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Neuntes Kapitel.

Eine Seele ohne Hoffnung.

Als Mr. Fielden wieder zurückkehrte, hatte Lucretia schon das Haus verlassen. Er fand dort ein mit ihrer gewöhnlichen festen Hand geschriebenes Billet, das ihn, der näheren Gründe wegen, die ihr nicht erlaubten, länger unter seinem Dache zu weilen, an seine Frau verwies. Sie war in ein Hotel gezogen, bis sie ihre Pläne für die Zukunft geordnet haben würde. In wenigen Monaten war sie mündig und welcher Lebende hatte jetzt noch eine Autorität über sie?

»Für das Uebrige,« lauteten die Worte, »wiederhole ich hier nochmals, was ich Mr. Mainwaring schon einmal gesagt habe – jede Verbindung zwischen ihm und mir ist zu Ende – er wird mich nicht, weder durch Besuch noch Brief beleidigen wollen. Es ist wohl natürlich, daß ich in nächster Zeit den Anblick selbst Susannens scheue. – Später werde ich, wenn erlaubt – Mrs. Mainwaring besuchen.«

Obgleich nun Alles so gekommen war, wie es Mr. Fielden stets gewünscht hatte, (wenn er, was einst seine Absicht war, mit Lucretien selbst aufrichtig darüber gesprochen,) obgleich eine Heirath vereitelt war, die Niemanden glücklich, zwei Menschen aber unsäglich elend gemacht hätte, so empfand er doch einen bittern Schmerz, der fast einem reuigen Gefühle glich, als er hörte, was in seiner Abwesenheit vorgefallen. Lucretia, die er früher nie gern gehabt, (wenn das überhaupt bei dem alten guten Manne jemals der Fall seyn konnte,) wurde ihm jetzt durch ihr Leiden fast theuer. Alles Andere vergessend, eilte er augenblicklich zu dem Hotel, das sie gewählt hatte; ihre Kälte enttäuschte ihn aber, ihr Stolz stieß ihn zurück. Sie hörte trocken Alles das mit an, was er ihr zu sagen hatte, und erwiederte dann: »Ich bin nur dafür dankbar, daß ich so glücklich entkam – schweigen wir fortan über diesen Gegenstand.«

Mr. Fielden verließ sie mit weniger Angst und Mitleiden, als er zuerst für sie gefühlt, – vielleicht war Alles so zum Besten geschehen; bei seiner Rückkehr nahm aber auch Susannens Zustand seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. – Sie phantasirte und befand sich in großer Gefahr – Wochen dauerte es, ehe sie sich wieder erholte. Indessen hatte Lucretia eine Privatwohnung bezogen, deren Lage sie geheim hielt – in dieser Zeit also konnten Fieldens Nichts über sie erfahren.

Wenn die düstere Einbildungskraft der Dichter, die für das Reich der gemarterten Schatten jene endlosen Strafen ersannen, eine geschildert hätten, die ihr Opfer verdammte, ewig und ewig in einen Abgrund zu schauen – jede andere Aussicht ihm abgeschnitten – Schlucht auf Schlucht – eine tiefer und fürchterlicher, endloser und entsetzlicher als die andere, so daß im ewigen Starren die Seele selbst zuletzt ein Theil jenes Höllenschlundes zu werden schien, dann hätte er damit den Zustand geschildert, in dem Lucretiens Geist und Herz gefangen lag.

Es war nicht allein jener Schmerz der Seele die von dem geliebten Gegenstand verlassen und verrathen ward – in diesem Abgrund flocht sich unauflösbar das Elend der Vergangenheit und Zukunft in einander. Das verlorene Vermögen, – der niedergeschmetterte Ehrgeiz, jene so lang und heiß gehegten Aussichten weltlicher Glückseligkeit hoffnungslos zerstört – und unter diesem allem, der zürnende Schatten ihres Vaters, ja mehr als Vaters, dessen Herz sie gebrochen, dessen Tod sie beschleunigt hatte. So lange die Liebe ihr noch blieb, so lange hätten sie diese der Liebe gebrachten Opfer vielleicht für Augenblicke heimgesucht, aber ein Lächeln, ein Wort, ein Blick des Geliebten würde Reue und Vorwürfe schnell verscheucht haben. Jetzt – mit der Liebe aus dem Leben gestrichen, starrten ihr von allen Seiten düster und entsetzlich die Ruinen des Verlorenen aus wilder Nacht entgegen, und eine Stimme erwachte, die ihr lauter und immer lauter zurief:

»Sieh, Thörin, das Alles hast Du verloren – weil Du liebtest und vertrautest!« – und diese Gedanken schmiedeten jene beide Welten zusammen, die der Vergangenheit und die der Zukunft.

Jede Hoffnung war aus ihrer Zukunft gestrichen, wie ein Mann aus seinem Einkommen die Zinsen eines unrettbar verlorenen Kapitals streicht.

In ihrem Alter gibt es wohl wenige ihres Geschlechts, die so ganz jeder Religion entsagt hatten, aber selbst jener mechanische Glauben, wie ihn die Lehrer ihrer Kindheit und die beschränkten Gebräuche christlicher Ceremonien gelehrt, war längst vor dem strengen – gelehrten Scepticismus ihres gefährlichen Erziehers gewichen; Scepticismus, der nach und nach eine Vernunft erschaffen, die sich in einem wilden Chaos von Zweifeln gefiel und gar bald in jene eiserne Logik gänzlichen Unglaubens hineingezwängt werden konnte.

Ihr Glaube war aber dann auch nicht einmal jenen großartigen moralischen Wahrheiten gewichen, aus denen die Philosophie das stolze Bild heidnischer Tugend als ein Substitut für das demüthigere Symbol des christlichen Kreuzes herzustellen gesucht hat. Bei ungeselligem und nicht leicht, weder zur Fröhlichkeit noch Herzlichkeit geneigtem Temperament, hatte Lucretia jenen absoluten Egoismus, in welchem Olivier Dalibard seine fürchterliche Moral concentrirte, in den Motiven der Menschheit und Weltgeschichte bestätigt gefunden. Sie hatte die Chroniken der Staaten und die Memoiren der Staatsmänner gelesen und nur zu oft dabei gesehen, wie List allein die Bewegungen eines ganzen Zeitalters leitete. Diese Visconti's, Castruccio's und Medici – diese Richelieu's und Mazarin's und de Retz's – diese Loyola's und Mahomet's und Cromwell's – diese Monk's und Godolphin's – diese Marlborough's und Walpole's – diese Gründer der Geschichte der Dynastien und Sekten – diese Führer und Betrüger der Menschheit, und mehr oder weniger ihre Verderber – die alle hoch und erhaben über den schuldlosen, aber in Dunkelheit Lebenden standen – schienen selbst durch die Bewunderung der Nachwelt den Lohn zu ernten, die Betrüger ihrer Zeit gewesen zu seyn. Durch eine fast wahnsinnige Schlußfolge übertrug sie nun in das Privatleben des alltäglichen Treibens jene Politik, die wohl auf Kosten der Ehre so oft die Staaten regierte. Dadurch veränderten sich auch schon seit frühester Zeit die sämmtlichen Verhältnisse des geselligen Lebens vor ihrem Auge, und nahmen eine ganz andere Form und Gestalt an, als sie bei denen trugen, die mit den Ihrigen vereint und glücklich lebten. Sie betrachtete jedes Wesen mit mißtrauischem Blick und war schon darauf vorbereitet, ehe sie nur noch einmal die Welt betreten hatte, in ihr zu leben, wie ein Verschwörer in einer Empörung gährenden Stadt lebt – kundschaftend und erkundet – Pläne schmiedend und gegen sich geschmiedeten begegnend; hier für den Listigen die Krone; dort für den Thoren das Beil des Henkers.

Aber ihre Liebe, denn Liebe ist Vertrauen, hatte sie schon, wenigstens theilweise, aus diesem Labyrinth des Geistes gezogen. Jene Jugendfrische, von Unschuld und Wahrheit belebt, die ihr aus den Augen des Geliebten entgegenzulachen schien – selbst sogar sein Zurückbeben vor jenen ihr schon so natürlich gewordenen Plänen und Intriguen, daß sie dieselben für etwas ganz Unschuldiges hielt, – sein augenscheinliches Selbstvertrauen auf einzige Männlichkeit, mit den einfachen Hülfsmitteln von Ausdauer und Ehrlichkeit – alles das übte eine Anziehungskraft für sie aus, die sie von sich selbst zurückzog. Wenn sie an ihm hing, fest – blind und gläubig – es wäre nicht allein ihr Geliebter, es wäre ihr guter Engel gewesen. Wäre er auch dann gestorben – das Lächeln dieses Engels hätte ihn überlebt und sie gewarnt, Aber er war nicht gestorben, der Engel selbst hatte sie betrogen – jene Flügel konnten sie nicht länger tragen – sie hatten den Schlamm berührt und waren von ihm beschmutzt – mit diesem Flecken schwand auch ihre Stärke. Alles zerrann in Falschheit, Hohlherzigkeit und Trug. – Allein auf's Neue in der weiten Welt, stieg und erstand in ihr das ewige Ich. So starrte sie nieder in diesen Abgrund – Tiefe nach Tiefe öffnete sich vor ihrem Blick, und dieses Dunkel hatte keinen Trost und dieser Höllenschlund kein Ende.

Olivier Dalibard war der Einzige von ihren Bekannten, dem sie den Zutritt gestattete. Er spielte auch seine Rolle gerade so, wie man sie von dem geduldigen, ruhig sein Ziel verfolgenden Charakter dieses Mannes erwarten konnte. Auch die leiseste Andeutung auf seine eigene Zuneigung, seine Hoffnungen, vermied er und zeigte, während er ihr Schweigen ehrte, mehr Theilnahme, als den Wunsch, sie zu trösten. Wenn er sprach, so suchte er mehr ihren Geist zu beschäftigen, als schon jetzt die tiefe Herzenswunde zu heilen. Für Leidende liegt stets ein gewisser Reiz in der Tiefe und Bitterkeit beredten Menschenhasses, Dalibard aber, der angeblich nicht wirklich die Menschen haßte, sondern nur die Welt und ihr Treiben verachtete, hatte eine Gewalt der Rede, die seinen tiefen und manichfaltigen Kenntnissen vollkommen entsprach, und seine Gesellschaft wirkte nicht allein tröstend auf die Leidende, nein, sie wurde ihr sogar bald zum Bedürfniß.

Ob sie aber nun selbst über den Einfluß erschrack, den sie Jenen täglich mehr und mehr über sich selbst erlangen fühlte, oder ob sie, neu erwachend, das stolze Verlangen bewog, noch einmal über Rang und Stand ihrer Nebenbuhlerin und ihres Geliebten emporzusteigen – sie machte noch einen Versuch, die Höhe wieder zu erreichen, von der sie hinabgeschleudert worden.

Der einzige Lebende, dessen Bekanntschaft ihr die große Welt mit all ihrem Glanz und Spielraum für Ehrgeiz aufs Neue eröffnen konnte, war Charles Vernon. Kaum gestattete sie sich selbst auch nur den Gedanken, daß sie einen Antrag von seiner Seite, den sie früher abgewiesen, jetzt annehmen würde; sie glaubte nicht einmal an die Möglichkeit einer solchen Erneuerung, obgleich etwas in dem ritterlichen und uneigennützigen Charakter Vernons lag, was sie wohl nicht mit Unrecht vermuthen ließ, er würde ihre umgestalteten Vermögensumstände eher als einen Aufruf an seine Ehre, denn als ein Entbinden seiner früheren Bewerbung halten. Bis jetzt hatte aber noch weiter gar keine Kommunikation zwischen ihnen stattgefunden, und dies war allerdings auffallend, wenn er überhaupt noch dieselben Absichten hegte, die er in Laughton ausgesprochen. Alle solche Betrachtungen jedoch bei Seite setzend, so hatte Vernon früher ihre Freundschaft gesucht, sie »Cousine« genannt, und jene entfernte Verwandtschaft fast gewaltsam, und zwar nicht als Liebender, sondern nur als Verwandter herbeigezogen.

Er war der einzige Verwandte gleichen Ranges, den sie besaß, und seine Stellung in der Welt, seine Verbindungen, seine glänzenden Bekanntschaften, machten seinen Rath für ihre künftigen Pläne, seine Hilfe in der Wiedererlangung ihrer Stellung (wenn nicht dem Vermögen, doch der Geburt nach), und den Zutritt bei ihres Gleichen, unendlich werthvoll. Es lohnte sich schon der Mühe, die Tiefe der ihr einst gebotenen Freundschaft zu erproben, selbst wenn seine Liebe auch mit dem Vermögen geschwunden gewesen wäre, auf dessen Existenz sie sich doch wohl basirt haben mochte.

Sie that einen kühnen Schritt – sie schrieb an Vernon – nicht aber, um auch nur auf Das hinzudeuten, was einst zwischen ihnen vorgefallen – nein, ihr Stolz hätte solche unweibliche Handlung verschmäht. Das Schlechte, was in ihr war, suchte wenigstens ein gefälliges Aeußere. Sie schrieb ihm nur ganz einfach und hingeworfen, daß sich noch einige Bücher und andere Kleinigkeiten in Laughton befänden, die ihr, weit über deren Werth, lieb und theuer wären; wie sie ferner auch wünsche, da er selbst doch jetzt nicht in Laughton weile, seine Erlaubniß zu erhalten, die alte Heimath noch einmal auf ihrer Durchreise in ein benachbartes County zu ihrem Absteigequartier zu machen, wo er dann irgend Jemand so gefällig seyn würde zu bestimmen, der ihr die wenigen Sachen, zu denen sie ein Recht zu haben glaube, ausliefern könne.

Der Brief war mehr als ein Geschäftsbrief abgefaßt, genügte aber doch vollkommen das zu erforschen, was sie noch von ihrem früheren Bewerber zu erwarten hatte.

Sie sandte ihn zu Vernons Haus in London, und erhielt am nächsten Tage die Antwort.

Vernon, wie wir übrigens gestehen müssen, war ganz mit Sir Miles, was dessen ihm abgenommenes feierliches Versprechen betraf, einverstanden. Nach dem Tode Eines, dem wir Dankbarkeit und Liebe schulden, erhalten auch alle seine ausgesprochenen Wünsche eine Heiligkeit, der wir nicht widerstehen können und wollen; seine Zu- und Abneigung, seine Verpflichtungen, das ihm gethane Unrecht, Alles ist, als ob es uns selbst geschehen. Da also auch Vernon die Kopie von Lucretia's Brief gelesen hatte, und den Sieg sah, den der arme Baronet über Rache und Vergeltung erzwungen, augenscheinlich dabei fest entschlossen, Alles zu thun, um leidenschaftlose Gerechtigkeit zu üben, wie er ja auch für seine Nichte anständig gesorgt hatte, wenn er gleich ihre Rechte als Erbin annullirte, so erfüllte ihn das mit solcher Hochachtung, daß er sich fest entschloß, allen seinen Wünschen und Anordnungen treu zu folgen, und jeder solchen Großmuth zu entsagen, die eine unerwartete Erbschaft leicht gegen den weniger glücklichen Verwandten mit sich bringt.

Trotzdem aber setzte ihn Lucretia's direkte Bitte, ihr förmliches Anrufen seiner Galanterie als Gastfreund und Verwandter, nicht wenig in Verlegenheit, denn er hatte sich von je stets ritterlich und kavaliermäßig gegen das schöne Geschlecht gezeigt. Sein immer freies und offenes Benehmen ließ ihn aber auch in diesem Dilemma freie und offene Handlung als die beste wählen, und er schrieb deshalb also:

 

»Madame! – Unter anderen Umständen würde es mir kein geringes Vergnügen gewährt haben, das Haus, das Sie so lange bewohnten, wieder zu Ihrer Disposition zu stellen. Ich fühle aber wirklich peinlich die Lage, in die mich eine Verweigerung der an mich gerichteten Bitte bringt, denn ehe ich zu Entschuldigungen und Vorwänden greife, mag Ihnen dies, was freilich eher einer Beleidigung gleicht, als ein Beweis meiner Aufrichtigkeit gelten. Ich sehe mich nämlich genöthigt, Ihnen aufrichtig zu bekennen, daß es (in Folge eines aufgefundenen Briefes) der letzte Wunsch und Wille meines seligen Verwandten war, Ihnen die Gastfreundschaft, die Sie bis dahin in Laughton genossen, fortan zu entziehen. Verzeihen Sie mir, Madame, wenn ich mich hier so kurz und geradezu ausdrücke – aber es mag diese Mittheilung auch in Ihren Augen meinen Charakter rechtfertigen, was sowohl die Ehre Ihres Verlangens, als meine Resignation von früher zwar heiß, aber zu vermessen gehegten Wünschen betrifft. In dieser wirklich peinlichen Aufrichtigkeit verhüte es jedoch der Himmel, daß ich absichtlich zu Ihren wohl selbst gerechten Vorwürfen noch die meinigen hinzufügen sollte; ich wäre der Letzte, der das, was Jugend und Unerfahrenheit gefehlt, streng beurtheilen dürfte, das auch sicherlich, hätte Sir Miles Leben erhalten werden können, von Ihnen wieder gut gemacht wäre. Die Gefühle, die Sir Miles in den letzten Tagen hegte, konnten sich wieder ändern; aber ich bin verpflichtet, die Vorschriften zu befolgen, die durch sie hervorgerufen wurden.

Was aber das Geschäft betrifft, das Sie die Güte hatten gegen mich zu erwähnen, so habe ich nur dies darüber zu sagen, daß jeder Auftrag, den Sie dem Steward in dieser Hinsicht geben, oder durch irgend eine andere Person übersenden werden, um jene Ihnen noch werthen Gegenstände zurückzuverlangen, genau befolgt werden soll.

Und glauben Sie mir, Madame (obgleich diese Wünsche die Kränkung nicht vermehren sollen, die Ihnen schon, wie ich fast fürchte, durch diese Zeilen zugefügt ist), daß die Versicherung Ihres Glückes in der Wahl, die sie getroffen, und der nun kein weiteres Hinderniß im Wege steht, sicherlich den Schmerz lindern wird, mit dem ich lange an diese mir so peinliche Antwort Ihrer Zeilen zurückdenken werde.

Ich habe die Ehre &c. &c. &c.

C. Vernon St. John.

Brookstreet, Dec. 28. 18–«

 

Der Empfang eines solchen Briefes konnte kaum den Gram, der an ihrem Herzen nagte, mehren, indem er aber den letzten Versuch zurückstieß, den sie gemacht, um sich dem Schmerz durch Befriedigung des Ehrgeizes zu entziehen, so verdüsterte es nur noch mehr jene trostlose Oede, in der sie ihre Zukunft sah. Wie das Insekt in dem hohlen Trichter des Ameisenbärs, so fühlte auch sie, daß sie keinen Fußhalt an den Seiten des Abgrundes hatte, in den sie gestürzt war – der Sand wich unter dem Tritt. Aber diese Hoffnungslosigkeit verwandelte sich nicht in Demuth – die Wolke löste sich nicht in Regen auf – auf dem Horizont ruhend, wurde ihr düsterer Schleier nur von dem Feuer geröthet, das sie ernährte. Das schon ohnedies so erbitterte Herz war verletzt und zu kaum bezähmbarer Wuth getrieben. Aus der Heimath, die jetzt die ihrige seyn sollte und von wo aus sie als anerkannte Erbin auf den zu Grunde gerichteten Vernon höhnisch hernieder lächeln gewollt, war sie jetzt von diesem selbst als eine Unwürdige und Sündige verbannt. Obgleich auch Vernon aus unverkennbarem Zartgefühl nicht hatte ausdrücklich sagen wollen, daß er den Brief an Mainwaring selbst gelesen, so erklärte es doch der formelle und wenig freundschaftliche Ton wenigstens indirekt, und verrieth zugleich den Eindruck, den er auf ihn gemacht hatte. Ein Lebender war in dem Besitz eines Geheimnisses, das seine Verachtung rechtfertigte, und dieser Lebende war Herr von Laughton. Die unterdrückte Wuth, deren Ursache der verlorene Geliebte war, dehnte sich nun auch auf jenen aus, der um diese unglückliche Liebe wußte. Doch was half ihr der machtlose Zorn gegen beide? Verlassen, verrathen, war sie nicht im Stande, sich zu rächen. Jetzt aber, zu einer Zeit, wo ihre Aussichten die schwärzeste Farbe angenommen, wo die Verzweiflung ihren höchsten Grad erreicht und ihr die Zukunft trostlos und öde entgegen gähnte, jetzt erst wandte sie sich, als an den einzigen, ihr unter der Sonne gebliebenen Freund, an Dalibard, dessen Laster selbst, die sie kannte, in ihr zu Tugenden wurden, denn sie verboten ihm, sie selbst zu verachten. Ohnedies schien dieser Mann jetzt auch noch zu einem höheren Grad von Bedeutung zu steigen – seit kurzem, obgleich sich sein ehrfurchtsvolles Betragen gegen sie immer gleich blieb, hatten seine Mienen etwas Stolzeres, Zuversichtlicheres angenommen – Strahlen heimlicher Genugthuung, ja selbst Freude blitzten aus seinen Worten und Blicken hervor, und er schien sie nur zu unterdrücken, da sie wenig zu dem Zustand paßten, in dem sie selbst sich befand.

Endlich eines Tages und nach einigem vorbereitendem Zögern, erklärte er ihr, daß er wieder frei nach Frankreich zurückkehren könne und wolle, und selbst ohne den jetzt geschlossenen Frieden zwischen Frankreich und England (unter dem Namen des Friedens von Amiens Der Friede von Amiens (25. und 27. März 1802) beendete den Zweiten Koalitionskrieg mit dem napoleonischen Frankreich. bekannt), den Kanal gekreuzt haben würde. Die Sorge und das Interesse seiner in Paris zurückgelassenen Freunde hatten ihn schon der besonderen Aufmerksamkeit jenes wunderbaren Freundes empfohlen, der damals Frankreich regierte, und in seinem Dienste jede verschiedene Art von Geisteskräften zu vereinigen suchte. Er sollte nach Frankreich zurückkehren und dann – ih nun, die Leiter stand an der Mauer des Glücks und sein Fuß auf der ersten Sprosse.

Während er so feurig und selbstbewußt mit der Sicherheit und Kraft eines tüchtigen Mannes sprach, der den zu seinem Ziel führenden Weg klar und deutlich vor sich sieht – als er flüchtig, aber fest die Art seiner Aussichten und Hoffnungen zeichnete, da gewann – jetzt erst auf die wirklichen Umstände des Lebens angewandt, alle jene schlaue Weisheit, die früher nur schwankend und unbestimmt geschienen, praktische Gestalt und praktisches Interesse. Der Geist der Intrigue, der auf ärmliche Pläne verwandt, auch ärmlich erscheint, wuchs bei der Hörerin, als sie ihn mit den gewaltigen Zwecken männlichen Ehrgeizes verwoben sah, zu Staatskunst und meisterhaftem Scharfsinn auf. Unwillkürlich wurde deshalb ihre Aufmerksamkeit immer ernster – ihr Geist immer mehr erregt und hingerissen. Die Aussicht auf ein Feld – weit, weit von dem Schauplatz ihrer Demüthigung und Verzweiflung – ein Feld für Energie, für List und Kampf – zeigte sich lockend ihrem rastlosen Geist. Wie es Dalibard genau berechnet, so lag ihr Herz jetzt matt und krank darnieder – die Quelle war vertrocknet und der dürre Sand darüber gehäuft; aber dafür erhob sich gestört – schlaflos – erregt der Geist. Durch ihren Geist und nur durch ihn wandte er sich an sie und warb um sie.

»So liegt denn,« sagte er, als er aufstand, um Abschied zu nehmen, »die Laufbahn vor mir, die ich mit Lust und freudiger Hoffnung betreten würde, beträte ich sie nicht allein.«

»Allein« – schon mehr als einmal hatte sich Lucretia an diesem Tage das Wort wiederholt – allein. Und welche Laufbahn war für sie bestimmt? auch sie – allein.

In manchem Grad übergroßen Schmerzes lechzen unsere Seelen nach irgend einer Aufregung. Das hat schon Männer zu Spielern, ja es hat Frauen zu Trinkern gemacht, und übt sogar seine Wirkung auf den ruhig besonnenen Weisen. Da sein Sohn stirbt, trauert Göthe nicht – aber gewaltsam vertieft er sich in ein noch unbehandeltes Studium. Nur in dem wilden Kampf des Lebens, in dem Strudel wechselnder Thaten findet das verwundete Herz Alles – den Reiz des Spiels – des Trunks und der Wissenschaften.


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