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Stille Nacht liegt auch über dem Hofe Erichs. Leise rauschen die hohen Eichen. Im Schlafgemach des Herrenhauses sitzt Bertha am Bett ihres Gemahls. Wenn Wind und Wogenschlag dem Ruderer zu stark werden, dann treibt sein Kahn hin und her, bald hierhin bald dorthin sucht er ihn mit den Rudern zu zwingen, aber schnell ermattet er wieder, die Wellen schlagen über und er fürchtet zu versinken. So wurde Berthas Herz hin und hergeworfen, zwei Welten stritten um sie, nicht Welten des Gedankens, des Glaubens, sondern starke, wirkliche Mächte, die da beide befahlen, du sollst hoffen auf mich, sollst beten zu mir. Zitternd beugt sich die junge Frau über das Kind in der Wiege, es schläft ganz ruhig; sie richtet sich wieder auf, tief seufzend, die Hand auf der wogenden Brust. Nun steht sie auf, tritt auf das kleine Fenster zu, durch das der Nachtwind leise hereinstreicht. Bertha richtet ihre Blicke zu stillen Sternen und leidenschaftlich flüstern ihre Lippen: die ihr da droben wohnt, der milde blonde Gott oder die wilden Götter des Sturms, ihr selbst, milde Sterne, schützt, schirmt meinen Helden, leitet ihn auf seiner Bahn zum Sieg, wehret die Lanzen von ihm ab und macht seinen Arm gewaltig; seid mit ihm! Auf ihm ruht der Ruhm dieses alten Geschlechts! Erhaltet den Ruhm dieses Hauses!« So betete sie, und wieder kehrte sie zum Bett ihres Kindes zurück und harrte still, wieder kamen die angstvollen Gedanken: »Durfte ich den lichten Gott rufen in die Halle der alten Helden?« murmelte sie, »grollen nicht die Geister dieses Hauses, fliehen sie nicht entsetzt aus den Winkeln, verlassen den warmen Platz am Herd? Werden sie den Donar rufen, daß er dies Dach treffe mit sengendem Strahl?« Wieder harrt sie, alles, alles ist still.
Da steht sie auf, öffnet die Thür und schreitet eine Stufe hinab in den Saal, nur ganz spärliches Licht fällt in den finsteren Raum. Sie tritt zur Thür des anderen Schlafgemachs und lauscht, kein Atem ist hörbar, sie öffnet, Oskars Bettstatt ist unberührt. Vorsichtig geht sie jetzt den dunkeln Saal entlang, schiebt leise den Thorriegel zurück, öffnet und tritt hinaus.
Klar und still wölbt sich der Sternenhimmel, das blasse Mondlicht ist ausgegossen auf die Hofstatt. Alles ist ruhig, nur vom Walde rufen die Eulen. Einmal schlägt ein Hund an.
Da raschelt etwas an der Mauer des Hofes, ein Kopf taucht auf, Bertha schrickt zusammen; aber schon erscheint eine jugendliche schlanke Gestalt ganz aufgerichtet, dann springt jemand hinab; einige Schritte, und Oskar steht vor ihr. Erschrocken faßt Bertha mit beiden Händen seine Hand, sie fühlt, wie er bebt: »Oskar, du? zu dieser Nachtzeit! Warst du im Ring der Männer, sendet dich Erich?« Besorgt, fast zärtlich, zieht sie ihn ins Haus, einen Fensterladen stößt sie auf, daß ein Mondstrahl voll hineinfällt auf den gestampften Tonboden und die rohen Holzbänke. Sie sitzen Hand in Hand. Bertha harrt, daß er erzählen soll. Aber der Knabe bleibt stumm. Seine Brust atmet heftig.
Da plötzlich fahren sie beide auf. War nicht Geschrei an ihr Ohr gedrungen? Sie eilen hinaus; vom hohen Platz des Herrensaales aus über die tiefer liegende Mauer weg, sehen sie drüben die Anhöhe der Hammaburg. Eine Feuergarbe loht dort auf, ein entsetzliches Geschrei schwillt an mit jedem Augenblick. »Hinaus, hinab!« ruft Oskar, »zu Hülfe, der Däne hat uns hintergangen!« Er springt in die Halle; sehr bald erscheint er wieder, einen Bogen über der Schulter, in der Hand einen Speer.
Er will vorwärts. Da packt ihn Bertha am Arm. Sie ist wie verwandelt. Ihre Augen leuchten. Erstaunt schaut er ihr ins Angesicht. Hell und sicher klingen ihre Worte: »Was hast du vor, mein Junge, wie willst du allein ein Heer besiegen? Schau an, hier ist dein Herzog! Du bist mein Bote, geh hin und rufe meinen Fürsten und mein Volk zurück! Du findest sie. Ein Sturmrufer in der Not bist du, du findest deinen Weg und wüchsen die Dänen überall aus dem Ufer der Elbe!« »Und was willst du?« erwidert Oskar, »soll ich dich im Stich lassen, bis der Feind hierherkommt?« »Sei ruhig, mein treuer Knabe, die Herrin birgt sich mit den Schätzen bei den Göttern in ihren Wäldern; die Menschenburg opfere ich ihnen in Flammen. Verstehst du? Der Brand hier oben soll die drunten täuschen, als habe hier ein anderer Räuberschwarm schon sein Nest gefunden. Nun geh und spring davon!« »Nicht, eh der Wald euch deckt!« ruft Oskar. »So wecke die Mägde und wache hier bis ich komme.« Sie geht hinein. Oskar eilt an die Ställe, reißt die Thore auf, daß Hühner und Ferkel erschreckt mit Geschrei und Gequiek auffahren, die Hunde heulend aufspringen. Da wirds lebendig, die Mägde kommen hervor. Oskar steht vor dem Herrensaal, den Bogen in der Faust, sein Auge sucht das Dunkel des Wiesenthals zu durchdringen. Da erscheint Bertha wieder, ihre Arme zieren Goldringe, in ihrem linken Arm ruht wohlumhüllt das Kind, die Rechte faßt ein blankes Kurzschwert. »Nun vorwärts!« ruft sie. »Die Hausgeister verteidigen selbst ihr Herdfeuer.« Sie gebietet den Mägden über die Mauer zum Walde zu flüchten. Sie helfen das Kind hinüberheben, nach einigen Augenblicken schreiten sie in den Feldfurchen hin.
Im Herrensaal knisterts, eine Flamme leckt von der Feuerstelle her an den Holzwänden hinauf, allerlei Reisig bietet ihr Wege, jetzt schlüpft sie unter dem Dache hin, ein Spitzchen lugt ins Freie hinaus, es hüpft weiter über das Stroh, es wächst, es springt weithin. Eine mächtige Lohe schießt auf und beleuchtet den Fliehenden den Weg.
Jetzt winkt Bertha dem Knaben, er schlägt eine andere Richtung ein, nach der Elbe zu. Wie er über die Wiesen dahineilt, bemerkt er einen Trupp Fliehender; Mönchsgestalten scheinen darunter, die einen Verwundeten führen. Dort aus der Tiefe tauchen drei oder vier Verfolger auf. Oskar reißt einen Pfeil aus dem Köcher, nimmt den Bogen von der kräftigen Schulter, er setzt den Fuß vor, legt ruhig den Pfeil auf die Sehne und zielt. Jetzt sind sie nah genug, der Pfeil schwirrt, ein Verfolger hält inne, taumelt und stürzt. Ein Wutgeschrei antwortet. Oskar sendet noch einen Pfeil, dann wendet er sich, die Feinde stürzen auf ihn zu. Wie ein Reh fliegt er über den Boden, hinein in den lichten Wald; hohe Eichen stehen hier, dazwischen einige Büsche; dort beginnt ein Tannendickicht; den Arm vor dem Gesicht springt Oskar hinein, die Zweige krochen zur Seite. Hier ist schwarze Finsternis. Uralte Fichten haben ihre Kronen zusammengeflochten. Nur ganz selten findet einmal ein Mondstrahl seinen Weg auf den nadelbedeckten Boden. Unaufhaltsam bricht sich Oskar vorwärts, obgleich die dürren Zweige ihn oftmals kratzen und blutig reißen. Ein paarmal hört er noch die Verfolger in der Ferne, bald nicht mehr. Jenseits der Fichten erreicht er einen kleinen Bach; dickes Bickbeerengestrüpp ist ausgebreitet an seinen Rändern, Sträucher neigen sich über ihn. Der Thau hängt in den Blättern und glitzert, wo das Mondlicht ihn streift. Ein Ort ist es für die Elfen. Oskar springt vorwärts in der Furche des Baches. Lange eilt er so durch den wilden Wald. Er beginnt zu ermüden, es schwirrt ihm vor den Augen, mit unendlicher Anstrengung kämpft er sich vorwärts. Schon beginnt es zu dämmern. Einige Vogelstimmen erschallen schon, mit dem wiederkehrenden Licht kommt auch der Mut zurück. Eine Stimme der Zuversicht spricht in ihm: es wird gelingen. – – – –
Vor dem Christenhause, wo alle im Schlummer ruhten, wachte nur Johannes draußen unter dem Sternenhimmel wegen der drohenden Gefahr. Aber auch sonst hätte er kaum ruhigen Schlaf gefunden. Seine Gedanken waren bei den neuen Freunden, Erich und seinem Bruder, die nun freilich vielleicht schon die väterlichen Waffen rüsten mochten, weshalb aber Johannes diese Gedanken nicht losließen, das war weniger die Furcht für seine Schützlinge und sich selbst; es war etwas anderes: es war das Wohlgefallen an männlicher Thatkraft und Sicherheit, die Sehnsucht, selbst so frei und sicher handeln zu können, belobt von gleichartigen Genossen. Es war die gleiche Sehnsucht nach der freien, schönen Menschenwelt mit ihrem Wagen und Gewinnen, die wohl manchen Jüngling, der das Kleid der Weltentsagung trug, gepackt haben mag. Dieses gleiche Bedürfnis, zu herrschen, den männlichen Geist zu entfalten, hat Kirchenfürsten zu Kanzlern und Feldherren des Reiches gemacht, wie aber, wenn der Geist die frohe Botschaft an die Sanftmütigen und Friedfertigen wirklich mit Liebesmacht umfaßte, und dennoch die natürliche Freude an Macht und Stärke erwachte, und nun ein Streit und Kampf sich in der einen Brust erhob?
War es möglich, daß der eine Teil sein Wohnrecht im Menschenherzen behauptete, ohne daß der andere ihn verlor? Eine Erkenntnis, die ihren Besitzer in der einen Zeit zu den heiteren Ufern des Lebens leitet, muß ihn in einer anderen in den Tod reißen.
Noch war Stille über Strom, See, Wald und Flur. So vernahm Johannes um so deutlicher die neuen Mächte in seinem Innern, die er weder meistern noch überhaupt begreifen konnte. Vergeblich rief er sich sein eigenes früheres Wesen zurück: wie er alle Krieger und erst gar Könige und Grafen entschieden bedauert hatte, weil ihnen der Weg zum Himmelsthor so schwer gemacht war; wie ihm selbst geringes Leben, mühsamer, entbehrungsvoller Dienst nicht schwer fielen, weil er seine Freude daran hatte. Da erschienen ihm wieder seine kriegerischen Sachsen. Er sah die Brüder im Geiste vor dem Heilande stehen; und Johannes wollte bitten: nimm sie an, es sind auch meine Freunde! Aber der Heiland gebot streng: legt eure Waffen von euch und machet euer Angesicht bleich und hohl und blendet eure Augen! Und Johannes ergriff große Trauer und Angst, als er diese Worte hörte.
So wechselten Gefühle und Bilder im Geiste des Einsamen. Da plötzlich fuhr er auf. war das nicht ein Schrei? Wieder einer? Es schwoll an und verbreitete sich ein Angstgeschrei drunten im Dorfe. Da schlägt eine Flamme empor. Waffen und Kämpfende glaubt er zu erkennen. – Die folgende Stunde erlebte Johannes wie im Traum.
Er sah sich mit Anschar nach dem etwas tiefer liegenden Hofe Hermanns des Christen eilen. Gertrud, seine Tochter, und die Mägde kamen ihnen entgegen. Er sprach sie an: »Führe alle Frauen und Kinder nach der Donareiche, das ist ein versteckter Platz.« Sie eilten an Hermanns Hof vorüber. Er war leer.
Auf dem Wege zum Dorfe drängte sich ein Haufen dunkeler Gestalten. Sie kamen dorthin. Da lag schwer getroffen der Herr des Hofes. Einige wilde Krieger metzelten zwei der Knaben nieder. Der älteste Sohn schlug mit einem schweren Knittel mächtig um sich. Anschar und Johannes heben den Verwundeten auf und tragen ihn fort. Da bricht der Sohn von einem Speer getroffen zusammen.
Johannes stützt Hermann und führt ihn mit einer Schar fliehender Frauen in den Wiesengrund hinab, sie überschreiten die Stege und erreichen die jenseitige Höhe. Da bemerken sie einige Verfolger hinter sich, plötzlich springt rechts von ihnen im Felde ein junger Bursche. Ein Pfeil saust unter die Verfolger, ein Wutgeheul folgt und der Haufe wendet sich auf den Angreifer. Der fliegt im schnellen Lauf über die Wiesen und verschwindet bald im Walde.
Es war Oskar gewesen, der eben seinen Botenlauf zum Bruder antrat.
Schon war es heller Tag, da sah sich Johannes unter der Donareiche. Ringsum lagerten die geflüchteten Frauen und Kinder, auch heidnische darunter. Andere kamen noch hinzu.
Viele waren fortgeschleppt zu den Schiffen hinab, nur wenige entronnen. Angstvoll drängten sie sich zusammen. Wird der Versteck sie schützen und der heilige Ort?
Johannes und Anschar knieten neben dem verwundeten Hermann, dessen verbundenes Haupt im Schoße seiner Tochter ruhte. Die kleinen Kinder standen ängstlich herum.
»Anschar, Anschar,« stöhnte der Verwundete, »mein Haus ist vernichtet, gefallen meine Söhne, meine herrlichen Knaben! Sagtest du nicht stets, mein Haus sei eine Freude unserem Gott und sein Segen ruhe auf ihm. O, warum sah er nicht jetzt auf uns? Warum sandte er keine Krieger vom Himmel? Er konnte es nicht, er ist ohne Waffen und Krieger, wie du.«