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XXIX

Der ganze Stimmungsgehalt einer längst verloren geglaubten Vergangenheit stieg urgewaltig im Gemüte des Philosophen an die Oberfläche des Bewußtseins, als er lauschend das Haupt erhob und dem Sklaven Zamolxis mit der Hand ein leises Zeichen des Schweigens zuwinkte.

»Über den Rausch des Erkennens haben die Götter die Pflicht des Ausdrucks gesetzt!« klang es in ihm wie eine ferne, mahnende Stimme.

Doch er lächelte beglückt. Denn die Götter hatten sich mit dem heißen Willen des Selbstaufopfernden zufrieden gegeben und ihm heute schon die große Harmonie des Erkennens und des Ausdruckes verliehen.

Und er sah über den Hain, in dessen Hintergrund die kühle Felsengrotte den harten Stein höhlte, sah über die Büsche und Blöcke, zwischen denen die Eidechsen huschten, und blickte an den sanften Hängen hinab zur schmalen Ebene, die zwischen dem Gebirge und dem Meere sich breitete.

Was aber stand dort in jenem dunklen Wäldchen von Zypressen und Pinien? Was lugte zwischen Stämmen und Zweigen in schimmernder Pracht hervor? War das nicht sein Traum, zu Marmor geronnen, hineingezaubert in die Welt greifbar harter Wirklichkeit?

Die Schule! Seine Schule, in der die neue Jugend der Hellenen hinangeführt werden sollte zu den letzten Höhen lichtesten Geistes! Der stolze Säulensaal, der vor wenigen Tagen vollendet worden war und blank und bunt der Schüler harrte!

Und er begann, den krausen Wegen des Schicksalszwanges entlang zu sinnen, die seit der furchtbaren Schlacht gegen Sybaris, einander kreuzend und verstärkend, seine letzten Ziele in nächste Sicht gerückt hatten: Wehmütig gedachte er des herrlichen Alkaios, des Mannes, der gleich tüchtig gewesen war, die spartanischen Hopliten heranzuführen und die verstecktesten Weisheiten der höheren Lehre zu erfassen. Und der dort unten zwischen Zypressen schlief, gedeckt vom tränenbenetzten Grabhügel. Nicht das Schwert der Sybariten hatte ihn hinweggerafft, denen er als Hoplite gleich den anderen entgegengebraust war. Nein, Monde später hatte ein tückisches Fieber ihn vor die Totenrichter berufen und dem Kreislaufe seines Lebens ein unerbittliches Ende gesetzt. Und er hatte, ahnend den nahen Tod, all die ungeheuren Ländereien und Häuser, Güter und Herden, die er besaß, dem vergötterten Lehrer und Philosophen zu Erbe gegeben: Alle die Felder und Haine, über die jetzt Pythagoras blickte und die sich mit ihren letzten Ausläufern bis knapp unter die Mauern Krotons hin erstreckten. Noch nicht groß genug aber war den Krotoniaten der Reichtum erschienen, den ein Zufall dem Weisen dargeboten hatte. Aus erbeutetem sybaritischen Golde, durch den Schweiß sybaritischer Sklaven, wurde der herrliche Bau aufgeführt, bestimmt, für alle Zeiten ein Sitz und eine Pflanzstätte hellenischen Geistes zu sein.

Vor einigen Tagen aber war die Arbeit vollendet worden.

Eben wollte Pythagoras sich wieder den Gedankenläufen zuwenden, die, anknüpfend an die stillen Tage von Samos, an jene Tage der Nymphenruhe, stromgleich in ihm emporrauschten, als die geheimnisvolle Übereinstimmung der Vergangenheit und der Gegenwart sich durch ein neues Ereignis zu fast unwahrscheinlicher Einheit schloß:

Von ferne erklang nämlich verwehend der Ton einer unbeholfenen Hirtenflöte, und das Klimpern der Bleche von Herdenvieh schwebte mit dem Hauche des Windes auf und nieder. Und wie damals teilte sich das Gebüsch und ein bekränzter Hirte stand scheu und wie schutzflehend im Bereiche des Weisen.

Der Philosoph aber lächelte wieder; lächelte diesmal befreit und heiter; denn sein Schüler Pythagoras hatte sich in den Hirtenknaben zurückverwandelt, der Schüler, der heute schon tief in die Mysterien der Zahlenkunst eingedrungen war, der Jüngling, der damals in den ersten Reihen der Krotoniaten gefochten hatte, als es galt, den Schimpf sybaritischer Verhöhnung seines Lehrers zu rächen.

»Zu guter Stunde wähltest du diese Verkleidung, die einst dein Wesen war!« sagte Pythagoras, noch immer lächelnd. »Hat sie doch in mir die Täuschung vollendet und die trennende Schranke abgetragen, die zwischen dem höchsten Aufschwunge meiner Gedanken und dem heutigen Weiterbau eben dieser Gedanken ragte. Komm näher, Hirte, und lausche wie einst den Worten und blase deine sanften schwermütigen Lieder!«

»Es ist keine Verkleidung!« erwiderte der Jüngling leise. Dann setzte er stockend fort: »Soll ich es dir, dem Weisesten, erklären? Entzweigespalten ist meine Seele zwischen dem kindlichen Drange, die Lämmer zu hüten und ihr munteres Spiel zu sehen und der heißen Begierde nach Erkenntnis. Laß mich deine Schafe betreuen, o erhabener Lehrer! Keines von ihnen soll sich verlaufen, so wenig wie ich einen der Sätze vergessen will, die du mich lehrtest. Jetzt aber verzeih mir, daß ich dich störte. Kein Wort mehr möge die Ruhe, die du fandest, schmälern!«

Und er streckte sich ins Gras und begann wieder wie einst durch sonderbare Rhythmen die Lämmer anzulocken, die sich stolpernd und blökend durch die Gebüsche zwängten und das saftige Gras zu rupfen anhuben.

Der Philosoph aber vergaß zu antworten. Denn die Melodien hatten neue Wogen von Erkenntnis, so groß, so unausschöpflich, so niegeschaut über sein Denken branden lassen, daß er plötzlich wie in einer göttlichen Harmonie alle die Klänge vernahm, die je sein Ohr getroffen hatten. Und er hörte das helle Klappern der ägyptischen Schellen, hörte das Klimpern der Sistren, den ziehenden Klang der Saitenspiele und das Tosen eherner Tympana auf dem Parnassos. Und dunkle Flötentriller, grelle Hörner und Salpinxrufe brausten dazwischen empor und erhoben sich über die dumpfen Niederungen der anderen Töne. Bis sich endlich die oberste Sphäre des Fixsternhimmels lautlos öffnete und für einen Herzschlag einen Ton aufschäumen ließ, der seinesgleichen nicht hatte an kristallener Reinheit und unaussprechlicher Überwältigung. Doch hatte er kaum noch den ersten Anteil an diesem höchsten Wunder gewonnen, als sich schon wieder krachend das eherne Firmament verschloß.

»Was ist Harmonie? Wie, du unfaßbarer Kosmos der Töne, der Klänge, der Stimmenverschwisterung soll dich ein Menschengemüt erfassen, festhalten, bannen, verstehen?« So klagte es in ihm auf. »Wie soll ich dein Wesen erkennen, Welt, wenn mir das Gesetz deines Zusammenklanges unklar bleibt?«

Und der Philosoph hob wie flehend die Arme.

Da fiel sein Blick, halb unbewußt, auf die Syrinx, die der Hirte den Lippen entlang gleiten ließ, und mit unheimlicher Schärfe blieb sein Auge an der Abstufung haften, die all die schlanken Rohre stets kürzer werden ließ, so daß keines dem anderen glich; ebenso wie auch die Töne sich voneinander unterschieden, die den Rohren entschollen.

Pythagoras schloß die Augen und ein Zittern lief über seine Glieder:

Denn die Götter hatten seinem trunkenen Blicke den Beginn des Weges gezeigt.

Dann aber lehnte er sich zurück und zwang sich für den Augenblick Vergessen ab, da andere Gedankenreihen vorerst noch formenden Ausdruckes harrten.

Und er sagte leise die Worte und Sätze dem Zamolxis, der sie schweigend und gehorsam in die Wachstafeln einritzte. –

*

Als Pythagoras um die Mittagsstunde durch die langen Schattengänge über den Berghang hinabschritt, summte die Luft in unfaßbar drückender Unbewegtheit. Hoch hinauf aber bis zum Scheitelpunkte des Himmelsbogens ragte drohendes Gewölk, dessen Zackenränder sich in leuchtendem Blaugrau und Gelbbraun übereinanderschichteten. Jeder Herzschlag brachte anderes Licht über die Gegend. Bald schnitt ein schräges Bündel von Sonnenstrahlen durch die geballten Massen der Wolken und riß ein Feld, einen Hain, den Kulm eines Berges in sonderbare Grellheit. Dann wieder entfärbte sich alles in dumpfem Dämmern, daß schier der Atem sich kaum der Brust entringen konnte. Noch aber grollte kein Donner und die eine Hälfte des Firmaments stand wolkenlos in glasiger Bläue.

Der Philosoph bekümmerte sich wenig um die Stimmung der ihn umgebenden Natur. Glühte doch in seinem Herzen ein Brand der Wißbegierde und der fiebernden Erwartung, wie er ihn kaum noch erlebt hatte, seit die Tore des Amuntempels zum ersten Male vor ihm aufgesprungen waren.

Bald auch hatte er die Ebene und die breiten Wege erreicht, die durch den Hain zu den nahen Wohngebäuden und dem neuen Baue hinführten. Und er trat ein. Doch nicht zum großen Saale lenkte er den Schritt. Auf einer schmalen Treppe vielmehr strebte er hinan zu den oberen Gelassen, die zu unbetretbarer Forschungsruhe und Abgeschlossenheit bestimmt waren. Ausgebreitet lagen auf Truhen und Tischen in diesen kleinen Räumen all die Gegenstände, die er im Laufe der Jahre gesammelt hatte; von denen er wähnte, daß sie dereinst in Zusammenhang zu seiner Wissensergründung treten könnten.

Er suchte kurze Zeit. Manche Truhe durchstöberte er, manchen Deckel hob er, bis er das kleine unscheinbare Ding in Händen hielt, das aus zartem Holze sorgfältig angefertigt war und einem länglichen Kästchen glich. Der Körper war es irgendeines Saiteninstruments, das er einst an den Grenzen des persischen Landes erhandelt und das, trotz aller Wechselfälle und Fährnisse, stets seinen Herrn begleitet hatte.

Er reinigte es vom Staube und pochte mit dem Knöchel des Fingers gegen seine Oberfläche. Da entscholl ihm ein voller dumpfer Ton, das Zeichen, daß kein Bruch, keine Lockerung das Gefüge um die Fähigkeit gebracht hatte, jeden Klang vervielfachend zu verstärken und nachschwingen zu lassen. Dann aber entfernte er die zerfaserten Reste längst zersprungener Saiten von den wohlgeglätteten Stegen an beiden Enden der Oberfläche und beraubte eine der Kitharen, die auf einem Gestelle lag, einer ihrer klingenden Schnüre. Bevor er jedoch die Saite aufspannte, schnitt er aus einem Papyros einen schmalen Streifen, den er sorgfältig der Länge nach in gleiche Teile zerlegte, so daß dieser Maßstab den Bord des Kästchens zuerst in Hälften, dann in Viertel, schließlich in Achtel und Sechzehntel teilte. Auf andere Streifen wieder brachte er andere Teilungen durch drei und fünf und sieben an.

Als der Philosoph dann schließlich die Maßstäbe auf der Fläche des Kästchens festgelegt hatte, schnitzte er noch einen niederen Steg und begann die Saite zu spannen, bis die Tonhöhe seinen Zwecken entsprach.

Und nun verrannen viele Stunden, in denen unendliche Ausblicke, riesenhafte Entdeckungen und kleine Enttäuschungen den Kosmos seines Geistes in bunter Wechselfolge durchrasten. Sosehr hatte er früher gefaßte Pläne und Absichten, sosehr seine ganze Umgebung vergessen, daß er in furchtbarem Schreck emporfuhr, als Zamolxis grüßend den Raum betrat.

»Was willst du? Warum störst du mich?« fragte er ungeduldig. Doch im gleichen Augenblicke brachte der Klang seiner eigenen Worte soviel wachen Bewußtseins zurück, daß er beschwichtigend und gütig fortsetzte:

»Hast du mir Wichtiges zu melden, Zamolxis?«

Da glitt es wie Erlösung über die schon traurigen Gesichtszüge des Thrakers und er erwiderte rasch:

»Ja, Herr! Demokedes harrt deiner bereits seit längerer Zeit und will sich nicht länger gedulden. Er fragt, ob er deine Zurückgezogenheit durchbrechen darf.«

»Geh und sage ihm, daß er kommen mag! Ich will ihn freudig begrüßen.« Und Pythagoras blickte wieder auf das seltsame Kästchen, dessen Saite sich schimmernd über den geschnitzten Steg spannte. Dann berührte er prüfend noch einmal ihren kürzeren Teil, und ein heller, klimpernder Ton lag im Raume, als Zamolxis verschwand.

Kurz darauf übertrat Demokedes die Schwelle.

Mit leuchtendem Antlitze sah ihm Pythagoras entgegen und reichte ihm die Hand. Dann sagte er, bevor noch der Arzt den Mund auf tun konnte:

»Freue dich, Demokedes, der du nun schon einmal vom Schicksal ausersehen bist, die höchsten Schicksale meines Lebens entweder als Bote zu überbringen oder mitgenießend durch deine Anwesenheit zu bereichern. Eben – ich weiß nicht wann, da meinem Forscherwahne die Zeit entglitt – eben, sage ich, ist es mir geglückt, den ersten verbindenden Faden der großen Harmonie zu erfassen und in Erkenntnis aufzulösen. Du sollst der Erste sein, der von diesem umwälzenden Geschehen Kenntnis erhält. Rittest du doch einst in den Hochwäldern der Landschaft Persis an meiner Seite, als mir das tiefste Wesen der Harmonie zum ersten Male flüchtig am Horizonte meines Gemütes stand.«

Als aber Demokedes fragend aufsah, nickte der Philosoph nur leicht mit dem Haupte, wies auf das Kästchen bin und setzte, wie in ferne Räume versinkend, fort:

»Ich glaube, es war heute morgens, als mich Hirtenweisen umklangen, als ich die Götter mit stürmendem Ungestüm bedrängte, mir den letzten Sinn der Harmonie zu offenbaren, da die Deutung des Kosmos mir verschlossen bliebe, wenn ich das körperlose Gewoge der Klänge nicht fassen könnte. Die Götter aber erhörten mich, obwohl ich in ungeziemender Art, wie ein Titane wütend, mich zum Olympos emporgereckt hatte. Und sie zeigten mir in der Syrinx des Hirten das Vorzeichen, das mir kündete, daß jedes Tones Maß an körperlicher Größe, an der Länge der Rohre, hafte. Ich kann dir nicht schildern, Demokedes, welchen Aufruhr des Gemütes mir dieser Beginn der Erkenntnis verursachte. Zur Buße für meinen Ungestüm aber zwang ich mich, erst viele Stunden später den entscheidenden Schritt zu wagen; als mir die Angst, die Götter könnten mir zur Strafe nur ein Blendnis vor die Sinne gestellt haben, schon das Herz beengte. Dann aber ging ich ans Werk. Siehe, Demokedes, dieses Kästchen hier, über das ich die Saite spannte. Kanon soll es heißen für alle Äonen! Und ich weiß heute, daß noch fernste Geschlechter diesen Namen kennen werden, da sich aus den zarten Tönen der Saite tiefster Weisheitsgrund, mehr noch, das Wesen der Dinge offenbart. Denn mit zwingender, unbestechlicher Sicherheit gibt es Antwort.

Und lehrt jedes, auch das stumpfste Auge, daß das Wesen der Dinge die Zahl sei; was ich schon damals ahnte, als ägyptische Tempelpylonen und Pyramiden zum ersten Male vor mir aus den Niederungen des Deltas emportauchten. Und er zeigte mir noch mehr, dieser Kanon: Das ganze ungeschiedene, bisher nur mit flüchtiger Ahnung zu umgreifende Chaos der dorischen, lydischen, phrygischen, hypodorischen und der anderen Tonweisen verband es mit einem Schlage zu leuchtender Einheit. Denn von heute an ist all das feste Zahl, was bisher Ahnung und körperloser Schein war!«

Pythagoras schwieg einen Augenblick lang. Demokedes aber trat näher an das Monochord heran und fragte leise:

»Willst du mir sagen, Weiser, welche Zahl sich dir aus der Saite offenbarte? Oder ist es eine Vielfalt von Zahlen, von Zusammenhängen, von Kräften?«

»All das ist es, o Demokedes!« erwiderte Pythagoras schnell. »Heute weiß ich ja nur erst einen kleinen Teil davon, da die Zeit wie Staub verrann. Nur Anfänge kann ich das nennen, was erst die Zukunft zu vollem Kosmos türmen soll. Höre also: In reinem Zahlenaufbau folgen einander die Töne. Blick her!« Und er verschob den Steg. »Zeigt dir nicht der Grundton mit dem achten Ton ein Verhältnis der Saitenlänge von eins zu zwei? Und der Ton dia pénte, der fünfte in der Reihe, von zwei zu drei? Der vierte aber ist durch drei zu vier ausgedrückt! Du siehst es selbst, Demokedes! Siehst, daß kein Wahn, keine unbestimmte Annäherung mich zu trügerischem Schlusse verführt. Göttlich rein, wie aus dem unfaßbaren Reiche der Zahl selbst geboren, sind diese Beziehungen. Rücke nur um Haaresbreite den Steg von der reinen Zahl und schriller Mißton bestraft deinen Verstoß. Weißt du voll und ganz, was das bedeutet, Krotoniate? Weißt du, daß damit ein entscheidender, vielleicht der größte Schritt im Aufwärtsstreben des Menschengeistes vollbracht ist? Heute, o Demokedes, der du der Stolz aller hellenischen Ärzte bist, der du den krausen Wegen der menschlichen Körperkräfte und Leiden nachspürst – heute, sage ich dir, ist es gelungen, ein Gefühl, einen Hauch, ein verwehendes Nichts in die strenge Regel der Zahl zu bannen; bis zum tiefsten Wesen, das eben diese Zahl ist, zu durchdringen. Von heute, o Demokedes, wird der Menschengeist imstande sein, stets fortschreitend, den Zusammenhang und das Wesen der Dinge, die große, die letzte Harmonie des Kosmos zu ergründen. Und das, – ich sage es mit einem Stolze, der frei ist von Hochmut oder Geringschätzung – das war hellenischem Geiste vorbehalten, das konnte nur der Geist zustande bringen, der im innersten Wesen selbst Harmonie ist!«

Pythagoras schwieg. Auch Demokedes aber fand keine Erwiderung. Denn er wollte den Augenblick, dessen überirdische Größe er klar erkannte, nicht durch ein sterbliches Wort des Beifalls oder der Begeisterung entweihen. Erst als ihn nach geraumer Zeit Pythagoras fragend anblickte, hob er das Antlitz und sagte leise:

»Erhabener Pythagoras, verzeihe dem Eigennützigen, der dich mit einer Mahnung stört. Aber ich halte es für meine Pflicht, dir zu künden, daß schon seit langem unten im Saale die Menge edelster Krotoniaten deiner harrt, die du zur Einweihung deiner Schule hieher beschiedest. Gewiß ist es nicht Ungeduld, was mich sprechen ließ. Ich wähnte vielmehr, du könntest mir zürnen, wenn ich dich durch meine Mahnung nicht in die Gegenwart zurückriefe.«

Da durchzuckte es den Weisen wie leichter Schreck. Und er erwiderte hastig:

»Ich danke dir, daß du mich mahntest. Und ich hoffe nur, daß ihr Krotoniaten mir den Schimpf verzeihen werdet, den ich euch durch meine Vergeßlichkeit zufügte. Wenn sie mir aber zürnen, die edlen Männer und Frauen, denen ich so viel schon verdanke, dann mußt du mein Fürsprecher sein und ihnen sagen, daß es nicht in letzter Reihe sich auch um ihren Ruhm handelte, als ich mich heute von der Welt des äußeren Lebens abkehrte. Jetzt aber wollen wir sie nicht länger warten lassen!«

*

Als aber Pythagoras, den Harrenden unsichtbar, durch eine schmale Türe den erhöhten Teil des großen Saales betrat, der durch einen schweren schwarzen Vorhang von der dichtgedrängten Folge marmorner Bankreihen abgeschlossen war, brach plötzlich draußen mit schrillem Sausen der erste Windstoß des furchtbaren Gewitters über die Felder und Haine herein. Und die Wucht seines Anpralles war so kyklopisch, daß die breiten Flügel des Eingangstores schmetternd aufsprangen und der sausende Hauch an den Vorhang prallte und die beiden Teile, die, einen schmalen Spalt nur freigebend, gerafft waren, hoch aufflattern ließ.

Während aber schon rauschende Regenschauer niederprasselten und von fernher grollend ein gräßlicher Donnerschlag die eiskalte Luft zerriß, traf der Blick des Pythagoras, von mystischer Macht gelenkt, auf ein Antlitz, das sich ihm fragelos und doch voll von heiligster Sehnsucht zukehrte und ihn wie die unbekannte, größere Bruderwelt mit jenseitigem Schauer grüßte. Und sein Puls stockte: Denn es war das herrliche Antlitz des Knaben Aristokles und doch ein anderes. Zu weiblicher Anmut und Weiche, zu unausdenkbarer Schönheit und Reinheit ordnete sich Zug um Zug dieses sanften Hauptes und der charitischen Gestalt.

Als aber Pythagoras sich das Rätsel dieses natürlichen Wunders deuten wollte, tönte plötzlich eine Stimme durch sein Gemüt, eine tiefe, jenseitige Stimme, die durch brodelnde Dämpfe vom hehren Dreifuß herabklang:

»Boten waren es nur, denn einmal schon hat er verkündet,
was an Glück dir bestimmt; doch du verstandest es nicht.
Sannest schwer vor dich hin, als die siegesleuchtenden Augen
unter dem Kotinoskranz tief und vertraut dich gegrüßt.
So vergiß Lykoreias Traum! Doch wenn wehend im Windhauch
schwarz der Vorhang sich teilt, dann ist Erfüllung dir nah!«

Die Wucht des ersten Windstoßes aber war gebrochen und der Vorhang sank schwer zurück.

Pythagoras jedoch, dessen Klarheit zu zersplittern drohte, der unter der geheimnisvollen Macht des pythischen Spruches erschauerte und in dessen Gemüte tiefster Gottglaube mit bescheidenheitsentsprossenem Zweifel zu ringen anhub, rief leise die Götter um Hilfe an, damit sie ihm beiständen in der Überwindung seines entfesselten Gemütes.

Da senkte sich mildes Licht auf die sturmzerrissenen Wogen seines Denkens und die helle Sonne der Reinheit ließ seine Rede zu solch jenseitigem Leuchten werden, daß die Herzen der Zuhörer, vom Atem der Gottnähe umweht, ihres eigenen Gemütes nicht mehr achteten, sondern sich voll und ganz dem holden Rausche des Wohlklanges hingaben, der, scheinbar körperlos, dem schmalen Spalte des schweren Vorhanges enttönte.– – –


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