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Erstes Kapitel.

Eine Familiengruppe.

An einem Juliabend zu Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts waren mehrere Personen ziemlich malerisch auf einer altmodischen Terrasse gruppirt, die an der Gartenseite eines Herrenhauses hinlief, welches bedeutende Ansprüche auf freiherrliche Würde hatte. Die Bauart war im reichsten und sorgfältigsten Style der Regierungszeit Jakobs I. Das Portal, welches mit seinem verzierten Fenster darüber nach der Terrasse führte, war mit Pfeilern und Reliefs, Schmuck und Festigkeit vereinend, eingefaßt, und den großen viereckigen Thurm, in welchem es angebracht war, krönte ein steinerner Falke, dessen trotzige Klauen ein Schild mit den fünf spitzigen Sternen hielten, welche von Wappenkundigen für das Wappen St. Johns erkannt wurden. Von beiden Seiten dieses Thurmes erstreckten sich lange Flügel, deren dunkle Ziegelwände durch schöne steinerne Einfassungen und Simse gehoben waren. Das hohe Dach war zum Theil durch eine Balustrade, ziemlich geschmackvoll mit Arabesken durchbrochen, dem Blicke entzogen; die oberste Linie des Daches aber schmückten mit imposantem Effekte hohe Essen von verschiedener Form und Bauart. Diese Flügel endeten in Eckthürme, ähnlich dem Mittelthurm, obwohl in Größe wie in Schmuck demselben gebührend untergeordnet und mit steinernen Kuppeln gekrönt. Eine niedrige Balustrade, aus späterer Zeit als jene, die das Dach schmückte, umgab, mit Vasen und Statuen besetzt, die Terrasse, von welcher eine doppelte Treppe nach einer Rasenfläche, durchschnitten von breiten Kieswegen und von großen und stattlichen Cedern beschattet, hinabführte, welche sanft und allmälig mit der wilden Scenerie des Paris verschmolz, von welchem sie nur durch ein Haha Ein Graben (genauer: ein langes, schmales, offenes Loch) mit einer Mauer darin, die man vom Boden aus nicht sehen kann und die den Rand eines Gartens oder Parks bildet, ohne die Sicht zu versperren. geschieden war.

Auf der Terrasse und unter einem zeitweiligen Zeltdache saß der Eigenthümer, Sir Miles St. John von Laughton, ein hübscher alter Mann, mit gewissenhafter Sorgfalt nach dem Kostüm gekleidet, welches man ihn als geeignet für seinen Herrenrang zu betrachten gelehrt hatte, und welches gleichwohl nicht so ganz veraltet und ungewöhnlich war. Sein Haar, noch dicht und üppig, war sorgfältig gepudert und hinten in einem Büschel gesammelt. Seine grauen Hosen und perlfarbenen seidenen Strümpfe, ferner die seidene Weste, die sich weit auf der Brust öffnete und eine Fülle von Busenstreif blicken ließ, der leicht mit den duftigen Körnchen seines Lieblings-Martinique bestreut war; sein dreieckiger Hut, der nebst goldknöpfigem Krückstock auf einem Stuhl neben ihm lag, und mehr zum Tragen in der Hand als auf dem Kopfe bestimmt war; der Diamant in seinem Vorhemd, der Diamant an seinem Finger, die Manschetten an seiner Hand – alles dies bezeichnete den feinen Mann, der mit Lord Chesterfield geplaudert und mit Mrs. Clive soupirt hatte. Auf einem Tische vor ihm standen einige Caraffen mit Wein, Früchte der Jahreszeit, eine emaillirte Schnupftabaksdose mit einem eingesetzten weiblichen Portrait – vielleicht der Chloe oder Phyllis seiner frühen Liebesgesänge; eine brennende Kerze, eine kleine Porzellandose mit Tabak und drei bis vier Pfeifen aus heimischem Thon, denn Kirschröhre und Meerschaumköpfe waren damals nicht Mode; Sir Miles St. John, einst ein heiterer und glänzender Stutzer, jetzt ein populärer Landedelmann, groß bei Grafschaftsmeeting und Schaafschurfestlichkeiten, hatte sich das Rauchen angewöhnt, ganz in Harmonie mit seiner bucolischen Umbildung; ein alter Jagdhund lag schlafend zu seinen Füßen; ein kleiner – ebenfalls alter – Hühnerhund schlenderte träge in der nächsten Umgebung und schaute ernst nach solchen Zwiebackbissen umher, die man weit fortgeworfen hatte, um ihn zur Bewegung zu reizen, und die seiner Aufmerksamkeit bisher entgangen waren. Halb sitzend, halb an der Balustrade lehnend, abseits vom Baronet, aber im Bereich seiner Unterhaltung, ruhte ein jugendlicher Mann von unverkennbarer und höchster Eleganz und Vornehmheit. Mr. Vernon war ein Gast aus London, und der Londoner Mensch, der Mann der Clubs und Gesellschaften, der Mittagsspaziergänge durch Bondstreet und der mit dem Prinzen von Wales verlebten Nächte, schien eben so sehr ausgeprägt zu seyn in der sorgfältigen Nachlässigkeit seiner Kleidung und dem erschöpften Ausdrucke seiner feinen Züge, wie in dem trostlosen Ennui, welches, sein Gesicht wie seine Haltung charakterisirend, mit ihm selbst Mitleid zu empfinden schien, daß er sich hatte auf's Land locken lassen.

Wir würden jedoch Mr. Vernon unrichtig schildern, wenn wir durch die Worte »trostloses Ennui« die schläfrige Schalheit der mehr modernen Affektation zu malen beabsichtigten – es war nicht das Ennui eines Mannes, dem Ennui angewöhnt ist; es war vielmehr die unempfindliche Niedergeschlagenheit, welche die Zwischenräume der Aufregung ausfüllt. Damals war das Wort blasirt unbekannt; die Menschen hatten nicht genug Gefühl für Uebersättigung. Es waltete eine Art bacchanalischer Wuth in dem Leben, welches jene Leiter der Mode führten, unter denen Mr. Vernon nicht der unbedeutendste war: es war eine Zeit des Trinkens in vollen Zügen, des hohen Spiels, der fröhlichen sorglosen Verschwendung – eines kräftigen Appetits nach Scherz und Lärm – des Fahrens mit Viergespann – des Preiskampfs – die Zeit einer seltsamen Art barbarischer Männlichkeit, die jeden Nerven anspannte; ein Wettrennen des Lebens, in welchem drei Viertel der Theilnehmer halbwegs in der Rennbahn starben. Was jetzt der Dandy, war damals der Buck, und etwas vom Buck, obwohl gedämpft durch einen reinern Geschmack, als er den gemeinen Mitgliedern dieser Masse eigen, war in Mr. Vernon's Kostüm und Miene sichtbar. Verwickelte Musselinfalten, in ungeheuren Bogen und Zipfeln geordnet, bildeten die Kravatte, zu deren Reform Brummell George Bryan Brummell, auch Beau Brummell genannt (1778-1840), englischer Lebemann und Stilikone seiner Zeit: er war ein Vertreter des modischen Understatements, bevorzugte gedeckte Farben und machte den modernen Herrenanzug mit langen Hosen und geradlinigem Jackett salonfähig; der Krawatte verhalf er zu ihrer weiten Verbreitung. noch nicht aufgestanden war; sein sehr eigenthümlich geformter Hut, niedrig im Kopf und breit am Rande, ward mit einer Trotz-aller-Welt-Miene getragen; seine Uhrkette, mit einer Menge Ringen und Petschaften versehen, hing tief aus seiner weißen Weste; und die Schmiegsamkeit seiner Nanking-Inexpressibeln an seine wohlgeformten Glieder war ein Meisterstück der Kunst. Seine ganze Kleidung und Miene war nicht das, was man eigentlich läppisch nennen konnte – es war vielmehr das, was man zu jener Zeit liederlich nannte. Wenige konnten sich der Gemeinheit so dicht nähern, ohne gemein zu seyn, und unter diesen privilegirten wenigen war einer der Erwählten Mr. Vernon. Weiter abseits und näher bei den Stufen, die in den Garten hinabführten, stand ein Mann in einer Attitude tiefen Sinnens; seine Arme waren untergeschlagen, seine Augen zu Boden gesenkt, seine Brauen leicht zusammengezogen; seine Kleidung bestand in einem einfachen schwarzen Ueberrock und Pantalons von derselben Farbe; etwas, sowohl in dem Schnitte der Kleidung, als noch mehr im Gesichte des Mannes, verrieth den Fremden.

Sir Miles St. John war eine vollkommene Person für jene Zeit; er hatte die große Tour gemacht; er hatte Gemälde und Statuen gekauft; er sprach und schrieb die modernen Sprachen gut; und da er reich, gastfrei, gesellig war, und den Ruf eines Gönners nicht ungern hatte, so stand sein Haus den Schaaren von Emigranten offen, welche die französische Revolution an unsere Küsten getrieben hatte. Olivier Dalibard, ein Mann von bedeutender Gelehrsamkeit und seltenen wissenschaftlichen Talenten, war Lehrer im Hause des Marquis von G– , eines französischen Edelmannes, gewesen, welcher dem alten Baronet seit Jahren bekannt war. Der Marquis und seine Familie waren unter den ersten Emigrirten bei'm Ausbruche der Revolution gewesen Der Hauslehrer war zurückgeblieben; denn damals schien denjenigen keine Gefahr zu drohen, die nach keiner andern Aristokratie, als jener der Wissenschaften strebten. Seinen eigenen Neigungen entgegen, wie er mit reuiger Bescheidenheit sagte, war er, nicht allein seiner eigenen Sicherheit, sondern auch der seiner Freunde wegen, gezwungen worden, einigen Antheil an den nachfolgenden Ereignissen der Revolution zu nehmen – weit entfernt, es zu seyn, hatte er doch den Patrioten so gut gespielt, daß er die persönliche Gunst und Protektion Robespierre's gewonnen hatte; und erst nach dem Falle dieses tugendhaften Vertilgers hatte er sich der Politik entzogen und in Verkleidung seine Flucht nach England bewerkstelligt. Da er, sey es aus freundlichen oder andern Beweggründen, die Macht seiner Stellung in der Achtung Robespierre's dazu verwendet hatte, um gewisse adlige Köpfe – unter andern die beiden Brüder des Marquis von G– , von der Guillotine zu retten, so war er mit dankbarem Willkommen von feinen frühern Gönnern aufgenommen worden, die gern seine Jakobinerlaufbahn verziehen, weil sie seinen Entschuldigungen Glauben schenkten und ihm für die Dienste verpflichtet waren, die ihren Verwandten zu leisten ihn dieselbe Laufbahn befähigt hatte. Olivier Dalibard hatte den Marquis und seine Familie bei einem der häufigen Besuche, die sie zu Laughton abstatteten, begleitet; und als der Marquis endlich England verließ und sein Asyl zu Wien bei einigen Verwandten seiner Gemahlin nahm, empfand er eine lebhafte Freude darüber, seinen Freund anständig, wenn auch bescheiden, als Sekretär und Bibliothekar bei Sir Miles St. John versorgt, zurückzulassen. Wirklich hatte der Gelehrte, welcher bedeutende Bezauberungskraft besaß, die Gunst des englischen Baronets nicht minder, als die des französischen Dictators gewonnen. Er spielte ebenso gut Schach als Triktrak; er war ein außerordentlicher Rechner; er besaß eine Fülle von Kenntnissen in allen Dingen, wodurch er noch brauchbarer wurde denn irgend eine Encyclopädie in Sir Miles Bibliothek, und da er sowohl Englisch als Italienisch so fließend und korrekt sprach, wie es bei einem Franzosen selten anzutreffen, so war er vorzüglich nützlich, um die Sprachen Sir Miles's Lieblingsnichte zu lehren, deren allgemeine wissenschaftliche Erziehung er überhaupt leitete, – und welche zu schildern wir bald eine Gelegenheit finden werden.

Gleichwohl hatte der Annahme der Stelle, welche Sir Miles Dalibard bot, für diesen ein ernstes Hinderniß im Wege gestanden. Dalibard hatte unter seiner Obhut einen jungen verwaisten Knaben von zehn bis zwölf Jahren – einen Knaben, in welchem Sir Miles des Gelehrten eigenen Sohn vermuthete. Dieses Kind war mit Dalibard ans Frankreich gekommen und blieb (während des Marquis Familie in London war) unter der Aufsicht und Pflege seines Vormunds oder Vaters, welches immer das wahre Verhältniß zwischen beiden seyn mochte. Allein diese Aufsicht war unmöglich, wenn Dalibard bei Sir Miles St. John in Hampshire wohnte und der Knabe in London blieb; selbst als der freigebige alte Herr sich erbot, den Unterricht zu bezahlen, wollte Dalibard nicht in die Trennung willigen. Endlich wurde die Sache arrangirt: der Knabe war nach Laughton zu Besuch geladen und war so munter und gleichwohl so gutgeartet, daß man ihn liebgewann und er nunmehr mit seinem muthmaßlichen Vater ordentlich im Hause einquartiert war; und, um aus diesem Verhältniß kein unnöthiges Geheimniß zu machen, es existirte allerdings eine so nahe Verwandtschaft zwischen Olivier Dalibard und Honoré Gabriel Varney – ein Name, welcher den zwiefachen und illegitimen Ursprung andeutet – ein französischer Vater, eine englische Mutter. Auf der Mitte der Treppe saß der Knabe, der sich, Bleifeder und Tafel in der Hand, mit Zeichnen beschäftigte. Blicken wir ihm über die Schulter – es ist seines Vaters Bild – ein Gesicht, welches an sich auf den ersten Blick nicht sehr merkwürdig, denn die Züge waren klein; betrachtete man es aber genau, so war's eines von denen, welches die meisten Personen, namentlich Frauen, hübsch genannt haben würden, und welchem Niemand das höhere Lob des Geistes und der Klugheit versagen konnte. Ein geborner Provençale, mit etwas italienischem Blut in seinen Adern – denn sein Großvater, ein Kaufmann in Marseille, hatte in eine florentinische Familie, die in Livorno wohnte, geheirathet – war die dunkle Gesichtsfarbe, die den Südländern gewöhnlich, wahrscheinlich durch die Lebensweise eines Gelehrten zu einer bronzenen und steten Blässe abgedämpft worden, welche fast schön erschien durch den Kontrast des dunkeln Haars, das er ungepudert trug, und der noch dunkleren Brauen, welche dicht und vorragend über helle graue Augen hingen. Mit den Gesichtszügen verglichen, war der Schädel unverhältnißmäßig groß, sowohl hinten als vorn; und ein Physiognomist würde günstigere Schlüsse für die Kraft, als für die Zartheit des Charakters des Provençalen aus den festgeschlossenen Lippen und der Breite und Festigkeit der eisernen Kinnlade gezogen haben. Aber des Sohnes Skizze übertrieb jeden Zug und legte in den Ausdruck des Gesichts eine boshafte Ironie, die zum mindesten jetzt nicht in der ruhigen und sinnenden Miene zu entdecken war. Gabriel selbst würde, während er dastand, eine lockendere Studie für manchen Künstler gewesen seyn. Allerdings war er klein für seine Jahre; allein sein Körper hatte eine Kraft in seinen leichten Proportionen, welche auf einer frühzeitigen und fast erwachsenen Symmetrie der Gestalt und Muskelentwickelung beruhte. Das Gesicht hatte indeß viel von weiblicher Schönheit; das lange Haar erreichte die Schultern, lockte sich aber nicht; es war gerade, fein, und glänzend wie das eines Mädchens, und in der Farbe von dem lichten Nußbraun, mit röthlichem Anflug, was sich selten verändert, während die Kindheit zum Manne reift. Die Gesichtsfarbe war außerordentlich rein und schön; indeß lag etwas so hartes in der Lippe, etwas so kühnes, obwohl nicht offenes, in der Stirn, daß das Mädchenhafte der Farbe und selbst der Umrisse, im Ganzen doch keinen weiblichen Ausdruck gewähren konnte. All' die angeerbte Scharfsicht und Klugheit war in diesem Augenblicke feinem Gesicht aufgeprägt; aber der Ausdruck hatte auch viel von der Ironie und Bosheit, die er in seine Karikatur gelegt hatte. Die Zeichnung selbst war bewundernswerth kraftvoll und bestimmt, viel künstlerische Anlage verrathend, während die Schnelligkeit und Leichtigkeit, mit der sie entstanden war, bedeutende Uebung anzeigte. Plötzlich wandte sich sein Vater um, und mit ebenso plötzlicher Schnelligkeit barg der Knabe seine Tafel im Kleide und den unheimlichen Ausdruck seines Gesichts unter einem schüchternen Lächeln, während sein Auge Dalibards Blick begegnete. Der Vater winkte dem Knaben, welcher sich behende näherte. »Gabriel,« flüsterte der Franzose in seiner Muttersprache, »wo sind sie in diesem Augenblick?«

Der Knabe zeigte schweigend nach einer der Cedern. Dalibard sann einen Augenblick nach, dann stieg er langsam die Stufen hinab und schritt geräuschlosen Trittes über den weichen Rasen nach dem Baume. Die Zweige desselben fielen tief und breiteten sich weit aus; erst als er sich bis auf wenige Schritte dem Orte genähert, vermochte sein Auge zwei Gestalten, die auf einer Bank unter dem dunkelgrünen Dache saßen, zu bemerken. Darauf blieb er still stehen und betrachtete sie.

Die eine war ein junger Mann, dessen schlichtes Kleid und bescheidene Miene seltsam mit dem kunstreichen Anstand und der modischen Trägheit Mr. Vernons kontrastirten; obwohl aber gänzlich ohne jene namenlose Auszeichnung, welche bisweilen diejenigen charakterisirt, die sich reiner Race bewußt und an die Atmosphäre der Höfe gewöhnt sind, besaß er zum mindesten das natürliche Gepräge der Aristokratie in einer vorzüglich edeln Gestalt und Zügen von männlicher, aber ausgezeichneter Schönheit, die durch einen Ausdruck bescheidener Schüchternheit nicht minder anziehend wurden. Er schien mit achtungsvoller Aufmerksamkeit seiner Gefährtin, einem jungen Mädchen an seiner Seite, zu lauschen, die mit einem in ihren Geberden und ihren belebten Zügen sichtbaren Ernste zu ihm sprach. Und obwohl es an den verschiedenen über der Scene zerstreuten Personen viel zu bemerken gab, so würde doch vielleicht keine – nicht der graziöse Vernon – nicht der gedankenvolle Gelehrte, noch dessen schönhaariger hartlippiger Sohn – auch nicht der schöne Lauscher, den sie anredete – nein, Niemand würde das Auge, sey es eines Physiognomen oder zufälligen Beobachters, so gefesselt haben, wie dies junge Mädchen – Sir Miles St. Johns geliebte Nichte und muthmaßliche Erbin.

Aber da in diesem Augenblicke der Ausdruck ihres Gesichts verschieden von dem war, der ihr gewöhnlich, so verschieben wir die Schilderung.

»Beunruhige Dich« – so sprach sie zu ihrem Gesellschafter »beunruhige Dich nicht durch Uebertreibung der Schwierigkeiten; denke nicht einmal darüber nach – dies sey meine Sorge. Mainwaring, da ich Dich liebte, da ich, indem ich sah, daß Dein Mißtrauen oder Dein Stolz Dir zuerst zu sprechen verbot, die Sittsamkeit oder die Verstellung meines Geschlechts überschritt, da ich sagte: ›vergiß, daß ich die wahrscheinliche Erbin von Laughton bin; sieh in mir nur die Fehler und Verdienste des menschlichen Wesens, des wilden ungebundenen Mädchens; sieh in mir nur Lucretia Clavering (hier errötheten ihre Wangen und ihre Stimme sank zu einem leiseren und behenderen Flüstern herab), und liebe sie, wenn Du kannst!‹ – Da ich so weit ging, glaube nicht, als hätte ich nicht alle die Schwierigkeiten erwogen, die unserer Verbindung im Wege sind, und gefühlt, daß ich sie übersteigen könnte.«

»Aber,« antwortete Mainwaring zögernd, »kannst Du es für möglich halten, daß Dein Oheim je einwilligen werde? Ist nicht Stolz – der Familienstolz – die Haupteigenschaft seines Charakters? Hat er nicht Deine Mutter – seine eigene Schwester – aus seinem Haus und Herzen verbannt, und wegen keines andern Vergehens, als einer zweiten Vermählung, die er unter ihrem Stande erachtete? Hat er je eingewilligt, Deine Halbschwester, das Kind dieser Ehe, nur zu sehen, geschweige denn aufzunehmen? Ist nicht selbst seine Liebe zu Dir mit seinem Stolz auf Dich, mit seinem Glauben an In der Vorlage: »auf«. Dein Ehrgefühl verwoben? Hat er nicht Deinen Vetter, Mr. Vernon, in der deutlichen Absicht gerufen, um eine Bewerbung zu begünstigen, die er für Deiner würdig hält und die, wenn sie glücklich ist, die beiden Zweige seines alten Hauses vereinigen wird? Wie ist es Das Wort fehlt in der Vorlage. möglich, daß er jemals ohne Verachtung und Zorn, die Deinem Glücke verderblich seyn würden, anhören kann, daß Dein Herz in William Mainwaring einen Mann ohne Ahnen und Aussichten zu wählen gewagt hat?«

»Nicht ohne Aussichten!« unterbrach Lucretia stolz. »Glaubst Du nicht, daß Deine Laufbahn, wenn Du Herr von Laughton wärst, glänzender seyn würde, als die jenes müßigem üppigen Stutzers? Glaubst Du, daß ich schwachherzig genug seyn würde, Dich zu lieben, wenn ich in Dir nicht Energie und Talent entdeckt hätte, die meinem eigenen Ehrgeiz entsprechen? Denn ehrgeizig bin ich, wie Du weißt, und darum ist mein Geist, so gut wie mein Herz, mit meiner Liebe zu Dir im Bunde«

»Ach, Lucretia! kann aber Sir Miles St. John meine künftige Erhebung in meiner jetzigen Unbedeutendheit sehen?«

»Ich sage nicht, daß er es kann oder will; aber wenn ich Dich liebe, können wir warten. Fürchte nicht die Nebenbuhlerschaft Mr. Vernons. Ich werde mich von einer so leichten Gefahr zu befreien wissen. Wir können warten – mein Oheim ist alt – sein Zustand schließt die Möglichkeit eines viel längeren Lebens aus – er hat bereits schwere Anfälle gehabt. Wir sind jung, lieber Mainwaring: was ist ein Jahr oder zwei für die, welche hoffen?«

Mainwarings Gesicht veränderte sich und ein unangenehmer Schauer rieselte durch seine Adern. Konnte dies junge Wesen, der Liebling des Oheims, dem dieser vertraute und den er mit Zärtlichkeit pflegte, konnte sie, die eine Pflegerin seiner Schwächen, die Stütze seines Alters, die aufrichtigste Trauernde an seinem Grabe seyn sollte, konnte sie so kalt die Möglichkeit seines Todes erwägen und zugleich auf den Altar und das Grab zeigen?

Die Verlegenheit um eine Antwort ward ihm durch Dalibards Annäherung erspart.

»Ueber eine halbe Stunde abwesend,« sagte der Gelehrte in seiner Muttersprache mit einem Lächeln, während er seine Uhr hervorzog und sie ihr vor die Augen hielt; »glauben Sie nicht, daß Sie von Allen vermißt werden? Meinen Sie, Miß Clavering, daß Ihr Oheim noch nicht nach seiner schönen Nichte gefragt haben wird? Schnell, kommen wir ihm zuvor.« Er bot bei diesen Worten Lucretia seinen Arm. Sie zögerte einen Augenblick und hielt dann Mainwaring ihre Hand hin. Er drückte dieselbe, aber kaum mit der Wärme eines Liebenden; und während sie mit Dalibard zur Terrasse zurückging, schlug der junge Mann langsam die entgegengesetzte Richtung ein, ging durch eine Thür über ein Brückchen, welches vom Haha in den Park führte, und schlug den Weg nach einem See ein, welcher, halb versteckt durch ehrwürdige, reich mit dem sommerlichen Laube geschmückte Baumgruppen, in einiger Entfernung schimmerte. Inzwischen redete Dalibard, noch immer in seiner Muttersprache, während sie nach dem Hause gingen, seine Schülerin in folgender Weise an:

»Sie müssen verzeihen, wenn ich mehr als Sie selbst auf Ihr Wohl bedacht bin, und desgleichen verzeihen, wenn ich mich in Ihre Geheimnisse schleiche und Ihren Stolz verletze. Dieser junge Mann – könnten Sie sich der Thorheit schuldig machen, mehr als ein vorübergehendes Gefallen an seiner Gesellschaft zu empfinden? Mehr als die Unterhaltung, mit seiner Eitelkeit zu spielen? Und wofern dies auch Alles ist, so hüten Sie sich doch, daß Sie nicht in ihr eigenes Netz fallen.«

»Sie beleidigen mich in der That,« sagte Lucretia mit ruhigem Stolz, »und Sie haben kein Recht, in dieser Weise mit mir zu sprechen.«

»Kein Recht,« wiederholte der Provençale traurig; »kein Recht! – Dann habe ich mich freilich in meiner Schülerin geirrt. Meinen Sie, daß ich meinen Stolz erniedrigt haben würde, hier als ein Abhängiger zu bleiben, daß ich, im Bewußtseyn meiner Kenntnisse und vielleicht Talente, die sich selbst im Exil ihren Weg zur Auszeichnung bahnen würden, mein Leben unter diesen ländlichen Schatten zugebracht haben würde, wenn ich nicht ein hohes und ausschließendes Interesse an Ihnen gewonnen hätte? Auf dieses Interesse gründe ich mein Recht, Sie zu warnen und zu berathen. In Ihnen sah, oder glaubte ich wenigstens einen dem meinigen verwandten Geist zu sehen – einen über die Frivolitäten Ihres Geschlechts erhabenen Geist – kurz, einen Geist mit der Kraft und Energie eines Mannes. Sie waren damals nur ein Kind; Sie sind jetzt noch kaum ein Weib geworden; noch hab' ich Ihrem Geiste die kräftige Nahrung nicht gegeben, mit welcher die florentinischen Staatsmänner ihre jungen Fürsten nährten; oder die edlen Jesuiten, die edlen Männer, die bestimmt waren, das geheime Reich des unsterblichen Loyola zu verbreiten.«

»Ich muß gestehen, Sie haben mir Geschmack an einem für mein Geschlecht seltenen Wissen eingeflößt,« antwortete Lucretia, mit einem leisen Anflug von Bedauern in ihrer Stimme; »und in der Kenntniß, die Sie mir mittheilten, hab' ich einen Reiz empfunden, der mir bisweilen nur verderblich zu seyn scheint. Sie haben in meinem Geiste das Gute und Böse vermischt, oder Sie haben vielmehr beides, das Gute und Böse, als todte Asche, als Staub und erloschene Kohle eines Schmelztiegels zurückgelassen. Sie haben nur das Gewissen klug gemacht. Seit Kurzem wünsch' ich, mein Lehrer wär' ein Landgeistlicher gewesen.«

»Seit Kurzem! Seit Sie den Hirtengedichten dieses sanften Korydon gelauscht haben?«

»Sie wagen ihn zu schmähen – und warum? weil er gut und ehrlich ist?«

»Ich veracht' ihn nicht, weil er gut und ehrlich ist, sondern weil er zu der gewöhnlichen ziel- und charakterlosen Menschenheerde gehört. Und wollen Sie dieses Jünglings wegen Ihr Vermögen, Ihren Ehrgeiz und die Stellung zum Opfer bringen, zu der Sie geboren und zu deren Erhöhung Sie erzogen sind – dieses Jünglings wegen, der keine andern Verdienste, als die des Schoßhunds hat – Sanftheit und Schönheit? Ach, zürnen – das Zürnen verräth Sie – Sie lieben ihn!«

»Und wenn ich ihn liebe?« sagte Lucretia, indem sie ihre hohe Gestalt völlig emporrichtete und den Forscher stolz anblickte. »Und wenn ich ihn liebe, was dann? Ist er meiner unwerth? Sprechen Sie mit ihm, und Sie werden finden, daß die edle Gestalt einen nicht minder hohen Geist birgt. Es mangelt ihm nur Reichthum; den kann ich ihm geben. Wenn sein Gemüth sanft ist, so kann ich es zu Ruhm und Macht treiben und führen. Er besitzt zum mindesten Erziehung, Beredsamkeit und Geist. Was hat Mr. Vernon?«

»Mr. Vernon, von ihm sprach ich nicht!«

Lucretia blickte fest in des Provençalen Gesicht, sie sah ihn mit jener erbarmenlosen Miene des Triumphs an, mit welcher ein Weib, welches eine Gewalt über das Herz entdeckt, das sie nicht zu besiegen wünscht, freudig die Gründe widerlegt, die ihr dieses Herz entgegenzustellen scheint.

»Nein,« sagte sie mit ruhigem Tone, welchem das Gift der geheimen Ironie eine verwundende Bedeutung gab, – »nein, Sie sprachen nicht von Mr. Vernon; Sie meinten, daß ich, wenn ich mich umsähe, wenn ich mich näher umschaute, eine bessere Wahl treffen könnte.«

»Sie sind grausam – Sie sind ungerecht,« sagte Dalibard mit zitternder Stimme. »Wenn ich auch einmal einen Augenblick voreilig war, hab' ich mein Vergehen wiederholt? Aber« – fügte er rasch hinzu, »mit mir – so sehr Sie mich zu verachten scheinen – mit mir hätten Sie sich wenigstens keiner der Gefahren ausgesetzt, die Ihnen drohen, wenn Sie Mainwaring ernstlich ihr Herz schenken.«

»Sie meinen, der Oheim würde stolz seyn, meine Hand Monsieur Olivier Dalibard geben zu können?«

»Ich meine und ich weiß es,« antwortete der Provençale ernst und ohne des Spottes zu achten, »daß Sie, wofern Sie mich, den armen Verbannten, gewürdigt hätten, um mich zum beneidenswerthesten Manne zu machen, daß Sie trotzdem die Erbin von Laughton seyn würden.«

»Das haben Sie gesagt und behauptet,« erwiederte Lucretia, deren Stimme deutlich ihre Neugierde verrieth; »allein: wie und durch welche Kunst – so weise und fein Sie sind – vermöchten Sie meines Oheims Einwilligung zu gewinnen?«

»Das ist mein Geheimniß,« erwiederte Dalibard finster; »und da der Wahnsinn, dem ich mich überlassen hatte, auf immer vorüber ist, da ich mein Herz so geschult habe, daß trotz Ihres Spottes nichts mehr darin wohnt, außer eine zärtliche Theilnahme, die ich wohl eine väterliche nennen kann, so lassen Sie uns von diesem peinlichen Gegenstande abbrechen. O, meine theure Schülerin, lassen Sie sich in Zeiten warnen! erkennen Sie die Liebe als das, was sie in der dunkeln und verworrenen Geschichte des wirklichen Lebens in Wahrheit ist, ein kurzer Zauber, den man nicht verachten, aber auch nicht für das Höchste von allem halten soll. Schauen Sie in der Welt umher, betrachten Sie alle Diejenigen, die sich aus Liebe vermählt haben – wohin ist zehn Jahre später die Liebe geflohen? Bei Einzelnen, wo Gemeinschaftlichkeit des Charakters und Strebens vorhanden ist, erwachen allerdings neue Reize, neue Zwecke und Hoffnungen; und hat dann die Liebe einmal Wurzel gefaßt, so fährt sie fort, neue Sprossen und Blüthen zu treiben. Allein täuschen Sie sich nicht, eine solche Gemeinschaftlichkeit existirt nicht zwischen ihnen und Mainwaring. Was Sie seine Güte nennen, werden Sie später als Schwäche verachten lernen; und was in Wahrheit Ihre geistige Kraft ist, darüber wird er bald, nur allzubald, als über etwas Unweibliches und Hassenswerthes schaudern.«

»Nun,« rief Lucretia zitternd, – »und wenn er es thut, so werd' ich Ihnen seinen Haß verdanken, Ihren Lehren, Ihrem tödtlichen Einfluß.«

»Nein, Lucretia! – der Same lag in Ihnen! Kann Pflege das aus dem Boden herauszwingen, was die Natur des Bodens nicht hervorbringen mag?«

»Ich will das Unkraut ausraufen! Ich will mich umwandeln!«

»Kind, ich gebe Sie auf!« sagte der Gelehrte mit einem Lächeln, welches seinem Gesicht jenen Ausdruck lieh, mit welchem sein Sohn ihn gezeichnet hatte. »Ich habe Sie gewarnt und mein Werk ist vollbracht.« Mit diesen Worten verbeugte er sich und verließ sie, um bald an der Seite Sir Miles St. John zu stehen. Einige Augenblicke nachher gingen der Baronet und sein Bibliothekar in's Haus und setzten sich zum Schach.

Wir dürfen indeß nicht glauben, daß während der Gespräche, welche wir skizzirten, Sir Miles so gänzlich in dem sinnlichen Behagen versunken gewesen sey, welches der unsterbliche Raleigh Europa bereitet hat, um seinen Gast und Verwandten zu vernachläßigen.

»Also, Charley Vernon, Rauchen ist nicht Mode in Lunnun,« (so sprach Sir Miles das Wort nach dem Euphemismus seiner Jugendzeit aus).

»Nein, Sir. Doch dafür sind die meisten andern Laster bei uns in voller Kraft«

»Daran zweifl' ich nicht. Man sagt des Prinzen Gesellschaft genießt das Leben sehr rasch«

»Sicherlich erfordert es das Vermögen eines Grafen und die Konstitution eines Preiskämpfers, um mit ihm zu leben.«

»Aber mich dünkt, Master Charley, Du hast weder das Eine, noch das Andere.«

»Und daher seh' ich, in nicht großer Ferne, vor mir das Gefängniß und eine Schwindsucht!« antwortete Vernon, ein leichtes Gähnen unterdrückend.

»'s ist wirklich Schade; denn Du hattest ein schönes, wohlgeordnetes Gut; und bei all' Deinen Fehlern hast Du das Herz eines echten Gentlemans. Hör' an!« setzte der alte Mann in zärtlichem Tone hinzu – »Du bist jung genug, um Dich zu bessern. Eine kluge Heirath und ein gutes Weib wird sowohl Deine Gesundheit, als Deine Felder retten.«

»Haben Sie so hohe Meinung von der Ehe, mein theurer Sir Miles, so muß man sich wundern, daß Sie Ihre Lehren nicht durch Ihr Beispiel bekräftigten.«

»Ei Narr! ich hatte nicht Deine Schwächen! ich war nie ein Verschwender, und ich hab' eine eiserne Constitution!« Es trat hier eine Pause ein. »Charles,« fuhr darauf Sir Miles sinnend fort, »es gibt manchen Grafen, der weniger Vermögen hat, als die vereinigten Güter von Vernon Grange und Laughton Hall betragen. Du mußt mich schon verstanden haben – ich habe die Absicht, der Lucretia meine Güter zu hinterlassen – indeß wünsch' ich doch, daß Du darum nicht weniger von meinem Testament profitiren möchtest. Offen gestanden, gefällt Dir meine Nichte, so wirb um sie; laß Dich hier nieder, während ich noch lebe; laß Grange verwalten und stärke Dich durch frische Luft und ländliche Vergnügungen. Wahrhaftig, Charles, ich habe Dich lieb, Du magst Dich darauf verlassen! – Gieb mir Deine Hand!«

»Und zugleich damit ein dankbares Herz,« sagte Vernon mit offenbar affektirter Wärme, als er aus seiner trägen Position emporfuhr und die dargebotene Hand ergriff. »Glauben Sie mir, ich trachte nicht nach Ihrem Reichthum, und meine Cousine beneid' ich um nichts so sehr, als um die erste Stelle in Ihrer Achtung.«

»Hübsch gesagt, mein Junge; und ich traue Dir auch keine Unwahrheit zu. Was meinst Du also von meinem Plane?«

Mr. Vernon schien verlegen, aber er sammelte sich mit gewohnter Leichtigkeit und erwiederte schlau: »Vielleicht wird es wenig nützen, Sir, wenn ich sage, was ich von Ihrem Plane denke: meine schöne Nichte kann ihn bereits vereitelt haben.«

»Ha, Sir, laß mich Dich ansehen – so – so! – Du machst keinen Spaß. Was zum Henker bedeutet Das? Nun, Mann, sprich es aus!«

»Meinen Sie nicht, daß Mr. Monderling – Mandolin – hm, wie heißt doch gleich der Name – meinen Sie nicht, daß er ein recht hübscher junger Bursch ist?« sagte Mr. Vernon, während er seine Tabaksdose hervorzog und sie seinem Verwandten bot.

»Zum Henker mit Deinem Schnupftabak!« rief Sir Miles in großem Zorn, während er die dargebotene Artigkeit so heftig zurückstieß, daß der halbe Inhalt der Dose auf Augen und Nasen der beiden Hundelieblinge fiel, die zu seinen Füßen schliefen. Der große Hund sprang heftig empor– der Hühnerhund schnaubte und nieste und lief davon, während er jeden Augenblick still stand, um den Kopf zwischen die Pfoten zu nehmen. Der alte Herr sprach weiter, ohne der Leiden seiner stummen Freunde zu achten, was ein Zeichen war, daß er auf ungewöhnliche Weise aus der Fassung gekommen: –

»Willst Du andeuten, Mr. Vernon, daß meine Nichte – meine ältere Nichte, Lucretia Clavering – sich herabläßt, das gute oder schlechte Aussehen Mr. Mainwarings zu bemerken? Den Teufel, Sir, er ist der Sohn eines Landvermessers! Sir! er ist für den Handel bestimmt! Sir, sein höchster Ehrgeiz ist, Theilhaber an einem untergeordneten Handelshaus zu werden!«

»Mein theurer Sir Miles,« erwiederte Mr. Vernon, während er fortfuhr, mit seinem duftigen Taschentuch die Portionen des Schnupftabakregens abzustäuben, die seine Nankin-Inexpressibles von den Sinneswerkzeugen Dasch's und Pontos abgewendet hatten, – »mein theurer Sir Miles, ça n'empêche pas le sentiment

» Empêche den Kukuk! Du kennst Lucretien nicht. Freilich gibt's gar viele Mädchen, die man nicht einem hübschen flötenden Burschen mit schwarzen Augen und weißen Zähnen zu nahe kommen lassen dürfte; aber Lucretia ist nicht von dieser Art; sie besitzt Geist und Ehrgeiz, welche nicht eine Mesalliance gestatten würden; sie hat den Geist und Willen einer Königin – der alten Königin Beß, glaub' ich!«

»Das heißt ihre Talente hochstellen, Sir; ist dem aber so, so unterstütze der Himmel ihren Willen. Ich bin gebührend dankbar für das Heil, welches Sie mir in Aussicht stellen.«

Trotz seines Zornes konnte der alte Herr ein Lächeln nicht unterdrücken.

»Nun, um die Wahrheit zu gestehen, sie ist schwer zu lenken; allein wir, Männer von Welt, wir verstehen hoffentlich Weiber zu regieren, besonders wenn's ein Mädchen zahm zu machen gilt, das kaum aus den Zehnen heraus ist. Was Deinen Einfall anlangt, so ist es damit nichts – Lucretia kennt meine Gesinnung. Sie hat ihrer Mutter Schicksal gesehen; sie hat ihre Schwester aus meinem Hause verbannt gesehen – warum? nicht aus eigener Schuld, das arme Wesen! aber weil sie das Kind der Schmach ist, und der Mutter Sünde wird heimgesucht auf der Tochter Haupt. Ich bin ein gutmüthiger Mann – aber ich bin auch genügend nach alter Art, um mich um meinen Stamm zu bekümmern. Sollte sich Lucretia selbst so weit erniedrigen, diesen Burschen zu lieben, zu ermuthigen – nun, dann würde ich sie aus meinem Testament streichen und Deinen Namen hinsetzen, wo ich den ihrigen geschrieben habe.«

»Sir,« sagte Vernon ernst und indem er alle Affektation seines Betragens bei Seite warf, »dies wird ernsthaft, und ich habe kein Recht, einen Zweifel auch nur leise anzudeuten, aus welchem ich Vortheil zu ziehen scheinen könnte. Ich glaube, es ist unvorsichtig, wenn Sie der Miß Clavering, während sie mich unpartheiisch als Bewerber um ihre Hand betrachten soll, bei ihren Jahren einen Mann in den Weg treten lassen, der mir und den meisten Männern an persönlichen Vorzügen weit überlegen ist – einen Mann, der ihren eignen Jahren mehr angemessen, Bildung und Verstand besitzt, und in seinem Aeußeren oder seiner Erziehung durch nichts seine niedrige Geburt verräth. Ich habe nicht den geringsten Grund, zu glauben, daß er den leisesten Eindruck auf Miß Clavering gemacht habe, und wäre es der Fall, so würde das vielleicht nur die unschuldige und unbefangene Phantasie eines Mädchens seyn, welcher sie sich durch Zeit und verständige Ueberlegung bald entschlagen würde; aber verzeihen Sie, wenn ich unverholen bemerke, daß Sie auch in dem angedeuteten Falle sehr unrecht thun würden, sie zu strafen oder auch nur zu tadeln – sich selbst müßten Sie nur tadeln, daß Sie so unbesorgt waren, und sich gegen die menschliche Natur und jugendlichen Gefühle so verblendeten, denn solche Sorglosigkeit und Blindheit, ich muß es gestehen, ist am wenigsten verzeihlich bei einem Manne, welcher die Welt so genau kennen gelernt hat.«

»Charles Vernon,« sagte der alte Baronet, »gib mir Deine Hand noch einmal! Ich hatte zum wenigsten Recht, wenn ich sagte, Du besäßest das Herz eines ächten Gentleman. Laß diesen Gegenstand für jetzt fallen. Wer ist jetzt dort von Lucretia weggegangen?«

»Ihr protegé – der Franzose.«

»Ach, er zum wenigsten ist nicht blind – geh', und geselle Dich zu Lucretia!«

Vernon entfernte sich, leerte den Rest der Madeiraflasche in ein Glas, trank dasselbe auf einen Zug leer und schlenderte zu Lucretien hin; sie aber lenkte, als sie seine Annäherung gewahrte, rasch in eine der Alleen, die nach der andern Seite des Hauses führten; er seinerseits war entweder zu gleichgültig, oder zu gebildet, um ihr die Gesellschaft aufzudrängen, die sie so offenbar scheuete. Er warf sich der Länge nach auf eine der Bänke auf der Rasenfläche und versank, den Kopf in die Hand stützend, in Gedanken, die, wenn er gesprochen hätte, etwa folgendermaßen gelautet haben würden:

»Wenn ich das Mädchen als Preis dieser schönen Erbschaft nehmen muß, werde ich dabei gewinnen oder verlieren? Ich muß zugeben, sie hat den schönsten Hals und die schönsten Schultern, wie ich sie je in Marmor gesehen; allein weit entfernt, sie zu lieben, flößt sie mir vielmehr ein Gefühl wie Furcht und Abneigung ein. Dazu ist zu bedenken, daß sie offenbar gegen mich keine freundlichere Gesinnung hegt, als ich gegen sie; und wofern sie je ein Herz hatte, so hat es jener junge Herr längst weggeschmeichelt. Schöne Aussichten das auf die Ehe für einen armen Invaliden, der wenigstens in Frieden zu vergehen und zu sterben wünscht! Ueberdies – wenn ich reich genug wäre, um nach Belieben zu heirathen – wenn ich wäre, was ich vielleicht seyn sollte, Erbe von Laughton – ei, da gibt es eine gewisse süße Mary in der Welt, die sanftere Augen hat als Lucretia Clavering – aber das ist ein Traum! – Wenn ich dagegen dieses Mädchen nicht gewinne und mein armer Vetter gibt ihr alle oder fast alle seine Besitzungen, so kommt Vernon Grange zu den Wucherern und für mich wird der König eine Wohnung ausfindig machen. Was hat's zu bedeuten? Ich kann höchstens zwei oder drei Jahr länger leben und kann daher nur hoffen, daß mich der liebe, wackere alte Sir Miles überleben möge. Mit drei und dreißig hab' ich Vermögen und Leben verwüstet; Laughton vermöchte mir wenig Freude zu geben; das Gefängniß aber nur kurzen Schmerz. Wahrlich, es lohnt im Grunde der Mühe nicht, sich da Sorgen zu machen!«

Indem er so den Fortgang seines Sinnens unterbrach, lächelte er und nahm eine andere Lage ein. Die Sonne war untergegangen, die Dämmerung vorüber, der Mond stieg glänzend hinter einem dichten Eichen- und Buchengehölz empor; die vollen Strahlen fielen auf das Gesicht des Träumers, und dies Gesicht schien noch blässer und die Erschöpfung frühzeitigen Verfalls noch deutlicher unter jenem stillen und melancholischen Lichte – alle Ruinen gewinnen im Mondlicht ein erhabeneres Ansehen. Hier war eine edlere Ruine als jene, welche die Maler skizziren – die Ruine, nicht von Stein und Mörtel, sondern von Menschheit und Geist; das Wrack eines Menschen, der frühzeitig gealtert, nicht durch großen Schmerz darniedergeworfen, noch durch große Mühen gebeugt, sondern zerbröckelt und minirt durch kleine Vergnügungen und armselige Reize – klein und armselig, aber täglich, stündlich, jeden Augenblick bei ihrer gnomenartigen Arbeit beschäftigt Etwas von dem Ernste und der wahren Moral der Stunde und Scene drängte sich vielleicht selbst in ein dem Gefühle wenig ergebenes Gemüth, denn Vernon erhob sich matt und murmelte:

»Meine arme Mutter hoffte Besseres von mir. Am Ende ist's gut, daß mit Mary gebrochen ist! Wozu sollte Jemand um mich weinen müssen? Ich kann so desto besser lächelnd sterben, wie ich gelebt habe.«

Da es indeß nothwendig ist, daß wir jeder der Hauptpersonen folgen, die wir im Laufe eines Abends, der mehr oder minder auf das Geschick Aller einflußreich war, eingeführt haben, so kehren wir zu Mainwaring zurück, und begleiten ihn zu dem See in der Tiefe des Parks, den er erreichte, während die glatte Oberfläche unter den letzten Strahlen der Sonne erglänzte. Als er sich dem Wasser näherte, sah er die Fische in der klaren Fluth spielen; das gemähte Gras unter seinen Füßen entsendete den Duft von dem zermalmten Feldkümmel und Klee; der Schwan ruhte still, wie wenn er auf der Fluth schlummerte; der Hänfling und Finke sangen noch in den nahen Wipfeln; und die beladenen Bienen suchten summend den Heimweg; ringsum gewährte Alles den Eindruck jenes unaussprechlichen Friedens, den die Natur demjenigen zuflüstert, der ihre Musik versteht: alles strebte den Geist einzulullen, nicht aber niederzuschlagen; Bilder, die des Feiertags des weltmüden Menschen, der Betrachtung des stillen abgeschiedenen Alters, der Kindheit der Dichter, der Jugend der Liebenden werth sind. Aber Mainwarings Schritt war schwer, seine Stirn umwölkt; die Natur war an diesem Abend stumm für ihn. Am Rande des See's stand ein einsamer Angler, der jetzt (nachdem sein Abendwerk vollbracht) mit Muße beschäftigt war, seine Angel zusammenzulegen und mit vieler Anmuth dabei eine Melodie zu einem von Isaak Waltons Izaak Walton (1593-1683) war ein eigentlich ein englischer Herrenschneider; er veröffentlichte aber auch Lebensbeschreibungen und war ein begeisterter Angler. Als solcher verfasste er »The compleat angler or an contemplative man's recreation« (1653, dt. ›Der vollkommene Angler oder eines nachdenklichen Mannes Erholung‹, 1859), sein Hauptwerk. Liedern pfiff. Mainwaring erreichte den Angler und legte ihm die Hand auf die Schulter:

»Guter Fang, Ardworth?«

»Etliche große Rochen mit der Fliege und einen Hecht mit einem Gründling – ein stattlicher Bursch! – da sehen Sie ihn an! Er lag dort unterm Schilf; ich sah seinen grünen Rücken und lockt' ihn hervor. Ein himmlischer Abend! Mich wundert, daß Sie meinem Beispiel nicht folgen und von einer Gesellschaft, wo wir beide, weder Sie noch ich, uns sehr heimisch finden können, zu diesen grünen Hallen der Natur fliehen, wo wenigstens kein Mensch unterm Salzfaß sitzt. Die Vögel sind eine ältere Familie, als die St. Johns; aber sie halten uns nicht ihren Stammbaum vor's Gesicht, Mainwaring.«

»Nein, nein, mein guter Freund, Sie thun dem alten Sir Miles unrecht; stolz ist er freilich, aber weder Sie noch ich haben uns über seine Anmaßung zu beklagen gehabt.«

»Ueber seine Anmaßung! gewiß nicht – über seine Herablassung, freilich! Ja, William, gerade seine Höflichkeit ist es, die mich erbittert. Bemerken Sie nicht, daß er mit Vernon, oder Lord A–, oder Lord B–, oder Mr. C–, sich leicht und ungebunden beträgt, sie bei ihren Namen ruft, ihnen auf die Schultern klopft, sie tadelt und auf sie schimpft, wenn sie ihn necken; aber mit Ihnen und mir und seinem französischen Schmarotzer ist er in allem steif, höflich und gewissenhaft artig: ›Mr. Mainwaring, es freut mich, Sie zu sehen;‹ ›Mr. Ardworth, da Sie so nahe dabei sind, darf ich Sie wohl bitten, die Klingel zu ziehen;‹ ›Mr. Dalibard, ganz unmaßgeblich wage ich, Ihrer Meinung zu widersprechen.‹ Indeß lassen Sie sich durch meine thörichte Auffassung nicht kränken. Sie haben auch einen würdigen Gegenstand dort, der Sie wohl von Hechten und Gründlingen abhalten kann. Haben Sie Ihre Unterredung mit der trefflichen Lucretia weggestohlen?«

»Ja, wie Sie sagen, gestohlen, und ich bin, wie alle nicht ganz verhärteten Diebe, beschämt über meinen Raub.«

»Setzen Sie sich, mein Lieber, hier ist ein herrlicher Ort; da, auf die alte Wurzel stützen Sie Ihren Ellbogen, dies weiche Moos ist Ihr Kissen. Setzen Sie sich und beichten Sie, Sie haben etwas auf dem Herzen, was Sie quält; wir sind alte Schulfreunde – heraus damit!«

»Man kann Ihnen nicht widerstehen, Ardworth,« sagte Mainwaring lächelnd, indem er seine Zurückhaltung und seine Schwermuth vor der offenen guten Laune seines Gefährten abstreifte. »Freilich möchte ich meinen Busen gern davon befreien. Vielleicht kann ich auch Ihren Rath nützen. Erstlich wissen Sie, daß mein Vater, nachdem ich die hohe Schule verlassen und da ich keine Neigung für die Kirche bezeigte, für welche er mich im Stillen stets bestimmt und derentwillen allein er mich die Universität wollte beziehen lassen, mir die Wahl stellte, mich entweder seinem eigenen Geschäft als Feldvermesser zu widmen, oder ein Kaufmann zu werden. Ich wählte das Letztere und ging nach Southampton, wo ein Verwandter von uns diesem Berufe angehört, um mich in die Elementarmysterien einweihen zu lassen. Dort ward ich mit einem wackeren Geistlichen und seiner Gattin bekannt und in diesem Hause verlebte ich einen großen Theil meiner Zeit.«

»Doch wohl, nach besserer Ueberlegung, in der Hoffnung, Ihres Vaters Ehrgeiz zu befriedigen und zu lernen, wie man mit Anstand auf einer Pfarre Hungers stirbt!«

»Das leider gerade nicht«

»Also hatte der Geistliche eine Tochter?«

»Jetzt sind Sie dem Ziele näher,« sagte Mainwaring erröthend; »wiewohl sie nicht seine Tochter war; es lebte ein junges Mädchen in der Familie, die derselben nicht einmal verwandt war; ein reicher Verwandter hatte sie gegen ein gewisses Kostgeld dorthin gebracht. Mit einem Wort, ich bewunderte, ja ich liebte vielleicht diese junge Person; allein sie war nicht unabhängig, und ich war noch nicht einmal mit dem Surrogat des Geldes, mit einem Geschäft, versorgt. Ich glaubte (Sie dürfen nicht über meine Thorheit lachen), daß meine Gefühle erwiedert werden möchten. Ich war ihretwillen sowohl, wie meinetwegen besorgt; ich sondirte den Geistlichen hinsichtlich der Möglichkeit einer Einwilligung von Seiten des Verwandten, und erfuhr, daß darauf nicht zu hoffen sey. Ich fühlte, daß ich kein Recht hätte, sie zu Armuth und Untergang einzuladen, und noch weniger, ferner ihre Neigung zu fesseln (wofern ich überhaupt schon Eindruck gemacht hatte). Ich gab meinem Vater einen Vorwand an, um die Stadt zu verlassen, und kehrte nach Hause zurück.«

»So weit klug und ehrenvoll genug; nicht wie ich, der ich mit dem Mädchen davon gelaufen wäre, wenn sie mich liebte, und der alte Plutus, der Schuft, hätte sehen mögen, wie er mit Kupido fertig geworden wäre. Doch ich unterbrach Sie.«

»Ich kam zurück, als die Grafschaft sehr aufgeregt war: Oeffentliche Meetings, Reden, Aufläufe – es wurde mit großem Eifer eine Wahl vorgenommen. Mein Vater hatte sich stets bedeutend für Politik interessirt; er gehörte zu derselben Partei wie Sir Miles, der, wie Sie wissen, ein eifriger Politiker ist. Leicht ließ ich mich verleiten – theils ans Ehrgeiz, theils durch fremdes Beispiel, theils in der Hoffnung, meinen Gedanken eine neue Richtung zu geben – öffentlich im Publikum aufzutreten.«

»Und mit welchem Effekt! Ja, Mensch, man hat Ihre Reden mit Entzücken in den Londoner Blättern angeführt. Entsetzlich aristokratisch und Pittisch allerdings; – ich denke anders, indeß, ein Jeder nach seinem Geschmack. Wohl –«

»Meine Versuche, so wie sie eben waren, verschafften mir die Gunst Sir Miles'. Er war lange mit meinem Vater bekannt gewesen, der ihm vor Jahren in seinen eigenen Wahlen geholfen hatte. Es schien ihn herzlich zu freuen, des Sohnes Gönner zu werden; er lud mich ein, ihn zu besuchen und gab meinem Vater einen Wink, daß ich mich zu etwas Besserem, als für ein Komptoir eignete. Mein armer Vater war bezaubert. Mit einem Wort. ich bin hier – und war hier oft Tage, ja Wochen lang – ein stets willkommener Gast.«

»Sie halten inne. Das war die Einleitung – nun kommt die Beichte, nicht?«

»Nun, eine Hälfte der Beichte ist schon abgelegt. Ich hatte das ganz unverdiente Glück, die Aufmerksamkeit der Miß Clavering auf mich zu ziehen. Halten Sie mich nicht für so selbstgefällig, daß ich mich jemals hätte so hoch versteigen können; was jedoch –«

»Was jedoch Aufmunterung betrifft – ich verstehe! Nun, sie ist jedenfalls ein herrliches Wesen, und mich wundert nicht, daß sie das arme kleine Mädchen in Southampton aus Ihren Gedanken vertrieb.«

»Ach! das ist der wunde Fleck. – Ich bin nicht gewiß, ob sie dies gethan hat. Ardworth, darf ich auf Sie bauen?«

»In jeder Hinsicht, ausgenommen, wenn's eine halbe Guinee gilt. Ich möchte nicht versprechen, ein Stein bei einer so großen Versuchung zu bleiben;« dabei wandte Ardworth seine leeren Taschen um.

»Still, seyn Sie ernsthaft! – oder ich gehe.«

»Ernsthaft! Mit Taschen, wie diese da, müßte der Teufel d'rin sitzen, wenn ich nicht ernsthaft seyn wollte. Perge, precor. »Wohlan, ans Werk nun, bitt' ich!««

»Wohlan, Ardworth,« sagte Mainwaring in großer Bewegung »ich vertraue Ihnen die geheime Unruhe meines Herzens. Jenes Mädchen zu Southampton ist Lucretia's Schwester – ihre Halbschwester; der reiche Verwandte, von dessen Kostgeld sie lebt, ist Sir Miles St. John.«

»Ah! – meine eigene arme kleine Cousine von Vaters Seite! Mainwaring, ich hoffe, Sie haben mich nicht getäuscht; Sie haben sich nicht damit unterhalten, Susanna's Herz zu brechen – denn ein Herz, und ein sittiges, einfaches, englisches Mädchenherz hat sie.«

»Der Himmel verhüte es! – Ich sage Ihnen, ich habe ihr nicht einmal meine Liebe erklärt – und wenn es Liebe war, so ist hoffentlich alles vorüber. Aber als Sir Miles zuerst freundlich gegen mich war, mich zuerst einlud, ich gestehe, da hatte ich die Hoffnung, seine Achtung zu erwerben, und da er stets einen so starken und grausamen Unterschied zwischen Lucretia und Susanna gemacht hatte, so hielt ich es nicht für unmöglich, daß er zum wenigsten meine Verbindung mit der Nichte genehmigen möchte, die er nicht aufnehmen und anerkennen mochte. Aber gerade während diese Hoffnung in mir lebte, ward ich angezogen – gefangen – zaubergefesselt – ich weiß nicht wie und warum. Allein um alles zu gestehen, während ich noch zweifelhaft bin, ob mein Herz vom Andenken an die eine Schwester frei ist, bin ich der andern verlobt.«

Ardworth blickte ernst vor sich nieder und schwieg. Er war ein heiterer, sorgloser, unbekümmerter Jüngling, mit unstetem Charakter und Streben – dazu mit einem vagen poetischen Gefühl, und einem unfügsamen Stolz in seinem Wesen – einer von den Jünglingen, die sich nicht leicht so benehmen, was man in der Welt gut nennt – nicht beharrlich genug für eine unabhängige Laufbahn – zu schlicht und ehrenhaft für eine knechtische. Allein gerade im Charakter einer solchen Person konnte es liegen, etwas hart über Mainwarings Eröffnung zu urtheilen, und nicht einmal leicht zu begreifen, was sehr natürlich war: wie ein junger Mann, neu im Leben, schüchtern von Charakter und äußerst befangen von der Besorgniß, Schmerz zu bereiten, sich im Gefühle der Ueberraschung, der Dankbarkeit, der Rührung über die gestandene Neigung eines Mädchens, die in äußerer Stellung weit über ihm war, hatte zwingen lassen, die empfangene Neigung wenigstens scheinbar zu erwiedern. Und wenn er auch wirklich nicht ganz unempfindlich gegen die glänzenden Aussichten geblieben war, die sich ihm bei solcher Verbindung eröffneten, so würde sich Mainwaring, um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, doch eben so gut durch ein ähnliches Geständniß von einem, ihm in äußerlichen Verhältnissen näher stehenden Mädchen haben einnehmen lassen. Es war mehr eine an Schwachheit grenzende Freundlichkeit, als andere niedrigere moralische Unvollkommenheiten daran schuld, daß er sich in eine Stellung hatte bringen lassen, die weder seinem Herzen zusagte; noch sein Gewissen zufrieden stellte.

Bei weit weniger Gewandtheit als sein Freund hatte Ardworth mehr Kraft und Stetigkeit in seinem Charakter, und war völlig frei von jenem krankhaften Zartgefühl des Gemüths, dem empfindliche und schüchterne Personen viel von ihren Fehlern und ihrem Mißgeschick verdanken. Er sagte daher nach einer langen Pause: »Mein guter Freund, um offen gegen Sie zu seyn, kann ich nicht sagen, daß Ihr Bekenntniß Sie in meiner Achtung höher gestellt hätte; aber das beruht vielleicht nur auf der Einfachheit meiner Ansichten. Ich würde mir vollkommen erklären können, daß Sie Susannen vergessen, (und am Ende bin ich doch immer noch in Zweifel, in wie weit Sie von ihr besiegt waren,) gegenüber den so verschiedenen Reizen ihrer Schwester. Auf der anderen Seite könnte ich noch besser begreifen, daß Sie, einmal von Susannen bezaubert, sich nicht Liebe für Lucretia gebieten lassen könnten. Allein ich begreife nicht, wie Sie für Eine Liebe empfinden und für die Andere Liebe vorgeben können – das ist das Kurze und Lange von der Sache. … das ist der langen Rede kurzer Sinn‹ oder: ›darauf läuft es doch hinaus‹ (Der Übersetzer überträgt hier die Redewendung »the long and she short« wortwörtlich …)«

»Sie haben dieselbe nicht ganz wahr dargestellt,« antwortete Mainwaring, indem er sich anstrengte, ruhig zu bleiben. »Es gibt Augenblicke, wo ich, während ich Lucretien zuhöre und mich jene Sanftheit bezaubert, die mit ihrem Charakter im Uebrigen kontrastirt und die sie nur gegen mich blicken läßt, während mich ihre großen geistigen Eigenschaften überraschen, wo ich, stolz auf den ungesuchten Sieg über ein solches Wesen, des Glaubens bin, als könne ich keine Andere als sie lieben; dann verwandelt sich plötzlich ihre Stimmung, sie äußert Gefühle, die mich empören und schaudern lassen – und die Schönheit schwindet selbst von ihrem Gesicht. Mit einem Seufzer gedenke ich der einfachen süßen Sanftmuth Susannens und mir wird, als hätte ich meine Geliebte und mich selbst betrogen. Indeß vereinigen sich jetzt vielleicht alle Umstände dieser Verbindung, um meine Zweifel zu beseitigen. Es ist demüthigend für mich, daß ich heimlich werbe, daß ich mich gleichsam in ein Besitzthum hineinstehle, daß ich Sir Miles' Brod esse und doch auf seinen Tod zähle; und diese Scham in meinem Innern kann mich unwillkürlich ungerecht gegen Lucretia machen. Aber es ist unnütz, mich wegen des Vergangenen zu tadeln, und obwohl ich anfangs glaubte, Sie könnten mir für die Zukunft rathen, so sehe ich nun doch deutlich, daß kein Rath frommen könnte.«

»Das glaube ich auch – denn Alles, was Sie brauchen ist, daß Sie sich entweder von der alten Liebe ordentlich frei machen, oder mit der neuen ehrlich fortfahren. Da Sie jedoch Ihre Angelegenheit so offen berichtet haben, so will ich mit Ihrer Erlaubniß den seltenen Umstand, daß ich mich hier befinde, nützen, und beobachten, erwägen und rathen, wenn ich kann. Diese Lucretia setzt mich, ich muß es gestehen, in Erstaunen und macht mir zu schaffen – indeß werde ich, wenn ich gleich kein Oedipus, dennoch die Sphinx nicht fürchten. Ich denke, es ist jetzt Zeit, zurückzukehren. Sie erwarten einige Nachbarn zum Thee und ich muß meine Fischerjacke ablegen. Kommen Sie!«

Während sie nach dem Hause gingen, unterbrach Ardworth ein Schweigen, welches einige Augenblicke gewährt hatte, mit den Worten: »Und wie gehts dem lieben guten Fielden? Ich hätte gleich an ihn denken sollen, als Sie von Ihrem Geistlichen und seinem jungen Schützling sprachen; aber ich wußte nicht, daß er in Southampton war.«

»Er hat seine Stelle auf ein Jahr wegen der Gesundheit seiner Gattin verlassen, und noch mehr, vermuthe ich, weil er die arme Susanne näher nach Laughton zu bringen wünschte, wo es möglich ist, daß ihr Oheim sie sehen kann. Sie sind also bekannt mit Fielden?«

»Bekannt! – er ist mein bester Freund! Er war mein Lehrer und bereitete mich auf die hohe Schule vor. Ihm verdanke ich nicht nur die wenigen Kenntnisse, die ich habe, sondern auch das wenige Gute, was in mir geblieben ist. Ihm verdanke ich desgleichen jede etwaige Verbesserung meiner Aussichten, die aus meinem Besuche in Laughton erwachsen kann.«

»Trotz unserer Vertraulichkeit haben wir, gleich den meisten jungen Männern, die nicht verwandt sind, so wenig von unseren Familienangelegenheiten gesprochen, daß ich noch nicht weiß, wiefern Sie Susannens Vetter sind, noch den Anlaß, der Sie zu meiner Ueberraschung und Freude vor drei Tage hieher brachte.«

»Nun, meine Geschichte ist leichter zu erklären, als die Ihrige, William. Sie lautet so!«

Da indeß Ardworths Erzählung sich zum Theil auf Familienangelegenheiten bezieht, die dem Leser noch nicht genügend bekannt sind, so wird man uns verzeihen, wenn wir selbst das Amt des Erzählers übernehmen und die einzelnen Umstände ausführlich berichten.

Der Zweig der berühmten Familie St. John, den Sir Miles vertrat, trennte sich von der Linie der Lords von Bletshoe. Mit ihnen stellte er an die Spitze seines Stammbaums den Namen Williams de St. John, des Eroberers Günstling und vertrauten Krieger, und Oliva de Filgiers. Mit ihnen rühmte es sich der späteren Verbindung, welche Sir Oliver St. John die Ländereien von Bletshoe durch die Hand der Margareta Beauchamp zubrachte (welche durch ihre zweite Ehe mit dem Herzog von Somerset, Großmutter Heinrich VII. ward). In der folgenden Generation hatte der jüngere Sohn eines jüngeren Sohns, theils durch Staatsämter, theils durch die Vermählung mit einer reichen Erbin, ein eigenes Haus gestiftet; und unter der Regierung Jakobs I. gehörten die St. Johns von Laughton unter die ersten Edelleute von Hampshire. Von dieser Zeit bis zur Thronbesteigung Georgs III. hatte die Familie, obwohl sie unbetitelt blieb, ihr Ansehen durch vornehme Ehebündnisse erhöht, welche in der That mit einer der englischen Aristokratie nicht sehr gewöhnlichen Rücksichtslosigkeit auf Geld geschlossen wurden, so daß der Besitzstand sich seit Jakobs Regierungszeit nur wenig erweitert hatte, während er dennoch, wie sich versteht, durch verbesserte Bewirthschaftung und den höheren Werth des Geldes gestiegen war. Andererseits befanden sich vielleicht nicht zehn Familien im Lande, welche sich einer ähnlichen allseitigen direkten Abstammung von der stolzesten und edelsten Aristokratie rühmen konnten; und Sir Miles St. John stand nach einem Zeitraum von beinahe acht Jahrhunderten als ebenso reiner Normann da, wie sein Urahnherr Wilhelm. Sein Großvater war indeß von der gewöhnlichen uneigennützigen Sitte der Familie abgewichen und hatte eine Erbin geheirathet, welche dem reichen Wappenschild noch das Feld von Vernon zubrachte und mit diesem Felde ein Besitzthum, allgemein bekannt unter dem Namen Vernon Grange, welches jährlich an 4000 Pfund trug. Dieses seltene Ereigniß steigerte das häusliche Glück der kontrahirenden Parteien nicht und führte ebenso wenig die Vergrößerung der Besitzungen Laughtons herbei. Es wurden zwei Söhne geboren. Für den älteren ward des Vaters Erbe bestimmt, für den jüngeren das mütterliche Vermögen. Ein Haus ist nicht groß genug für zwei Erben. Nichts überstieg den Stolz des Vaters als eines St. John, ausgenommen der Stolz der Mutter als einer Vernon. Eifersucht zwischen den beiden Söhnen erwuchs früh und wurzelte tief; auch ward nicht eher Friede zu Laughton, als bis der Jüngere von hier nach seinem Besitzthum Vernon Grange gezogen war. Der Aeltere blieb zurück genau in dem Besitzstand wie seine Ahnen, als alleiniger Herr von Laughton. Der älteste Sohn, Sir Miles Vater, war in der That durch die Feindseligkeit mit seinem Bruder so weit gebracht worden, daß er im Ueberdruß davon gegangen und sich, vierzehn Jahr alt, zur Marine begeben hatte. Durch Zufall oder Verdienst stieg er in diesem Berufe hoch, erlangte Namen und Ruhm und verlor ein Auge und einen Arm, wofür er gleichzeitig als Admiral und Baronet der Welt angekündigt wurde.

So verstümmelt und gewürdigt zog sich Sir George St. John von jener Laufbahn zurück; und da er unvermählt war und ihn die Besorgniß beschlich, daß, wenn er kinderlos stürbe, Laughton auf seines Bruders Erben übergehen würde, so beschloß er, seine Trümmern, vor dem sicherern Frieden der Familiengruft, dem Ehebett anzuvertrauen. Im Alter von fünf und sechzig gelang es dem mürrischen alten Degen eine junge Dame von tadelloser Abkunft und sehr ausgezeichnet durch die Pocken » much marked with the small-pox«: stark von den Pocken gezeichnet. zu finden, welche einwilligte, die einzige Hand anzunehmen, die Sir George zu bieten vermochte. Aus dieser Ehe entsprang eine zahlreiche Familie, allein alle starben in früher Kindheit, todtgefürchtet, wie die Nachbarn sagten, durch ihre zärtlichen Eltern (die für das häßlichste Paar in der Grafschaft galten), ausgenommen ein Knabe (der gegenwärtige Sir Miles) und eine, um viele Jahre jüngere Tochter, welche Lucretia's Mutter werden sollte. Sir Miles trat sein Erbe frühzeitig an; und obwohl der mildernde Fortschritt der Civilisation, so wie die liberalen Wirkungen des Reifens und eines langen Aufenthalts in Städten jene provinzielle Härte des Stolzes von ihm gestreift hatte, die man in größter Vollendung nur unter den Herren eines Dorfes findet, so war er doch nicht viel minder eifrig in Beobachtung der Pflichten, um seinen Stammbaum so rein zu erhalten, wie dessen Vertretung auf ihn übergegangen, der nun der stolzeste seiner Ahnen war. Allein er führte, wie man sagte, in Folge einer frühen Enttäuschung, als Jüngling und Mann ein unstetes und unruhiges Leben und schob so von Jahr zu Jahr das große eheliche Experiment hinaus, bis er alt wurde und den weisen Entschluß faßte, von den andern Zweigen seines Hauses den Nachfolger in der Erbschaft von St. John zu suchen. Während er sich so selber ein Recht, seine persönlichen Pflichten als Haupt einer Familie zu vernachläßigen, anmaßte, fand er seine Entschuldigung darin, daß er seine Nichte Lucretia adoptirte. Seine Schwester hatte zu ihrem ersten Gemahl einen Freund und Nachbar von ihm gewählt, einen jüngeren Sohn von tadelloser Herkunft und sehr angenehmen gesellschaftlichen Sitten. Allein dieser Herr bereitete ihr ein so beklagenswerthes Leben, daß seine Wittwe, obwohl er fünfzehn Monate nach der Vermählung starb, nicht wohl lange um ihn trauern konnte. Ein Jahr nach Mr. Claverings Tode vermählte sich Mrs. Clavering wieder, und zwar in der irrigen Meinung, daß sie ein Recht hätte, selbst zu wählen. Sie heirathete Dr. Mivers, den Arzt, der ihren Gemahl während seiner letzten Krankheit behandelt hatte; er war ein Gentleman von Erziehung, gutem Benehmen und einträglichem Beruf, aber unglücklicherweise der Sohn eines Seidenhändlers. Diese Verbindung vergab Sir Miles nie. Aus ihrer ersten Ehe hatte Sir Miles Schwester eine Tochter, Lucretia; aus ihrer zweiten Ehe ebenfalls eine Tochter, Namens Susanna. Die Geburt der letztern überlebte sie etwas über ein Jahr; bei ihrem Tode forderte Miles förmlich (durch seinen Anwalt) von Dr. Mivers seine älteste Nichte, Lucretia Clavering, und der Arzt hielt sich nicht für berechtigt, dieselbe der muthmaßlichen Vortheile zu berauben, die eine Versetzung aus seinem Hause in das ihres reichen Oheims für sie haben mußte. Er selbst hatte durch seine Verbindung nicht an irdischem Gute gewonnen; seine Praxis hatte wesentlich durch die Sympathie gelitten, welche die Familien der Grafschaft mit Sir Miles St. John wegen der vermeinten Kränkungen empfanden; denn der letztere war nicht nur persönlich beliebt, sondern auch geachtet und zwar bei all' seinem Stolz, zu erhaben, um seines häuslichen Aergernisses selbst nur zu erwähnen, außer gegen seine vertrautesten Freunde; – gegen diese hatte Sir Miles allerdings geäußert, daß er einen Arzt, der seinen Zutritt in einem edlen Hause mißbrauche, um sich in die Verwandtschaft desselben einzuschleichen, als einen Menschen betrachte, an dessen Bestrafung der ganzen Gesellschaft gelegen seyn müsse. Diese Worte wurden wieder erzählt; man hielt sie für gerecht. Diejenigen, welche anzudeuten wagten, daß Mrs. Clavering als Wittwe frei handeln durfte, wurden mit Argwohn betrachtet. Es war die Zeit, als man die französischen Principien mit Abscheu zu betrachten begann, zumal in den Provinzen, und wenn sich irgend etwas gegen die Rechte und Vorurtheile der Hochgeborenen regte, so hieß das ein »Französisches Princip.« Dr. Mivers ward so sehr mißachtet, als wenn er ein Sansculotte gewesen wäre. Genöthigt die Grafschaft zu verlassen, ließ er sich in einiger Entfernung nieder; aber er mußte da von vorn eine Berufslaufbahn beginnen; seiner Gattin Tod schwächte seinen Muth und hatte einen gleichen Einfluß auf seine Anstrengungen. Er vermochte nicht viel mehr, als seinen dürftigen Unterhalt zu gewinnen und starb endlich, als seine einzige Tochter vierzehn Jahre zählte, arm und in Bedrängniß. Auf seinem Todbett schrieb er einen Brief an Sir Miles und erinnerte diesen, daß Susanna am Ende ja doch seiner Schwester Kind sey, während er sich zugleich sanft gegen die unverdiente Anschuldigung der Verrätherei vertheidigte, wodurch seine Vermögensumstände zerrüttet worden und seine verwaiste Tochter blutarm geblieben war; er schloß mit einer ergreifenden, wiewohl männlichen Berufung an den einzigen Verwandten, welcher für die Arme übrig war. Der Geistliche, der in den letzten Augenblicken bei ihm gewesen, übernahm die Bestellung des Briefes; er brachte denselben persönlich nach Laughton und übergab ihn Sir Miles. Welche Fehler er auch haben mochte, der alte Baronet war doch kein gemeiner Mensch. Er war nicht rachsüchtig, obwohl er nicht versöhnlich heißen konnte. Sein Verfahren gegen seine Schwester hatte er als eine Pflicht betrachtet, die er seinem Namen und seinen Ahnen schuldig war; sie hatte sich und ihr jüngstes Kind von selbst aus seiner Familie verbannt. Er mochte die Enkelin eines Seidenhändlers nicht als seine Nichte aufnehmen. Die Verwandtschaft war erloschen, so wie in gewissen Ländern der Adel durch Verbindung mit einer niedrigeren Klasse verwirkt wird. Indeß, ob Nichte oder nicht, es lag doch ein Anspruch auf Humanität und Wohlwollen vor, und noch nie hatte ein Leidender vergebens sein Herz und seine Börse in Anspruch genommen

Er beugte sein Haupt über den Brief, als sein Blick zu der letzten Zeile kam und verharrte so lange in Schweigen, daß sich der Geistliche endlich, gerührt und hoffend, ihm näherte und seine Hand ergriff. Es war das die Regung eines wackeren Mannes und guten Priesters. Sir Miles blickte staunend empor; aber das ruhig bittende Gesicht, welches sich zu ihm beugte, trieb jedes Erwachen des Stolzes zurück.

»Sir,« sagte er zitternd, während er die Hand drückte, welche die seinige gefaßt hielt, »ich danke Ihnen. Ich bin in diesem Augenblick nicht im Stande zu entscheiden, was zu thun ist; morgen sollen Sie es hören. Der Mann starb also arm? Doch nicht dürftig?«

»Trösten Sie sich, Sir; er hatte am Ende alles, was Krankheit und Sterben erheischen, außer eine Gewißheit, die ich ihm zuzuflüstern wagte – und, wie ich hoffe, nicht zu vorschnell – nämlich, daß seine Tochter nicht unbeschützt zurückbleiben werde. Und ich bitte Sie, zu bedenken, mein theurer Sir, daß –«

Sir Miles wartete den Schluß des Satzes nicht ab; er brach kurz ab und verließ das Zimmer. Mr. Fielden (so hieß der wackere Geistliche) fühlte Vertrauen auf den Erfolg seiner Sendung, aber um desselben desto gewisser zu seyn, suchte er Lucretia auf. Sie war damals siebzehn Jahre. Das ist ein Alter, wo das Herz gewöhnlich offen ist für Familienbande – für das Andenken einer Mutter – für den süßen Schwesternamen. Er suchte das Mädchen, erzählte ihr die Geschichte und verwendete sich für ihre Schwester. Lucretia hörte schweigend zu; weder Auge noch Lippe verrieth eine Bewegung; aber ihre Farbe wechselte mehrmals. Das war das einzige Zeichen, daß sie bewegt war – bewegt, allein wie? Fieldens Kenntniß des menschlichen Herzens konnt' es nicht errathen. Als er fertig war, ging sie rasch zu ihrem Schreibtisch (die Unterredung fand in ihrem eigenen Zimmer statt), schloß ihn mit zögernder Hand auf, und nahm ein Taschenbuch und ein Juwelenkästchen heraus, was ihr Sir Miles an ihrem letzten Geburtstage gegeben hatte. »Lassen Sie das meine Schwester empfangen – so lang' ich lebe, soll sie keinen Mangel leiden!«

»Liebe junge Lady, es sind nicht solche Dinge, was sie von Ihnen erbittet, Ihre Zuneigung wünscht sie, Ihr schwesterliches Herz, Ihre Vermittelung bei ihrem natürlichen Beschützer; um diese bitte ich Sie in ihrem Namen – non gemmis neqae purpura venale, nec auro. »… weder für Gemmen noch für Purpur, auch für Gold ist er [der Frieden] nicht käuflich.« Horaz, Oden, Buch II, 16, V. 7f.«

Darauf richtete Lucretia, immer noch ohne sichtbare Bewegung, auf des guten Mannes Gesicht ihre durchdringenden, aber nichts verrathenden Augen und sagte langsam:

»Gleicht meine Schwester meiner Mutter, die, wie man sagt, hübsch war?«

Höchlich überrascht durch diese Frage, antwortete Fielden: »Ich sah Ihre Mutter nie; Ihre Schwester verspricht aber eine mehr als gewöhnliche Schönheit.«

Lucretia's Brauen wurden leicht zusammengezogen »Und ihre Erziehung ist natürlich vernachläßigt worden?«

»Allerdings, in manchen Punkten – in Mathematik z. B., und Theologie. Allein sie versteht, was Damen gewöhnlich verstehen – Französisch und Italienisch und dergleichen. Dr. Mivers war nicht unerfahren in den schönen Wissenschaften. O, glauben Sie, meine theure junge Lady, sie wird Ihrer Familie keine Schande machen; sie wird Ihres Oheims Gunst verdienen. Sprechen Sie für sie!« fügte der gute Mann mit gefalteten Händen hinzu.

Lucretia's Auge senkte sich sinnend zu Boden; aber nach einer kurzen Pause begann sie wieder:

»Was sagt mein Oheim selbst?«

»Nun daß er sich morgen entscheiden wird.«

»Ich will zu ihm gehen;« und Lucretia verließ scheinbar in dieser Absicht das Zimmer. Als sie jedoch die Treppe erreicht hatte, blieb sie vor der großen Fenstervertiefung stehen, die eine Nische im Vorsaal bildete, und schaute über die weite Besitzung draußen; dann umzog sich ihre Lippe mit einem bittern Lächeln, welches zu sagen schien: In diesem Erbe mag ich keine Nehenbuhlerin haben.

Lucretia's Einfluß auf Sir Miles war groß; doch hier war er fruchtlos, und bevor sie ihn sah, hatte er seinen festen Entschluß gefaßt. Ihre frühe und anscheinend tiefe Charakterkenntniß entdeckte auf den ersten Blick, daß sie mit Sicherheit vermittelnd auftreten könne. Sie that dies und ward zum Schweigen verwiesen.

Am nächsten Morgen nahm Sir Miles des Priesters Arm und ging mit ihm in den Garten.

»Mr. Fielden,« sagte er mit der Miene eines Mannes, der seine Wahl getroffen und jeden Versuch, ihn anders zu bestimmen, ablehnt, »wenn ich meinen eigenen selbstischen Wünschen folgte, so würd' ich das arme Kind zu mir nehmen. Halt, Sir, hören Sie mich, – ich bin kein Heuchler und spreche ehrlich – ich liebe junge Gesichter und ich habe keine eigene Familie; – ich liebe Lucretia und bin stolz auf sie; aber ein in Mißgeschick aufgezogenes Kind würde eine bessere Pflegerin und gelehrigere Gefährtin seyn – doch lassen wir das. Ich habe überlegt und ich fühle, daß ich Lucretien – und späten, noch ungeborenen Kindern – nicht das Beispiel der Gleichgiltigkeit gegen einen entwürdigten Namen und einen befleckten Stamm aufstellen kann. Sie mögen alles dieß Stolz oder Vorurtheil nennen – ich seh' es anders. Es gibt Pflichten, die eine einzelne Person hat, Pflichten, die eine Nation hat, Pflichten, die eine Familie hat; wie meine Vorfahren dachten, so denk' auch ich. Sie hinterließen mir die Obhut ihres Namens ebenso wie den Lehenzins, durch den ich ihre Güter besitze. Still, Sir! verzeihen Sie mir– Ich wollte sagen, daß, wenn ich nun ein kinderloser, alter Mann bin, dies blos deshalb der Fall ist, weil ich der Versuchung widerstanden habe. Ich liebte, und versagte mir selbst, was ich mir als die höchste Seligkeit schilderte, weil der Gegenstand meiner Neigung mir nicht ebenbürtig war. Das war ein bitterer Kampf – ich siegte und ich freue mich darüber, obwohl die Folge war, daß ich fortan alle Gedanken an Ehe als verhaßt und widerwärtig aufgab. Diese Grundsätze meines Handelns haben einen Theil meines Glaubensbekenntnisses als Edelmann, wo nicht als Christ ausgemacht – nun zur Sache. Ich ersuche Sie, ein geeignetes ehrbares Unterkommen für Miß – Miß Mivers (die Lippe rümpfte sich ein wenig, als der Name darüber glitt,) ausfindig zu machen – ich werde gehörig für ihren Unterhalt sorgen. Wenn sie heirathet, will ich sie ausstatten, doch immer unter der Voraussetzung, daß ihre Wahl auf Einen fällt, der nicht ferner ihren Stammbaum mütterlicher Seite erniedrigt – mit einem Wort, wenn sie einen Gentleman wählt; Mr. Fielden, über diesen Gegenstand hab' ich nichts weiter zu sagen.«

Umsonst bemühte sich der gute Geistliche, dessen Gewissen selbst, so gut wie seine Vernunft, durch die überlegte und gründliche Weise betroffen war, in welcher der Baronet die Verstoßung des Kindes seiner Schwester als eine unbedingt moralische, ja fast religiöse Pflicht besprochen hatte, – umsonst bemühte er sich, solche Sophismen zurückzuweisen und die Sache in das wahre Licht zu setzen. Es ward ihm leicht, Sir Miles' Herz zu bewegen – dieses war sanft – dieses war rasch gerührt; aber der Sparren in seinem Kopfe war unüberwindlich. Je rührender er der armen Susanne freundlose Jugend, ihren sanften Charakter und ihre vielversprechenden Tugenden schilderte, um so mehr betrachtete sich Sir Miles St. John selbst als den Märtyrer seiner Grundsätze und um so hartnäckiger ward er in dem Märtyrerthum. »Armes Wesen! Armes Kindl« sagte er oft und zerdrückte eine Thräne in seinen Augen; »wie bedauernswerth! Nun, nun, ich hoffe, sie wird glücklich werden! Gewiß, Geld soll nie ein Hinderniß seyn, wenn sie eine passende Parthie findet!« Dies war alles, was der würdige Geistliche, nachdem er eine Stunde lang geredet, aus ihm herauszubringen vermochte. Athemlos und gedulderschöpft gab er das Werk endlich auf; und der Baronet, der noch immer seinen widerstrebenden Arm hielt, führte ihn nach dem Hause hin. Nach einer längern Pause bemerkte Sir Miles plötzlich: »Ich dachte, daß ich unwissentlich jenen Mann – jenen Mivers – beleidigt haben könne, während ich nur glaubte, daß er mich beleidigte. Was die Anerkennung seiner Tochter anlangt, das ist in Ordnung; und am Ende ist sie, obwohl ich sie nicht öffentlich anerkenne, doch halb meine eigene Nichte.«

»Halb?«

»Halb; die Vaterseite zählt natürlich nicht; und streng genommen ist die Verwandtschaft vielleicht auch auf der andern verwirkt. Indeß geb' ich die Hälfte zu. Wahrhaftig, Sir, ich sage. ich gebe sie zu! Ich bitte Sie tausendmal um Vergebung für meine Heftigkeit. Uebrigens kann ich vielleicht beweisen, daß ich wenigstens keinen Haß gegen diesen armen Doktor nähre. Er hat seinerseits Verwandte, Seidenhändler – der Handel hat sein Mißgeschick. Wie geht es den Leuten?«

Vollkommen verwirrt durch diese widersprechende und paradoxe, und gleichwohl für jeden, der Sir Miles besser kannte, sehr charakteristische Güte, war Fielden nicht sofort im Stande zu antworten. »Diejenigen Glieder von Dr. Mivers Familie, welche Handel treiben, befinden sich in hinreichendem Wohlstand; Sie haben seine Schulden bezahlt; Sie, Sir Miles, werden seine Tochter aufnehmen.«

»Durchaus nicht!« rief Sir Miles heftig; dann fügte er, sich beruhigend hinzu, – »oder, wenn Sie dies rathsam finden, so ist natürlich alle Einmischung von meiner Seite abgebrochen.«

» Festina lente! »Eile mit Weile.« - Gemäß Sueton Lieblingsausspruch des Kaisers Augustus. – nicht so hastig, Sir Miles. Ich sage ja gleichwohl nicht, daß es rathsam sey; nicht weil sie Seidenhändler sind, was meiner bescheidenen Ansicht nach keine Sünde ist, welche sie der Dankbarkeit für ihre angebotene Güte unwerth macht, sondern weil es Susanna, dem armen Kinde, in andern Lebensverhältnissen auferzogen, etwas ungewohnt seyn möchte, wenigstens anfangs bei –«

»Ungewohnt, ja; das will ich hoffen!« unterbrach ihn Sir Miles, indem er mit vieler Energie eine Priese schnupfte.

»Und da fällt mir ein, wenn Sie und Mrs. Fielden – Sie sind verheirathet, Sir? – das ist gewiß – alle Geistliche heirathen! – wenn Sie und Mrs. Fielden selbst sie unter Ihre Obhut nehmen wollten, so würde mir das ein großer Trost seyn, sie so gut untergebracht zu wissen. Wir sind verschiedener Meinung, Sir – aber ich achte Sie. Glauben Sie das. Nun, also hat der Doktor keine Verwandten hinterlassen, die ich irgendwie unterstützen kann?«

»Seltsamer Mann!« murmelte Fielden. »Ja; ich darf für einen armen Jüngling die Gelegenheit nicht entgehen lassen, die sich ihm bietet durch Ihre – Ihre –«

»Gleichviel was – weiter – ein armer Jüngling; im Kaufladen, natürlich?«

»Nein; und von mütterlicher Seite (da Sie auf solche Eitelkeiten so viel geben,) einer alten Familie angehörig – eine Schwester Dr. Mivers' heirathete Kapitän Ardworth.«

»Ardworth – ein guter Mann – Ardworth aus Yorkshire.«

»Ja, aus dieser Familie. Freilich war's eine unkluge Ehe, die man schloß, als er nur noch Fähndrich war. Seine Familie verstieß ihn nicht, Sir Miles.«

»Sir, Ardworth ist eine gute Squiresfamilie, aber der Name ist sächsisch; da ist dann kein Unterschied im Geschlecht zwischen dem Hause der Ardworth's, und wär' er ein Herzog, und meinem Gärtner, John Hodge – Sachse und Sachse, einer wie der andere. Seine Familie verstieß ihn nicht – fahren Sie fort.«

»Aber er war ein jüngerer Sohn in einer großen Familie – beide, er und seine Gattin, haben all' die Bedrängniß kennen gelernt, die, wie sie mir sagten, der Armuth eines Soldaten stets folgt, der keine andere Hülfsquelle als seinen Sold hat. Sie haben einen Sohn; Dr. Mivers, obwohl selbst so arm, nahm diesen Knaben zu sich, denn er liebte seine Schwester zärtlich, und gedachte ihn zu seinem eigenen Berufe zu erziehen. Der Tod vereitelte seine Absicht. Der Jüngling ist hochbegabt und würdig.«

»Lassen Sie seine Erziehung vollenden – schicken Sie ihn auf die Universität; und ich will mir angelegen seyn lassen, ihn in eine Carriere zu bringen, welche seines Vaters Familie gut heißen soll. Sie brauchen gegen Niemand meine Absichten in dieser Angelegenheit zu erwähnen, auch nicht gegen den Burschen selbst. Und nun, Mr. Fielden, hab' ich meine Pflicht gethan – ich glaub' es wenigstens. Je länger Sie mein Haus beehren, um so erfreuter und dankbarer werd' ich seyn; aber jener Gegenstand, lassen Sie mich dies gefälligst bemerken, bedarf, duldet keinen weitern Kommentar. Haben Sie in den letzten Zeitungen von der Armee gelesen?«

»Die Armee! – ah, pfui, Sir Miles; ich muß doch noch ein Wort sagen: – darf meine arme Susanne nicht wenigstens den Trost haben, ihre Schwester zu umarmen?«

Sir Miles sann einen Augenblick und stieß seinen Krückstock dreimal stark auf den Boden. »Dagegen wüßt' ich nichts Besonderes einzuwenden; aber nach der Adresse dieses Briefes ist das arme Mädchen zu weit von Laughton, um Lucretia zu ihr zu schicken.«

»Diesen Einwand kann ich beseitigen, Sir Miles. Es ist mein Wunsch, daß Susanna ihren gegenwärtigen Aufenthalt unter meinen Kindern fortsetzt; meine Gattin liebt sie zärtlich, und hätten Sie eingewilligt, sie in Ihrem eigenen Hause aufzunehmen, so hätt' ich daheim gewiß einen Monat lang kein freundliches Gesicht zu sehen bekommen. Billigen Sie diesen Plan, durch dessen Angabe Sie selbst mich schon beehrten, so kann ich auf meinem Wege nach meinem Wohnort in Devonshire über Southampton reisen, und Miß Clavering kann ihre Schwester dort besuchen.«

»So sey es,« sagte Sir Miles kurz. Und damit schloß die Unterredung.

Einige Wochen nachher fuhr Lucretia in ihres Oheims Wagen, mit vier Postpferden, mit ihrem Mädchen und ihrem Bedienten, ganz im Aufzug und Pomp der Erbin von Laughton vor dem kleinen Hause vor, wo der freundliche Pfarrer seine Kinder und seinen jungen Gast bei einander hatte. Sie blieb etliche Tage dort. Sie weinte nicht, als Susanna sie umarmte – sie weinte nicht, als sie Abschied von ihr nahm; aber sie ließ keinen Mangel der Freundlichkeit blicken, obwohl diese Freundlichkeit förmlich und vornehm war. Als sie heimkehrte, that Sir Miles keine Frage; aber es schien, als erwartete er, und sey bereit es zu erlauben, daß sie ausspräche, wovon natürlich ihr Herz erfüllt seyn mußte. Lucretia blieb indeß still, bis endlich der Baronet erröthend, wie wenn er sich seiner Neugier schämte, sagte:

»Ist Deine Schwester Deiner Mutter ähnlich?«

»Sie vergessen, Sir, daß ich mich unmöglich meiner Mutter erinnern kann.«

»Deine Mutter hatte eine starke Familienähnlichkeit mit mir selbst.«

»Sie gleicht Ihnen nicht – man sagt, sie gleiche dem Dr. Mivers.«

»O!« sagte der Baronet und fragte nicht weiter. Die Schwestern kamen nicht wieder zusammen. Wenige Briefe wechselten sie, aber die Correspondenz hörte allmälig auf.

Der junge Ardworth ging nach der hohen Schule, vorbereitet durch Mr. Fielden, welcher kein gewöhnlicher Gelehrter und ein guter und gründlicher Mathematiker war – ein wichtigeres Erforderniß als klassische Bildung bei einem Lehrer für Cambridge. Allein Ardworth war unfleißig, vielleicht sogar liederlich. Er vollendete den gewöhnlichen Cursus und machte einige Schulden, die Sir Miles ohne Murren bezahlte. Alsdann wurden einige Briefe zwischen dem Baronet und dem Geistlichen hinsichtlich Ardworth's fernerer Bestimmung gewechselt; der Letztere gestand, daß sein Schüler nicht beharrlich genug für das Recht und nicht fest genug für die Kirche sey. Das waren in Sir Miles Augen keine großen Fehler. Endlich überwand er sich zu dem Entschlusse, selbst über die Fähigkeiten des jungen Mannes zu urtheilen, und so kam die Einladung nach Laughton. Ardworth war sehr überrascht, als ihm Fielden diese Einladung ankündigte, denn bisher hatte er nicht die geringste Ahnung von seinem Wohlthäter gehabt – vielmehr hatte er, und sehr natürlich, geglaubt, daß ein Verwandter seines Vaters seinen Unterhalt auf der Universität bezahlt habe; und von der Familiengeschichte wußte er genug, um Sir Miles als den stolzesten aller Männer zu betrachten. Wie kam es denn, daß er, der die Tochter Dr. Mivers, seine eigne Nichte, nicht empfangen mochte, den Neffen Dr. Mivers einlud, der nicht verwandt mit ihm war? Indeß war seine Neugier erregt und Fielden drängte ihn zu gehen: – daher war er denn nach Laughton gegangen.

Wir haben nun im Eingang unserer Erzählung die allgemeinen Nachrichten von der Familie welche sie betrifft, vollständig mitgetheilt: wir haben uns einen Bericht über die Erziehung und den Charakter der vielleicht wichtigsten Person in der Entwickelung der Ereignisse unserer Erzählung, Lucretia's Claverings, aufgespart, um das Gemälde ihrer düstern, mißleiteten und Unglück weissagenden Jugend dem Leser einzeln vor's Auge zu stellen.


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