährten griffen; bis sie an der bebenden Brust der Leidensgenossen das Torkeln der Sinne gekühlt hatten.
Der Tag aber brachte atemraubende Verwandlung:
Im Strahle freudigster Sonne brausten die Festzüge dahin, um den wiedererstandenen Toten zu feiern, der in der Unterwelt den Tod überwunden hatte und nun dort als Herrscher leben würde bis ans Ende.
Während aber die geweihten Bakchen mit den Kränzen aus Weißpappel und Fenchel in der Mitte aller Züge einherschritten und jubelnd ihr: »Hyes Attes! Attes Hyes!« hinausgellten und in ausgelassener Freude tanzten, brüllte das zusammengeströmte Volk: »Euoi saboi! Eua Bakche!« und schwenkte die Narthekenund die Kistoszweige. Einige der Bakchen taten es allen zuvor und hielten mit hartem Griffe dickbackige Schlangen über den Häuptern, die sich schwarz und bedrohlich ringelten. Und wieder jauchzte das Volk und beschenkte die Geweihten mit leckeren Kuchen und weißem Brote. –
Pythagoras aber blieb noch einige Zeit bei Aglaophamos. Dann wanderte er durch das Tempe-Tal hinab zum Meere, fuhr mit einem Schiffe nach Imbros und Samothrake und langte eben ein, als diese Inseln der heilige Lärm der Trieterien durchbrauste.
Dann kehrte er zum dritten Male, diesmal aus mitternächtiger Richtung, in seine Vaterstadt Samos zurück und wähnte, als er den Fuß auf das heimatliche Eiland setzte, daß die Zeit seiner Fahrten jetzt beschlossen hinter ihm liege. –
*
Auf einer Stufe des Bergfußes, außerhalb der Stadt Samos, lag südwärts gerichtet ein kleines Grundstück. Garten war es, Hain und Matte zugleich. An klaren Tagen sah man von seiner Höhe hinaus aufs Inselmeer, wo zackig und blau sich die Massen der Inseln und des Festlandes zähnten. Manchmal auch schimmerte klein und verrauchend ein Abglanz Milets herüber.
Licht ragten, voneinander weit abstehend, die niederen Ölbäume, die trotzdem mit breiten Kronen einigen Schatten spendeten; obwohl sich allenthalben zwischen ihrem dolchschmalen Laube die Sonnenstrahlen hindurchzwängten und den Boden, das glatte, harte Gras, mit unzählbaren Kringeln sprenkelten. Einsam, wie ein Wächter, hob sich der düstere Nadelturm einer Zypresse über die Wipfel der Oliven, und Feigenbäume spreizten, derb und geschwollen, die Handflächen ihrer saftiggrünen Blätter und die helle Üppigkeit der feuchten Stengel.
Den Rand des Grundstückes aber bildete ein wahllos gegliederter Steinwurf, über dessen verwitterte Blöcke grünschillernde Eidechsen huschten und sich in der Mittagsglut wie lauschend auf ihren allzukurzen Vorderfüßchen emporrichteten und mit gehobenem Köpflein erstaunt in die Welt blickten. Wurde ihnen aber ein Geräusch, das Rollen eines Steines, der Schritt eines Menschen oder Tieres verdächtig, dann sperrten sie wohl in einem wilden Mute bedrohlich den winzigen Rachen auf, um schließlich, befriedigt von ihrem Angriffsgeist, sich blitzschnell umzuwenden und irgendwo unter die dichten Brombeersträuche zu entwischen, die überall zwischen den Steinen sproßten.
Im Hintergrunde dieses verwilderten Gartens, weit hinter den Taxussträuchern und hinter der Quelle, die hier aus der Erde in kugeligem Schwalle empormurmelte und als dünner Faden den Rasen querte, stieg der Berghang in neuer Stufe steil an. Hier lag sogar ein Stück kahlen Gesteins zutage. Mitten in diesem Felssturz aber öffnete sich in hoher Rundung eine seichte Grotte, deren Bewohnbarkeit durch menschliche Arbeit ausgestaltet war; so daß sie gegen die gewöhnlichen Wechselfälle sommerlicher und herbstlicher Witterung hinlänglich Schutz bot.
Hundegebell, rauschendes Branden des Inselmeeres und verwehende Schäferlieder umschwebten, aus weiten Fernen klingend, die Nymphenruhe des Haines.
Pythagoras aber blickte still hinaus und nur dann kehrte sich der Strahl seines Auges nach außen, wenn er mit leiser Stimme, wie um die Entrücktheit seiner Gesichte festzuhalten, dem Sklaven Zamolxis Worte und Sätze zuflüsterte, die dieser behende und mit unerschöpflicher Geduld in die Wachstäfelchen grub.
Plötzlich ertönte, ganz nahe, ein neuer Klang, der den beiden die Hingabe ihres Arbeitens zerstörte und wache Aufmerksamkeit abzwang: Klingeln von Metallplättchen schwoll auf und ab und die traurige Weise einer unbeholfenen Schäferflöte raunte dazu in stets wiederkehrenden Tonfolgen.
»Eine vorbeiziehende Herde, die in die Berge hinaufgetrieben wird und vom gewöhnlichen Wege abkam!« sagte Zamolxis, wie um sich selbst die Ursache der Störung zu erklären.
»Nein, sie zieht nicht vorbei!« erwiderte Pythagoras nach kurzem Lauschen. »Der Ton rückte bisher näher, jetzt bleibt er auf gleicher Stärke!«
Noch eine Weile klang die Flöte. Dann aber brach der Laut ab, das klirrende Klingeln rauschte noch einmal mächtig auf, um fast vollständig zu verstummen.
Zu gleicher Zeit aber bog eine flinke Hand die Brombeerbüsche hart auseinander, und zaudernd stand ein schöner, etwa fünfzehnjähriger Knabe am Rande des Haines. Grobe Kleidung des Hirten deckte kaum das prächtige Spiel starker Muskeln, und die gebräunte Haut spannte sich glatt über die Quellen der Kraft. Die Haare aber ringelten sich bukolisch in die Stirne, über der ein Kranz leuchtender Blumen das schmale Haupt umgriff.
»Soll ich ihn fragen, was er von uns heischt?« fragte Zamolxis.
Pythagoras aber flüsterte ihm zu: »Laß das, Zamolxis! Erhebe dich nicht! Er könnte die Größe deiner Gestalt fürchten und uns entlaufen. Vielleicht will er nur Wasser aus der Quelle schöpfen oder beim Ursprung zur Nymphe um die Gesundung eines Lammes beten!«
Der Jüngling jedoch hatte inzwischen die Hemmung, die ihn für einige Herzschläge an seiner Stelle festhielt, überwunden und trat gesenkten Blickes näher. Als er auf einige Schritte herangekommen war und den fragenden Augen der beiden begegnete, neigte er sich zum Gruße und sagte stockend:
»Pythagoras, Sohn des Mnesarchos, großer Verkünder der Weisheit! Darf ein armer Hirte es wagen, eine Frage an dich zu richten? Die einzige Frage, o Weiser, wie ich dir bei allen huldvollen Göttern der Berge und Quellen schwöre!«
Pythagoras lächelte gütig, da ihn die sonderbare Anrede erstaunt hatte. Und er beeilte sich, zu erwidern:
»Warum sollst du, Gast des Berghanges, nicht einen anderen Gast dieser Haine fragen dürfen? Sage getrost, was dein Herz bedrückt, damit wir beide es wissen!«
»Nichts anderes habe ich von dir erwartet, da ich sah, wie mild du deinen Sklaven begegnest. So höre: Schon seit vielen Tagen, seit langer Zeit, als ich so zufällig unten am Rande der Stadt reden hörte, daß du hier oben weiltest, ward es in mir Vorsatz, dich zu sehen und zu belauschen. Nicht aus dummer Neugier! Glaube mir das, erhabener Weiser! Du siehst aber, daß ich ein armer, ein jämmerlicher Hirte bin. Wo würde ich, so dachte ich, je Gelegenheit finden, deine Weisheit zu hören? Da mich doch der Frühling schon in die Berge zwingt und erst der Winter mich der Stadt, einem Gehöfte außerhalb der Stadt, zurückgibt. Was aber ist's im Winter? Da muß ich die Wolle der Schafe säubern und helfen, die Tücher zu weben, die dann, in Purpur getaucht, die reichen Jünglinge zieren. Das gönne ich ihnen! Was ich ihnen aber stets neidete, war die Kenntnis der Schrift, die es ihnen gestattet, die Bücher der Weisen zu lesen, auch wenn sie diese nicht selbst hören können. Und nun vernahm ich, Pythagoras sei zurückgekehrt, um allen Hellenen neues Wissen zu bringen. Er selbst habe es so gesagt, wurde mir gekündet. Bin ich kein Hellene? dachte ich da. Und das gab mir die Kühnheit, dein Grundstück zu umschleichen, um zu hören, was du deinem Sklaven sagst. Ich vernahm jedoch nichts, da du stets flüstertest. So blieb mir nur der Weg, bei dir wie ein Schutzflehender einzudringen und dich zu bitten, ob ich meine Schafe hier weiden darf. Wenn dich das Geklingel stört, will ich ihnen die Bleche abnehmen. Ich selbst aber will mich zu deinen Füßen ins Gras legen und schweigen, als ob ich nicht vorhanden wäre. Nie will ich sprechen, außer du befiehlst es. Nie auch fragen. Ich will jedes Wort bewahren, um später auf den Matten der Berge darüber nachzusinnen und will mir sagen dürfen, daß ich nicht sterben werde, ohne Worte des erhabenen Pythagoras gehört zu haben. Verweigere mir die Bitte und ich werde weinen, nicht aber zürnen. Denn du zogst dich ja hieher zurück, um den Menschen zu entfliehen. Und verzeihe dem frechen Knaben, dem nur die Liebe zum Göttlichen Mut zur Kühnheit lieh!«
Er schwieg und heiße Röte deckte seine Wangen. Und seine Augen waren wie im Fieber weit offen. Pythagoras aber, dessen Gedanken plötzlich in die Zeiten zurückflohen, da er selbst mit weit unbescheidenerem Verlangen vor den Priestern Ägyptens gestanden war, erwiderte freundlich:
»Die Art, in der du mich fragtest, die Gedanken, die du dir zurechtlegtest, um meine wohlverstandene Einsamkeit mit deiner Wißbegierde zu vereinbaren, dieses heiße Streben schließlich, das dich als Sehnsucht nach höherem Wissen ergriff, zeigen mir genugsam, daß du dein Versprechen halten wirst. Laß deinen unschuldigen Schafen ihre Schellen! Sie sollen mit ihrem Geklingel mein Denken begleiten! Du aber magst in meiner Nähe weilen, soviel es dir beliebt. Dann aber wirst du mir sagen, ob du etwa höherer Lehre dich befleißen, oder ob du ein weiser Hirte sein willst für dein weiteres Leben. Jetzt aber bring deine Lämmer, damit sie sich nicht verlaufen. Damit nicht dieser Tag für dich mit Schaden und Unheil ende!«
Der Hirte aber warf sich vor Pythagoras nieder und umfaßte in heißem Danke seine Kniee. Dann vergaß er in wilder Freude die Weihe des Ortes und sprang mit einem hallenden Jubelschrei davon, daß die Eidechsen entsetzt über die Steine schossen und mit ängstlichen Augen aus den dunkelsten Ritzen des Steinwurfes hervorlugten. –
Tag für Tag lag nun der Knabe neben Pythagoras im Grase und erhob sich nur scheu, um eines seiner Lämmer, das sich allzu ungebärdig umhertrieb, zu Ruhe und Ordnung zurückzuleiten. Nie fragte er, nie sprach er. Selig verklärten Antlitzes lauschte er den Laut gewordenen Gedanken des herrlichen Weisen und grübelte ihrem Sinne nach. Aber auch Pythagoras vergaß die Anwesenheit des Knaben nicht. Verständlicher und deutlicher versuchte er das Tiefste herauszuheben, und es war ihm ein schöner Lohn, wenn ihn ein leuchtender Blick seines Sklaven oder ein begeistertes Aufflammen im Auge des Hirtenknaben traf. Und diese reine Mitfreude seiner schicksalgesandten Schüler befruchtete auch seine Arbeitslust zur erhabensten Abrundung seines Gedankenwerkes.
Die elysische Ruhe dieses Schaffens aber brachte zudem noch viele Dinge an die Oberfläche der Klarheit, die längst halbbewußt und stets aufs neue mahnend im Gemüte des Pythagoras gelegen waren. So hatte er eben den Beginn einer Spur gefunden, jenes rätselhafte erste Aufflackern riesengroßer Zusammenhänge, das gewöhnlich an einem Nebenpunkte einsetzt und vorerst bei allzunahem Zusehen wieder zu Nebel zerfließt. Das aiber gleichwohl immer deutlicher wird, bis der Geist es endlich wagt, die ersten Proben von der Richtigkeit und Übereinstimmung der Zusammenhänge anzustellen. Diesmal bezog sich diese Vorahnung einer Entdeckung auf das Problem, das den Weisen schon in Ägypten und später dann in Indien beunruhigt hatte: Auf das Gesetz, das der Erzeugung des rechten Winkels aus meßbaren Schenkeln zugrunde läge.
Und ein Schaffensrausch sondergleichen hatte ihn ergriffen und ließ auch die Schüler das Fieber des Suchers miterlöben; als jählings ein Ereignis das Werden der Lösungen im zartesten Keime unterbrach.
Schon lag Hochsommer über Samos und der Hain summte von fröhlichen Bienen und Käfern.
Da brachte der Sklave Aristaios, der für gewöhnlich in der Stadt weilte und nur die Mahlzeiten zu seinem Herrn herauftrug, die Nachricht, daß sich in Athen umwälzendes Geschehen begeben habe und daß der Bruder des Pythagoras unterwegs sei, um Unaufschiebliches mit dem Weltentrückten zu besprechen.
Anfangs fürchtete Pythagoras, daß seine Familie Unheil getroffen habe. Doch schon die Miene des Bruders, der kurz darauf erschien, beruhigte ihn.
Lächelnd trat dieser in den Hain und betrachtete das sonderbare ländliche Idyll; wie der Weise zwischen blökenden Schafen seine Lehre in langsamer Rede vortrug. Dann kam er näher und begrüßte den älteren Bruder aufs herzlichste und sagte:
»Du weißt in dieser Abgeschlossenheit wohl nicht, Pythagoras, daß draußen auf dem Erdkreise sich Dinge zutrugen, die die Gestalt des Hellenischen mächtig verändern können. Ich will dich nicht lange hinhalten. Nachdem Harmodios und Aristogeiton den Hipparchos ermordeten, hat nun das Volk von Athen auch den letzten Peisistratiden Hippias verjagt und dadurch der Volksherrschaft die Bahn freigemacht. Mächtig und brausend wälzt sich der demokratische Gedanke über Hellas!«
Pythagoras blickte erstaunt auf und erwiderte:
»Wähnst du, daß dieser Sturz des Tyrannen von Dauer sein werde? Sind nicht auch anderswo Tyrannen schon ermordet oder vertrieben worden? Hat nicht dort das Volk, unfähig sich selbst zu lenken, wieder nach der Herrschaft der Stärksten gegriffen und sich solange zerfleischt, bis ein neuer Gewaltmensch auf seinen Nacken trat? Und endlich: Was soll uns Samier, was den abgekehrten Pythagoras eine Umwälzung anfechten, die sich in Athen zutrug?«
Da ward der Bruder ernst und sagte eindringlich:
»Du irrst, Weiser! Diesmal irrest du! Nicht als dein Bruder bin ich gekommen, ich stehe hier als der Abgesandte des Rates von Samos. Und soll dir von diesem Rate eine Botschaft bringen.«
»Eine Botschaft? Vom Rate der Stadt? Was will man von mir?« Fast wie im Schrecken entfuhr dem Pythagoras die hastige Frage.
»Auch das will ich dir in aller Kürze melden!« Und der Bruder ließ sich nieder. »Siehe, Pythagoras, unser Tyrann fürchtet dieses Aufflammen demokratischer Sinnesart. Und er wähnt, nicht besser der Gefahr begegnen zu können, als dadurch, daß er eben die Besten, die Angesehensten in den Rat beruft. So will er dem Volke jeden Vorwand nehmen, sich nach anderen Herren umzusehen. Denn jeder – so denkt er – wird sich lieber von den Weisesten beraten lassen, als selbst die Bürde der Verantwortung auf sich zu nehmen. Deshalb also befiehlt er dir, von nun an dem Rate der Stadt als Mitglied beizusitzen und außerdem die edlen Jünglinge von Samos deine Weisheit zu lehren. Denn lange genug – es sind seine Worte – habest du dir selbst und deiner Forschung gelebt und er sei besorgt, daß du die Früchte deiner Arbeit überhaupt niemals dem Gemeinwesen nutzbar machen würdest, wenn man dich gewähren ließe. Verzeih mir, Bruder, daß ich dir vielleicht unerwünschte Botschaft zutrug, doch ich flehe dich im Namen all deiner Verwandten an, dem Tyrannen nicht zu trotzen und den edelsten der Bürger durch Ratschlag und Belehrung zu helfen!«
Pythagoras senkte schweigend sein Antlitz. Eine verzweifelte Anklage gegen das Schicksal gellte in ihm auf, das ihn hinausgetrieben, hinausgelockt hatte und ihn nun nie mehr auch nur karge Ruhe finden ließ. Doch aus andern Zonen der Seele fragte ein Daimon, ob es dem lebendigen Menschen überhaupt gestattet sei, eine Ruhe zu erhoffen, die ihn außerhalb des Zusammenhanges mit den Leiden und Wechselfällen seiner Mitbürger brächte; ob es vielmehr nicht Pflicht sei, allen Störungen Trotz bietend, diese Hemmnisse als den unabänderlichen Zustand des Lebendigen zu betrachten und innerhalb dieser Umschwünge das Ziel zu erreichen. Und er entsann sich der prophetischen Worte der Pythia Themistokleia, die sein weiteres Leben als Auf und Ab, als Schwanken und Ringen, Trotzen und Erliegen und Ersiegen vorherverkündet hatte, soweit es das Ziel seines Geistes betraf.
So hob er plötzlich den Blick und sagte fest:
»Ich werde gehorchen! Um so williger, als ich endlich mit meiner Lehre vor die Jugend treten kann. Nur fürchte ich, daß auch die edelsten samischen Jünglinge, Söhne dieses Samos, das, wie du weißt, stets nach dem Handelsertrage der Weisheit fragt, dem Ernste und der Schwierigkeit meiner Lehren kaum ein sonderlich geneigtes Ohr leihen werden. Doch das wollen wir der Zukunft überlassen!«
Und er wandte sich zum Schäfer und umarmte ihn: »Leb wohl, Hirte! Die elysischen Stunden unsres Sinnens auf dieser einsamen Höhe sind zu Ende. Doch wähne ich, daß du so viel ober die Götter und über die Weisheit gehört hast, daß dich die Erinnerung in den stillen Höhen deiner Berge noch in später Zeit mit bunter Ahnung und rätselbangen Fragen erfüllen wird. Und das eben wolltest du.«
Der Schäfer aber sah starr vor sich hin. Dann flüsterte er:
»Mehr habe ich gewonnen, als ich je erträumte. Ich danke dir, erhabenster Herr und Lehrer!« Und er stand langsam auf und zog seine Flöte aus dem Bausche seines Gewandes hervor. Und der traurige Einton des Liedes klang durch die Weite und lockte die Schafe, die sich klirrend und blökend zu einem Rudel zusammendrängten und dem Hirten folgten.
Der Bruder des Pythagoras aber sagte leise und ergriffen:
»Nie wußte ich, daß die höchste Ehre im Gemeinwesen so traurig, so feindselig werden kann! Verzeih mir, Pythagoras, wenn du zu vergeben vermagst!«
»Ich habe nichts zu vergeben!« erwiderte Pythagoras hart. »Stets wieder vergißt der Diener der Weisheit, daß er damit auch ein Diener seiner Mitbürger ist. Denn was wäre Weisheit, was Philosophie ohne Lehre? Wohl nur das vergängliche Vergnügen eines erkenntnisstrebenden Geistes. Nein, Bruder! Über den Rausch des Erkennens haben die Götter die Pflicht des Ausdruckes gesetzt!«