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Es sind noch nicht ganz drei Monate nach dem Tod des Sir Miles St. John verflossen – November herrscht in London. Herrscht scheint freilich kaum ein passender Ausdruck für jene verdrossene, trübe Macht, die dieser traurige Monat (der erste in der Regierung des Winters) über die leidende – trostlose Stadt ausübt. In anderen Städten Englands ist November gar so kein wilder, launiger Bursche, sein Antlitz sieht still und mild über die braunen Felder und veränderten Waldungen herüber und oft stiehlt sich sogar ein Lächeln in diese gutmüthigen Züge, wenn ein goldener Sonnenstrahl an dem weichen, in den schönsten Tinten prangenden Laub haftet, oder sich in dem murmelnden Bache spiegelt, der sich noch frei und unbehindert der eisernen Decke dahin ergießt. Aber als ein Besieger, der seinen Hof in der Hauptstadt hält und mit schwerer, gewaltiger Hand die aufrührerischen Bürger züchtigt, wenn auch sein Einfluß noch lange nicht in der Provinz gefühlt wird, so hat der erste Tyrann des Winters auch nur noch Zürnen und Drohung für London. Selbst der Anblick der Fußgänger verräth die erst kürzlich in Banden geschlagenen Männer; in Pelzen und Massen dicht vermummt, schleichen sie sich durch die nebligen Straßen. Selbst die Kinder kriechen furchtsam über die Wege – die Wagen fahren vorsichtig und Leichenwagen ähnlich – sogar das liebe Tageslicht hat nicht einmal das Herz hell zu scheinen; die Stadt ist noch nicht wieder besucht – das Weihnachtsdrängen hat noch nicht begonnen – die ungeselligen Schatten gleiten durch den Nebel, wie die Glieder einer Verschwörung vor deren Ausbruch.
Jeder andere Monat in London hat doch wenigstens für die dort Bekannten seinen Reiz; selbst vom August bis Oktober, wenn die Saison schlummert und die Mode ihren Söhnen verboten hat, sich in den Bow-Bezirken sehen zu lassen »Fashion forbids her sons to be seen within hearing of Bow.« In der anonymen Übersetzung des Verlages von Duncker und Humblot (Berlin 1847; die Titelseite führt die Behauptung: »Auf Veranstaltung des Verfassers aus dem Englischen übersetzt«) findet sich auf S. 142: »… und die Mode ihren Söhnen verbietet, sich auch nur in dem Weichbilde der Hauptstadt sehen zu lassen«. »Bow« ist die Kurzform des mittelalterlichen Namens Stratford-at-Bow; zum Zeitpunkt des Romangeschehens gehörte die Ortschaft regulär zum County von Middlesex, erst 1888 wird sie formell Bestandteil von London., findet dort der treue Freund Londons irgend ein Vergnügen, wenn er nur darnach suchen will. Die frühen Spaziergänge durch die Parks und grünen Kensington-Gärten zum Beispiel, die dann ihren ganzen Charakter verändern und wirklich ländlich erscheinen, wenn gleich immer noch mehr Leben als das Land bieten. Auf den Bänken unter den Bäumen, auf den Wiesen und in den Gängen sind genug Wesen, das Auge zu fesseln und den Gedanken eine andere Richtung zu geben, so Du überhaupt ein Liebhaber davon bist, Gesichter zu studiren und den menschlichen Charakter, in den Augen des Dir Begegnenden zu lesen; frische Ammen und spielende Kinder, und der alte, schäbich gentile Offizier auf halben Sold – der früh am Tag zu seinem Geschäft eilende Kaufmann, denn Geschäfte hören in London niemals auf; und dann gar am Nachmittag, wie herrlich an die Ufer von Putney oder Richland zu entfliehen – dort die fröhliche Ruderparthie den Fluß hinauf, oder das stille Angeln im Teich – das Plauderstündchen in der gemüthlichen Wirthsstube. Und lockt Dich dies Alles nicht, nun so hat selbst die Stadt einen eigenen Reiz. Der Herbst scheint rein und klar über die Dächer, wo der Rauch seinen Sonntag hält, und wie freundlich schimmern die Sonnenstrahlen durch die ruhigen, stillen Straßen – wenn Du sie durchwanderst, kommst Du Dir vor wie ein Andreas Selkirk Richtig: Alexander Selkirk (1676-1721), schottischer Seefahrer und Abenteurer. Er gilt als Vorbild für Daniel Defoes Figur Robinson Crusoe., aber mit dem Markt der Welt zu Deiner Wildniß.
Und kommt Oktober endlich, so hat auch er einen eigenen Reiz; das Leben kehrt geschäftig in die Stadt zurück, die Laden füllen sich, Verkehr und Handel kehren wieder. Wie Vögel, die den April wittern, so bereiten die Kinder des Kaufmannstandes ihr Gefieder und rüsten sich auf den Ersten Anlauf der Saison. Aber November – starke Lungen, wunderlichen Geschmack und entsetzlich leichtes Herz muß der haben, der Lust und Freude an einem London-November findet.
In einem kleinen Wohnhaus in Bulstrodestreet, Manchestersquare, saß eine Familie in Trauer: sie hatte es gewagt im November zur Stadt zu kommen, vielleicht um sich zu zerstreuen. In dem langweilig kleinen Gemach des langweilig kleinen Hauses stellen wir Dir, lieber Leser zuerst einen Gentleman von mittlerem Alter vor, dessen Kleidung das verrieth, was Kleidung jetzt nicht mehr verräth, – sein Geschäft. Niemand hätte den Schnitt seines Kleides – die Form seines Hutes mißverstehen können, denn er kam gerade von einem Spaziergang nach Hause, und nicht aus Unart, sondern nur aus Vergeßlichkeit beschattete der breite Rand des Hutes noch immer das freundlich milde Antlitz. Der Pastor sprach aus ihm, vom Biber bis zur Schnalle hinab Die (alliterierende) Redewendung »from beaver to buckle« (vom Kastorhut, aus Biberfell, bis zur Schuhschnalle) entspricht unserem »vom Scheitel bis zur Sohle«..
Vor dem Kohlenfeuer, in dem durch einen entsetzlichen Qualm hin eine kleine winzige Flamme flackerte und zuckte, saß eine Dame im mittleren Lebensalter, die Du ebenfalls, lieber Leser, ohne weiter ein Tausendkünstler zu seyn, als die Haus- und Ehefrau des würdigen Geistlichen erkennen konntest. Mehrere Kinder kauerten dabei, um sie und um ein einzelnes Buch her geschaart – ihr leises Flüstern verrieth jedoch, daß dieses wenigstens überflüssig sey. Aber dort – am letzten von den drei trübaussehenden Fenstern, die noch durch braune Moor-Gardinen Im Original: »moreen draperies«. Moreen ist ein starkes Gewebe aus Wolle, Wolle und Baumwolle oder Baumwolle mit glänzender oder moirierter Oberfläche., sehr elegant mit schwarzem Baumwollensammt garnirt, verdunkelt wurden, stand ein Mädchen von unendlich sanftem und gedankenvollem Ausdruck in den Zügen – hübsch, unbezweifelt – ausgezeichnet hübsch sogar, dennoch lag etwas so Zartes, so Edles in ihrem ganzen Wesen – in der Biegung ihres Kopfes, in der Form der schlanken Gestalt, mit den schönen Händchen über einandergelegt, während sie das Antlitz traurig dem Fenster zuwandte, daß hübsch ein fast zu gewöhnlicher, zu oft auf Grisetten und Stubenmädchen angewandter Ausdruck scheinen möchte; und doch war es vielleicht der rechte, denn schön hätte wieder etwas Stattlicheres, mehr Befehlendes angedeutet – größere Regelmäßigkeit der Züge und reichere Färbung derselben.
Der Pastor, der seit seinem Eintritt mit den Händen auf dem Rücken in dem kleinen Zimmer auf- und abgegangen war, und nur zu Zeiten, ohne jedoch zu sprechen, einen Blick auf die junge Dame geworfen hatte, blieb endlich in seiner monotonen Bahn neben dem Stuhle seines Weibes stehen, und berührte ihre Schulter. Diese hielt in ihrer Arbeit an – die in weiter Nichts bestand, als dem »Einnehmen« Im englischen Original: »›the taking in‹«, hier »abnähen«, »enger machen« zum Zweck der Anpassung. einer gewissen blauen Jacke, welche im Begriff war von Matthes dem Erstgeborenen auf David den zweiten überzugehen, und schaute liebend zu ihrem Gatten auf; der aber sprach nicht, sondern machte nur eine Bewegung. theils mit den Augenbrauen, theils durch ein Hinüberzucken seines Daumens über die rechte Schulter, nach der Stelle zu, wo die eben beschriebene junge Dame stand, während er gleich darauf diese Pantomimen mit einem gar traurigen Kopfschütteln begleitete.
Die Frau sah sich um und blickte sie scharf an, wobei sie die Scheere in der einen Hand erhoben hielt, während die andere auf dem Kragen der Jacke ruhte. In diesem Augenblick wurde ein leises Klopfen an der Hausthür gehört; das würdige Paar sah, wie das Mädchen zusammenschrack und erzitterte – dann schallte der Klang eines Schrittes herauf, ein Knarren der Dielen, und Alles war wieder ruhig. »Das ist Mr. Mainwarings Klopfen,« sagte eins der Kinder.
Die Jungfrau verließ plötzlich, das Zimmer und so leicht ihr Schritt auch war, so hörten sie doch, wie sie leise die Treppe hinaufstieg.
»Meine Kinder,« sagte der Pastor, »es ist noch eine Stunde bis Dunkelwerden – Ihr mögt ein wenig auf die Straße gehen.«
»Ach, es ist so langweilig in der alten Straße, und auf das Gras wollen sie uns doch nicht lassen – ich bleibe lieber hier,« erwiederte eins der Kinder, das sich zum Sprecher der übrigen aufgeworfen zu haben schien; und sie alle rückten näher am Kamin zusammen.
»Aber Kinder,« sagte der Pastor ganz einfach – »ich möchte mit Eurer Mutter ein Wort allein reden. Wenn Ihr übrigens das lieber thut, so könnt Ihr indessen auf Euer eigenes Zimmer gehen, nur müßt Ihr Euch ruhig verhalten.«
»Oh, wir können in Susanna's Zimmer gehen..«
»Nein,« sagte der Pastor, »Ihr dürft Susanna nicht stören.«
»Sie hat sich doch bis jetzt noch nie etwas daraus gemacht, gestört zu werden – was mag sie denn nur haben?«
Der Pastor erwiederte auf diese halb schmollend gemachte Aeußerung nichts, die Kinder beriethen sich dann einige Secunden und beschloßen, daß die Straße, wenn sie auch noch so langweilig wäre, doch unterhaltender sey, als ihr eigenes kleines Gemach, und darüber im Klaren, kam nun die Mutter an die Reihe sie anzureden. Obgleich aber Mr. Fielden gewiß so sorgsam und ängstlich wie alle Väter war, so wurde er doch ein wenig ungeduldig, als Umknüpftücher, wollene Shawls und Pulswärmer nachgesehen und die genauesten topographischen Warnungen, wo und wie die Straße zu übergehen, gegeben, ja noch besonders die Gefahr beleuchtet wurde, – fremde Hunde zu streicheln. Mit einem Kopfschütteln und Lächeln schob er die Kinder endlich förmlich aus der Thür, schloß diese, und zog seinen Stuhl dann dicht zu dem seines Weibes.
»Meine Liebe,« begann er hier augenblicklich und ohne weitere Umschweife – »ich bin sehr in Sorgen wegen des armen Mädchens.«
»Was? wegen Miß Clavering? ja – sie ißt beinahe gar nichts und sitzt stumm und schweigend allein. Sie sieht aber Mr. Mainwaring alle Tage. Was können wir dabei thun. Sie ist so stolz – ich fürchte mich ordentlich vor ihr.«
»Liebe Frau, ich dachte nicht an Miß Clavering, obgleich ich Dich nicht unterbrochen habe, denn es ist wahr, daß auch sie Mitleid verdient.«
»Ich bin auch überzeugt, Du hast nur ihretwegen Susanna's Bitten nachgegeben und überließest Blackmann so lange Dein Amt, während wir indessen hierher kamen, und hofften, London solle sie zerstreuen. Wir verließen zu Hause Alles drunter und drüber, und es sollte mich gar nicht wundern, wenn nicht ein einziger Apfel mehr auf dem Platz bliebe.«
»Aber ich sage ja,« erwiederte der Pastor, ohne diese traurige Prophezeihung weiter zu beachten, »ich sage ja, daß ich nur an Susannen dachte. – Sieh nur, wie bleich sie geworden ist!«
»Ih nun, sie hat so ein gutes Herz, und ihre Schwester muß ihr leid thun.«
»Aber ihre Schwester, obgleich sie viel nachdenkt und sich entfernt von uns hält, ist gar nicht traurig – blos zurückhaltend. Im Gegentheil, ich glaube, sie grämt sich nicht einmal mehr über des armen Sir Miles Tod.«
»Und den Verlust des großen Vermögens –«
»Pfui Marie!« sagte Mr. Fielden fast strenge.
Marie sah, so getadelt, vor sich nieder, denn sie war keine von jenen stolzen Frauen, die ihren Gatten eben seiner Güte wegen verachten.
»Sey nicht bös, lieber Mann,« sagte sie – »es war unrecht von mir, aber ich kann – ich mag thun, was ich will – ich kann diese Miß Clavering nicht gern haben.«
»Um so mehr mußt Du sie mit Milde beurtheilen. Und wenn das, was ich fast fürchte, der Fall ist – so bin ich überzeugt, daß wir nicht genug Mitleiden mit der armen, verblendeten jungen Dame haben können.«
»Um Gottes willen – was meinst Du, Fielden?«
Der Pastor sah sich um, um sich zu überzeugen, daß die Thüre auch fest verschlossen sey, und erwiederte dann flüsternd –
»Ich fürchte, William Mainwaring liebt nicht Lucretia – sondern Susanna.«
Die Scheere entfiel Mrs. Fieldens Hand, und obgleich die eine Spitze im Boden stecken blieb, und die andere den Schuhen und Zehen jedes in ihre Nähe Kommenden Verderben drohte, so bückte sie sich nicht einmal, dieses chevaux de frise zu entfernen.
»Aber dann – dann ist er ja ein recht falschherziger junger Mann?«
»Allerdings zu tadeln,« sagte Mr. Fielden, »denn ich kann das Gegentheil nicht behaupten, obgleich ich den jungen Mann gern habe und ihn mehr für schüchtern als falsch halte. Aber ich muß Dir etwas sagen, Marie, was ich bis jetzt geheim gehalten habe, und weswegen ich Deinen Rath begehre. Als uns Mainwaring vor vielen Monaten in Southampton besuchte, gestand er mir, daß er sich zu Susanna hingezogen fühle, und frug mich, ob ich wohl glaube, Sir Miles würde seine Zustimmung zu ihrer Verbindung geben. Ich aber wußte nur zu gut, wie stolz der alte Gentleman war, um ihm solche Hoffnung zu machen. So verließ er uns und betrug sich darin höchst achtbar. Du erinnerst Dich wohl noch, wie traurig Susanna damals war, als er fortging – Du hast es doch bemerkt?«
»Ja gewiß, ich erinnere mich daran. Als aber der erste Gram über Sir Miles Tod vorüber war, bekam sie ihre ganze Farbe wieder und sah lieb und freundlich aus.«
»Vielleicht deshalb, weil sie nun glaubte, ein Vermögen für Mr. Mainwaring zu haben und alle Hindernisse besiegt hoffte.«
»Wie klug Du bist – wie hast Du denn so ihre Gedanken errathen?«
»Durch meine eigene Thorheit – meine eigene unüberlegte Thorheit,« stöhnte Mr. Fielden, – »nicht daran denkend, daß Mr. Mainwaring indessen in ein solches Verhältniß mit Lucretia getreten seyn könne, und wohl vermuthend, wie es um Susanna's armes kleines Herz stand, so – der Himmel vergebe mir, was ich that – kam ich halb im Spaß damit heraus, was mir William früher einmal vertraut hatte, und das liebe, herzige Mädchen erröthete – küßte mich und – nun – ein oder zwei Tage später, als es schon bestimmt war, daß wir hierher nach London wollten, machte mir Lucretia mit ihrer gewöhnlichen kalten Höflichkeit bekannt, daß sie selbst Mainwaring heirathen würde, sobald nur die erste Trauerzeit vorüber wäre.«
»Arme – arme Susanna!«
»Susanna benahm sich wie ein Engel; – als ich es ihr entdeckte, war sie ganz ruhig, und ich bin fest überzeugt, sie betete von ganzem Herzen, daß Beide glücklich werden möchten.«
»Das glaub' ich auch – das hat sie gethan – was aber kann jetzt geschehen? o nun ist mir Alles klar – o du lieber Gott, was für eine traurige Geschichte ist das!« und Mrs. Fielden nahm ganz in Gedanken ihre Scheere wieder auf.
»Nicht eher, als bis wir in die Stadt kamen und Mr. Mainwaring Lucretia besuchte – nicht eher ließ ihre Stärke nach.«
»Entsetzlich zu ertragen – ich hätte es nie gekonnt. Gott, Fielden, wenn ich es je hätte mit ansehen müssen, daß Du einer Anderen den Hof gemacht, ich hätte – ich weiß selbst nicht, was aus mir geworden wäre. Was für ein schlechter Mensch dieser Mainwaring seyn muß!«
»Nicht so ganz, denn sieh nur, liebes Kind, er sieht noch fast elender und niedergeschlagener aus, als Susanna. Er muß sich auf irgend eine Art gefangen haben. Vielleicht gab er Susanna in aller Verzweiflung auf, und Miß Clavering, wenn auch hochmüthig, ist außer allem Zweifel eine, jener geistig weit überlegene junge Dame. Nur jetzt, wo er die Beiden zusammen sieht, findet er wohl, welchen Schatz er weggeworfen. Nun sage mir einmal, Marie, was räthst Du mir? Mainwaring ist natürlich und sehr wahrscheinlich durch sein Wort an Miß Clavering gebunden, früher oder später muß sie aber doch einmal ihres Gatten wirkliche Empfindungen entdecken, und dann zittere ich für Beide. Ich bin überzeugt, sie wird nie glücklich und er muß elend werden, während Susanna – großer Gott, das Mädchen hat einen Husten, der mir in's innerste Herz greift.«
»Das ist wahr – den Husten hat sie – Du weißt gar nicht, was für Geld ich schon für schwarzen Johannisbeeren-Gelee ausgegeben habe. Was ich Dir rathe? – ih nun, ich, – wenn ich den Muth hätte, spräche gleich mit Miß Clavering selbst. Ich bin fest überzeugt, Liebe bricht ihr das Herz nicht, und sie ist so stolz – sie würde ihn, wenn sie nur wüßte, wie die Sachen stehen, ohne einen Seufzer aufgeben.«
»Ich glaube, Du hast recht,« sagte Mr. Fielden, »und Wahrheit und Offenheit bleiben doch immer das Beste. Eigentlich geht mich aber doch die ganze Sache Nichts an, und wenn es nicht Susannens wegen wäre – nun gut – gut – ich muß mir das Alles überlegen und den Himmel bitten, daß er mich das Beste wählen lasse.«
Diese Konferenz macht den Leser auf einmal damit bekannt, zu welchem Punkt Lucretia's Geschichte gediehen war. Gern gehen wir über das hinweg, was doch kaum möglich wäre zu beschreiben – das erste Gefühl, als sie sich in all' ihren kühnsten Lebenshoffnungen getäuscht sah – Vermögen, Rang und – was sie höher als Alles schätzte – Macht – so mit einem fürchterlichen Schlag vernichtet.
Aus der düsteren Verzweiflung aber, in die sie der erste Schmerz zu stürzen drohte, brachte auch etwas ihr wieder neue Hoffnung, ja fast Freude – Mainwarings Briefe. – Nie waren sie noch so warm und zärtlich gewesen; denn der junge Mann fühlte nicht allein bittere Reue, daß er die Ursache ihres Unglücks sey, (obgleich sie ihm das Ganze mit mehr Schonung und Zartgefühl entdeckt hatte, als man wohl sonst von ihrem unbeugsamen, ja gefühllosen Herzen erwarten durfte,) sondern er hielt auch jetzt seine Verbindlichkeiten gegen sie für weit stärker und fesselnder. Er überredete sich, ja er zwang sich vielleicht zu Liebe für sie und würde auch wahrscheinlich ruhig mit ihr zum Altar getreten seyn, wo dann, einmal verheirathet, Gewohnheit und der ruhige Fortlauf des gewöhnlichen Lebens die Kette, die ihn band, unzerreißbar gemacht hätte; Lucretia's unglückselige Leidenschaft aber, ihn zu sehen, verdarb das. – Sie trieb ihn an, nach London zu kommen und sie dort zu treffen, aber Susanna begleitete sie, und in dem abgewandten Antlitz der Jungfrau, in der zitternden Hand, in dem stillen Vermeiden seines Blickes las er Alles – Alles, was die arme Leidende so wohl verheimlicht zu haben glaubte.
Aber der Würfel war gefallen – die Verbindung bekannt gemacht – die Zeit bestimmt, und Tag nach Tag betrat er das Haus, um es Tag nach Tag wieder in Angst und Verzweiflung zu verlassen. Ein Gefühl, das Beide theilten, veranlaßte die Unglücklichen, sich gegenseitig zu vermeiden. Mainwaring betrat selten das gemeinschaftliche Wohnzimmer der Familie, und wenn er es wirklich einmal, meistens Abends, that, so hatte sich Susanna immer schon auf ihr eigenes Zimmer geflüchtet. Begegneten sie sich aber, so geschah es nur durch Zufall auf der Treppe, oder beim plötzlichen Oeffnen einer Thür; dann wurde jedoch kein Wort, ja kaum ein Blick zwischen ihnen gewechselt, und keins hatte den Muth, dem Andern ins Auge zu schauen.
Von Beiden drückte aber diese Zurückhaltung vielleicht Susanna am meisten nieder, Vielleicht drängte es sie am stärksten, das Schweigen zu brechen, denn sie glaubte die Ursache von Mainwarings trüben und stummen Leiden in den Vorwürfen seines Gewissens zu errathen, die vielleicht, wenn auch kein erneutes Geständniß von seiner Seite, doch jene Worte und Töne zurückrufen konnten, die das eine Herz verrathen und das andere zu verführen suchen. Der tiefe Schmerz, der seiner ganzen Gestalt eingegraben war, blieb selbst ihrem flüchtigen Blick nicht verborgen, und erfüllte sie mit einem Gefühl, das frei von jedem eigenen, selbstsüchtigen Vorwurfe war. Sie glaubte glücklich sterben zu können, wenn sie nur im Stande wäre, die Wolke von dieser Stirn, den Schatten von diesem Gewissen zu bannen. Sterben – denn sie dachte nicht an Leben. Sie liebte sanft und innig, nicht mit jener wilden Leidenschaft, die stärkeren Charakteren eigen ist; es war aber jene Liebe, an der junge und reine Wesen gestorben sind. Des Engels Antlitz war ruhig und mild, und nur bei dem Niedersenken der Fackel saht Ihr, daß die Flamme verlöschte und ein Bild – zu heilig für irdische Liebe – der Genius liebenden Todes wurde.
Ganz dagegen in dem Egoismus ihrer eigenen Liebe vertieft, die eher noch durch die gebrachten Opfer, wie das fast stets selbst bei den schlimmsten Frauen der Fall ist, verstärkt worden war, und – wenn diese Leidenschaft auch wirklich geschwiegen, durch jenen wilden Ehrgeiz angeregt, der schon wiederum aus den Ruinen des Vergangenen neue Hoffnungen und Pläne aufbaute, hatte Lucretia bis jetzt noch nicht entdeckt, was selbst der einfache Sinn des Mr. Fielden erkannte. Daß Mainwaring ernst und nachdenkend, ja oft zerstreut war, schrieb sie nur den Gedanken an ihre Verluste und der Sorge ihrer so ganz veränderten Zukunft zu; während sie aber, in ihren Bemühungen, ihn zu trösten, ihn zu überzeugen suchte, wie in England eigentliche Größe nicht in Land und Gütern, sondern mehr im Bereich der höheren Lebenssphäre liege, indem die Führer zum Tempel des Ruhmes eben die Geistesaristokraten sehen, verrieth sie nur zu deutlich, daß nicht großherziger Wetteifer und das Höherstreben einer edlen Seele, sondern blos die dunkle – keinem Mittel abholde List – wilder unbezähmter Ehrgeiz und Lust an Intrigue es waren, die sie anreizten, und anstatt Muth und Hoffnung dadurch in ihm zu erwecken, erfüllte es ihn mit Abscheu und Schauder. Wie konnte er, von einem Geist durch's Leben begleitet oder vielmehr geführt, von einem Geist, der stärker und imponirender war, als sein eigener, wie konnte er da die Reinheit, die Unschuld seiner Seele bewahren; schon jetzt fühlte er sich entehrt. Aber er war gefesselt – mit eisernen Banden gefesselt– er wand sich – aber er träumte nicht von Rettung.
An dem Tag nach Mr. Fieldens Konferenz mit seiner Frau kam ein unerwarteter Besuch zu seinem Hause – Olivier Dalibard. Er hatte Lucretia, seit sie Laughton verlassen, nicht gesehen, auch keine Correspondenz mit ihr unterhalten. Er kam in der Dämmerung, gerade als Mainwaring, zu seiner gewöhnlichen Zeit, fortgegangen war, wo sich Lucretia noch in dem für sich genommenen Zimmer befand, und ihre Stirn legte sich in düstere Falten, als sein Name gemeldet wurde; die Kammerjungfer zündete jedoch die Lichter an, schüttelte die Kohlen ein wenig auf, und zog die Vorhänge zu. Als sie ihn empfing, überflog ihr Auge unwillkürlich die fast ärmliche Umgebung des kleinen Raumes, mit seinen mit Pferdehaaren überzogenen Meubles, und der Gedanke an den Unterschied zwischen jetzt und früher mochte wohl in ihr aufsteigen, wozu selbst sein eigener Anblick nicht wenig beitragen mußte; sie hieß ihn aber mit ihrer ganzen frühern abgemessenen Höflichkeit willkommen und deutete durch kein Wort auf das zurück, was einst gewesen. Dalibard war indessen ängstlich gespannt, zu erfahren, ob sie auf ihn wegen der Entdeckung jenes verhängnißvollen Briefes irgend einen Verdacht habe, und hielt es, als er aus ihrem ganzen Benehmen sah, daß das nicht der Fall sey, für das beste, ihre Zurückhaltung nachzuahmen. Dabei benahm er sich noch viel achtungsvoller, ja ehrerbietiger, als er sich bis jetzt gegen seine Schülerin gezeigt, blieb jedoch zugleich freundlich, ja herzlich gegen sie, um nach und nach wieder in das alte, früher bestandene Verhältniß zurückzukommen. Daß ihm dies auch gelang, war augenscheinlich, denn nach einer ziemlich langen Pause frug Lucretia einmal ganz plötzlich:
»Wie hat Sir Miles meine Correspondenz mit Mainwaring entdecken können?«
»Und ist es möglich, daß Sie das nicht wissen? aber freilich – wie sollten Sie auch!« – Und Dalibard erzählte nun jenen Vorfall so einfach, daß sie – da auch überdies wirklich Alles so erschien, als ob es nur durch einen Zufall, durch eine wilde Laune des Schicksals hervorgerufen sey – gegen ihn unmöglich einen Verdacht fassen konnte. Sie war ja nicht im Stande die Fäden zu ahnen, die mit vorsichtiger Hand gelegt, jene Mine sprengen mußten. Ja, als er die kleine List Gabriels – sie zu retten – erzählte, wie dieser den Brief auf sich selbst nahm, fühlte sie Dankbarkeit gegen den Knaben, und glaubte es auch ganz natürlich, durch seine Anhänglichkeit an sie, gerechtfertigt. Das entschuldigte auch hinlänglich den Umstand, der ihr Herz bis jetzt mit Zweifel und Verdacht erfüllte, die Gabriel hinterlassene Summe nämlich. Sie kannte Sir Miles genug, um zu wissen, er würde Jedem dankbar seyn, der den guten Namen seiner Nichte, und wenn diese auch seine bitterste Feindin gewesen wäre, vor der Schande einer heimlichen Correspondenz rettete.
»Sonderbar bleibt es aber doch,« sagte sie nach einer Pause nachdenkend– »daß jenes Mädchen den Brief finden konnte, den ich so wohl und sicher unter Blättern und Moos versteckt hatte.«
»Aber drei oder vier andere waren schon vorher darin gewesen,« warf Dalibard ein, »deren Füße konnten leicht den schwachen Schutz entfernen, oder wenigstens verschoben haben.«
»Möglich – doch das Uebel ist geschehen– es läßt sich nicht mehr ändern.«
»Und Mr. Mainwaring – lieben Sie noch immer einen Mann, armes Kind, der Sie so viel gekostet?«
»In drei Monaten bin ich sein Weib.«
Dalibard seufzte tief auf, äußerte aber kein Wort dagegen.
»Gut,« sagte er dann nach kleiner Pause, während er ihre Hand mit gemischter Ehrfurcht und Theilnahme ergriff – »ich will Ihrer Neigung nicht mehr entgegen seyn; jetzt haben Sie nichts mehr zu fürchten, Sie sind Herrin Ihres eigenen Vermögens, und da Mainwaring Talente hat, so mögen ihm diese seine eigene Carriere bauen. Sind Sie aber wenigstens jetzt überzeugt, daß ich selbst endlich meine Thorheit besiegt habe? daß ich uneigennützig war, als ich mir Ihr Mißvergnügen zuzog? und wenn das der Fall ist – darf ich wieder um Ihre Freundschaft bitten? Sie werden manchen Kampf mit der Welt zu bestehen haben, und durch meine lange Erfahrung der Menschen und des Lebens kann auch ich selbst, der arme Verbannte, von Nutzen seyn.«
Und so dachte Lucretia, denn so sehr sie den schlauen Dalibard fürchtete, so glaubte sie doch noch an seine Anhänglichkeit für sie und bewunderte in ihm zugleich einen Geist, wie sie ihn bisher noch nie gefunden.
Von der Zeit an wurde Dalibard ein täglicher Besucher des Hauses; er störte aber nie die Zusammenkunft Mainwarings und Lucretia's – er hielt die Verbindung für angenommen und unterhielt sich oft und gern mit ihr über ihre zukünftigen Aussichten. Dabei wußte er sich auch bei Fielden's vollkommen beliebt zu machen, spielte mit den Kindern, schien sich dort ganz wie zu Hause zu befinden, und zog an solchem Abend, wenn Mainwaring irgend eine Entschuldigung gefunden hatte auszubleiben, auch Lucretia in den kleinen Familienzirkel, von dem sie sich bis jetzt ziemlich fern gehalten.
Der gute Mr. Fielden war aber entzückt; hier fand er den wahren Mann, den er gesucht – den alten Freund des Sir Miles, den Erzieher Lucretia's selbst, der ihr doch auf jeden Fall von Herzen zugethan seyn mußte. – Ihm – ihm wollte er das was ihn bedrückte, vertrauen. Eines Tages also, als Dalibard ihm unendlich weh gethan, indem er durch eine hingeworfene Bemerkung Susannens auffallende Blässe rügte, nahm er ihn bei Seite und entdeckte ihm Alles. »Und nun,« schloß der Pastor mit einem tiefen Athemzug seine Erzählung, denn er glaubte in ihm den zu sehen, der ihn aus seiner Verlegenheit reißen mußte, »und nun rathen Sie mir aufrichtig, glauben Sie nicht, daß ich – oder vielmehr Sie, so ein alter erprobter Freund Miß Claverings – ihr Alles das frei und offen entdecken müsse?«
»Nein wahrlich nicht.« erwiederte der Provençale schnell – » wenn wir ihr das sagten, so würde sie es uns nicht glauben, ohne Zweifel aber Mainwaring selbst zum Richter aufrufen, dem dann allerdings keine Wahl bliebe, als uns zu widersprechen. Einmal aber gewarnt, bezwänge er selbst seine Traurigkeit; Lucretia, beleidigt, verließe vielleicht Ihr Haus und dann könnte sie am Ende gar ihre eigene Schwester für fähig halten, dieses Geständniß veranlaßt zu haben – wo selbst nur ein solcher Verdacht dem trefflichen Herzen der Miß Mivers erspart werden muß. Aber fürchten Sie nichts – besteht das Uebel wirklich, so trägt es auch sein eigenes Heilmittel in sich. Lassen Sie es Lucretia selbst entdecken – aber – entschuldigen Sie meine Frage – sah sie denn nicht bei ihrem ersten Empfang Mainwarings, daß er in Ihrem Hause schon bekannt war?«
»Sie befand sich nicht in dem Zimmer, wo wir ihn begrüßten, und ich habe mich seit der Zeit stets fern von ihm gehalten, wie Sie sich auch wohl leicht denken können. – Mir gefiel Mr. Mainwarings Handlungsweise nicht. Uebrigens weiß sie, daß wir ihn früher kannten, – doch weshalb?«
»Glauben Sie denn, daß er ihr in Laughton von seiner Bekanntschaft, daß er von Susanna erzählt hat? ich denke nicht –«
»Allerdings weiß ich das nicht,« sagte Mr. Fielden.
»Fragen Sie Lucretia das einmal – aber so ganz zufällig, im Uebrigen bewahren Sie noch tiefes Schweigen. Für jetzt, mein guter Herr, danke ich Ihnen für Ihr Vertrauen: ich werde indessen über meinen armen jungen Zögling wachen; sie soll in der That nicht einem Mann geopfert werden, dessen Herz einer Anderen gehört.«
Dalibard trat auf lauter Luft als er das Haus verließ, seine Züge selbst hatten sich verändert – er erschien um zehn Jahre jünger. Es war Abend, und plötzlich, als er in Oxfordstreet einbog, begegnete ihm laut und lachend eine Gesellschaft junger Männer, die sich dort auf der Straße zerstreut hatten, über die nüchternen Vorbeigehenden ihre spöttischen Bemerkungen machten und ganz besonders die bewundernde Aufmerksamkeit einiger jungen Damen mit Federhüten und hochrothen Pelissen Die Pelisse, einst ein von Männern und Frauen getragenes pelzverbrämtes oder pelzgefüttertes Ober- oder Übergewand, ist ab der Mitte des 18. Jh. ein weiter, capeartiger Mantel oder Umhang aus Satin oder Samt, etwa knielang und mit Armschlitzen versehen. erregten; denn zu jenen Zeiten herrschte noch eine fröhliche Freiheit in den Straßen, die freilich mit den Laternen der Nachtwächter verschwunden ist. Als den tollsten und lautesten dieser Abkömmlinge der Mohawks nun erkannte unser ruhiger Gelehrter die noch fast kindische Gestalt seines eigenen Sohnes und Gabriel scheute sich nicht einmal dem Auge seines Vaters zu begegnen, so ernst und fast drohend es auch auf ihm ruhte. Im Gegentheil trotzte er eher dem Blick mit einem frechen unverschämten Spott.
Mitten hinein in die Gruppe schritt jetzt der Provençale, legte seine Hand leise auf des Knaben Schulter und sagte –
»Mein Sohn, komm mit mir!«
Gabriel blickte unschlüssig seine Gefährten an, diese aber drängten sich, erfreut über die willkommene Abwechselung, um sie her, und schienen wenig geneigt, hier irgend eine väterliche Autorität anzuerkennen.
»Gentlemen,« sagte Dalibard, während er noch ein klein wenig bleicher wurde, denn körperlich war er nichts weniger als muthig, wenn auch geistig entschlossen genug – »Gentlemen, ich muß Sie bitten mich zu entschuldigen – dies Kind ist mein Sohn.«
»Aber die Kunst ist seine Mutter!« erwiederte ein schlanker, starkknochiger junger Mann, von dessen zerdrücktem altem Hut langes lohfarbenes Haar herabwehte – »und im jugendlichen Alter wird das Kind seiner Mutter überlassen – habe ich nicht recht?« er wandte sich mit theatralischer Geberde an seine Gefährten.
»Bravo!« riefen die Uebrigen und schlugen in die Hände.
»Nieder mit allen Tyrannen und Vätern – hip – hip hurrah« und der fürchterliche hierauf folgende Jubelschrei zersprengte fast das Trommelfell, das er berührte.
»Gabriel!« flüsterte der Vater – »Du folgtest mir lieber – meinest Du nicht? Ueberlege!« Mit diesen Worten verbeugte er sich tief gegen die ungnädige Versammlung und schritt, als ob er ihr den Sieg überließe, über die Straße hinüber nach Bondstreet zu.
Ehe noch der Triumph und Jubelruf verschollen war, schaute sich Dalibard um, und sah seinen Sohn hinter sich.
»Komm näher, Sir!« sagte er, und als der Knabe still stand, fuhr er fort »ich verspreche Dir Frieden – willst Du ihn annehmen?«
»Friede denn,« entgegnete Gabriel, als er an seines Vaters Seite trat.
»So also,« sagte jetzt Dalibard, »da ich meine Beistimmung gab, daß Du Dich der Kunst, wie Du es nennst, unter Deiner Mutter würdigem Bruder widmen mögest, hätte ich eigentlich bedenken sollen, welches die natürlichen und passenden Gefährten des neuen Raphaels werden müßten.«
»Ich gestehe, Sir.« antwortete Gabriel, »daß es eine wilde, toblustige Schaar ist, einige von ihnen aber sind sehr gescheidt und –«
»Ausnehmend trunken,« unterbrach ihn Dalibard, während er zugleich mit einem forschenden Blick die Gestalt seines Sohnes überflog – »lernst Du diese Kunst etwa auch, um Deine Hand vielleicht für den Meißel fest und sicher zu machen?«
»Nein Sir – ich trinke den Wein wohl gern, aber ich möchte mich nicht, um alle Schätze der Welt, betrinken. Ich habe gesehen, daß Leute in dem Zustand zu Thoren werden – sie verrathen ihre Geheimnisse und geben sich preis.«
»Gut gesagt.« erwiederte, fast bewundernd, sein Vater – »aber fort mit dem Geschwätz jetzt, Gabriel! Glaubst Du wirklich, daß ich Dich noch länger in der Gesellschaft jenes Vagabunden Varney und dieser › vauriens,‹ seiner Gefährten, lassen werde? Du wirst mit mir nach Hause gehen, und wenn Du überhaupt ein Maler werden willst, so muß ich mich nach einem bessern Lehrer für Dich umsehen.«
»Ich werde da bleiben, wo ich bin,« antwortete Gabriel ernst, und preßte seine Lippen so fest zusammen, daß alles Blut sie verließ.
»Was, Knabe, höre ich recht? Du versagst mir Gehorsam? wagst Du es, mir zu trotzen?«
»Nicht in Ihrem Hause – deshalb werde ich auch nicht dahin zurückkehren.«
Dalibard lachte höhnisch.
» Peste, das ist aufrichtig, Du bist aber noch nicht majorenn, Mr. Varney – Du bist noch nicht frei von eines tyrannischen Vaters Zucht.«
»Das Gesetz erkennt Sie nicht als meinen Vater an, wie ich gehört habe, Sir. Sie sagten ganz recht – mein Name ist Varney, nicht Dalibard – wir haben keine Ansprüche, Einer auf den Anderen; so wenigstens hat es mir Tom Paßmore gesagt, und dessen Vater ist Advokat.«
Dalibard's Hand erfaßte Gabriel's Arm convulsivisch; trotz dem wirklich heftigen Schmerz aber äußerte der Knabe keinen Laut, sondern zischte nur zwischen den Zähnen durch –
»Hütet Euch, hütet Euch – oder meiner Mutter Sohn möchte ihren Tod rächen.«
Dalibard fuhr wie von einer Natter gestochen zurück und von seiner Seite gleitend, benutzte Gabriel die Gelegenheit zu entfliehen; in der Mitte des düsteren, durch eine Lampe erleuchteten Weges erst, wo er sich außer dem Bereich seines Vaters sah, blieb er stehen und sagte dann ihm vorsichtig wieder ein wenig näher rückend:
»Ich weiß, ich bin nur noch ein Knabe, Sie haben mich aber so mannesreif gemacht, daß ich schon für mich selber sorgen kann. Mr. Varney, mein Onkel, wird mich erhalten – sobald ich mündig bin, hat Sir Miles für mich gesorgt. Lassen Sie mich in Frieden – behandeln Sie mich, als ob ich frei wäre, und ich werde Sie zu Zeiten besuchen und Ihnen helfen, wenn Sie mich brauchen – ich will Ihnen noch immer gehorchen, und Ihren Ermahnungen folgen, denn ich weiß« – er machte hier eine Pause – »Sie sind klug; versuchen Sie es aber wieder, mich zu Ihrem Sclaven zu machen, so erwarten Sie Nichts in mir, als Ihren Feind. Gute Nacht, und bedenken Sie, daß ein Bastard keinen Vater hat.«
Mit diesen Worten wandte er sich um, und verschwand bald unten in der Straße um eine der Ecken.
Dalibard blieb einige Minuten regungslos stehen – endlich murmelte er – »Ei – laß ihn gehen – er ist gefährlich – welcher Sohn hat sich auch je gegen seinen Vater empört, und ist nachher glücklich geworden? Futter für den Galgen – was thuts!«
Als Dalibard Lucretia besuchte, hatte sich sein ganzes Benehmen gegen sie geändert; die Heiterkeit, die er früher gezeigt, war verschwunden; er sprach nicht mehr mit ihr von ihren Plänen für die Zukunft, sondern sah sie oft lang und wehmüthig an, stand dann auf und verließ das Zimmer.
Sie hätte diesen Wechsel seines Benehmens vielleicht einer wieder erwachten Leidenschaft zugeschrieben, hörte ihn aber einst flüstern »Armes Kind – armes Kindl« Da plötzlich ergriff sie, wenn auch ein noch immer unbestimmter Verdacht, der übrigens eher aus einigen Bemerkungen Fieldens Nahrung geschöpft, indem dieser würdige Mann weniger discret gewesen, als ihm Dalibard anempfohlen. Einen oder zwei Tage später frug sie Mainwaring beiläufig weshalb er ihr in Laughton nie von seiner Bekanntschaft mit Fielden gesagt hätte?
»Du hast mich das schon einmal gefragt,« erwiederte dieser etwas verschlossen.
»Wirklich – ich vergaß, doch wie war es? wiederhole es mir.«
»Kaum weiß ich es selbst,« sagte er verwirrt – »wir sprachen stets von dem armen Sir Miles, und von unseren eigenen Hoffnungen und Befürchtungen zusammen.«
Das war eines Liebenden sehr natürliche Entschuldigung, und in der Gegenwart des Geliebten ist ja auch alles Vergangene vergessen, dennoch fuhr Lucretia, mit einem Seitenblick auf ihn, fort:
»Da Du aber doch auch meine Schwester oft gesehen haben mußt –«
Mainwaring hatte sich, während er gesprochen, mit einem Knopf seiner Kamasche beschäftigt, und Kamaschen trug man damals fest um den Knöchel herum, so daß ihm das Bücken das Blut in den Kopf trieb.
»Wohl wahr,« entgegnete er, dabei noch immer in seiner Arbeit fortfahrend – »Du schienst aber mit Deiner Schwester so wenig befreundet, daß ich Dich zu kränken fürchtete.«
Lucretia war für den Augenblick befriedigt, denn so fest baute und vertraute sie auf Mainwarings Liebe, so klammerte sich ihr eigenes Herz, ihre eigene Seele an diesen letzten, rettenden Felsen an, während um sie die Fluth tobte, daß sie fast gewaltsam alle Zweifel zurückstieß, die sich ihr immer und immer wieder aufdrängen wollten.
»Ich weiß es wohl« – sagte sie sich oft – »ich weiß, daß er nicht so liebt, wie ich liebe, der Mann kann und soll das aber auch nicht. – Wäre ich ein Mann, ich würde mich verachten, so ganz und gar einer einzigen Leidenschaft hingegeben zu seyn, auf die ich jetzt stolz bin – ich – ein armes Weib. Ja, ich weiß,« – fuhr sie dann fort, »ich weiß, wie mißtrauisch ich bin, aber ihm muß ich vertrauen – ich möchte ihn sonst nur entrüsten und – verlieren. Ich darf ja gar nicht mißtrauisch seyn – es wäre zu fürchterlich.« –
So wie sich ein fester Charakter dem einmal Unternommenen fest und ganz hingibt, so zwang sie sich förmlich dazu, ihrem Geliebten zu vertrauen. Seine Worte beruhigten sie nun also, wie wir sagten, für den Augenblick, trotzdem aber wiederholte sie sich dieselben doch noch wieder, und immer wieder, als er fort war, und unwillkürlich stiegen Besorgnisse in ihr auf, denen sie selbst noch keine bestimmte Form und Gestalt zu geben wußte. Ohne daß sie es eigentlich wollte, beobachtete sie jetzt den Ausdruck, die Bewegungen ihrer Schwester – und drängte sich mehr in ihre Gesellschaft.
Ihre frühere Gleichgültigkeit war aber auch in letzter Zeit zu wirklicher Bitterkeit gediehen. Susanna, die vernachlässigte, verachtete, war ihres Gleichen, nein, mehr noch geworden, als sie – Susanna's Kinder sollten vor den ihrigen den Vorrang in der Erbschaft zu Laughton haben. Bis jetzt hatte sie die Schwester auch nie gewürdigt, mit ihr in jener süßen Vertraulichkeit zu kosen und plaudern, wie es Schwestern sonst wohl thun – nie hatte sie ihr jene heißen Gefühle für den künftigen Gatten entdeckt, die fest verschlossen und einsam in ihrem Herzen ruhten. Jetzt jedoch änderte sich ihr ganzes Benehmen, sie fing an ihn zu nennen, hing sich in Susannens Arm, redete mit ihr von Liebe und Heirath, von der kommenden Zeit, die sie an Mainwarings Seite verleben würde und – las indeß jede Bewegung in Susannens Antlitz.
Der Theil des Geheimnisses wurde ihr in den ersten Momenten klar; Susanne liebte – liebte William Mainwaring – war es aber nicht etwa eine hoffnungslose, unerwiederte Liebe? war es nicht vielleicht die Ursache, die Mainwaring so verstimmt und abgeschlossen gemacht? Er konnte vielleicht einen Sieg gesehen haben, den er errungen, aber nicht gesucht hatte, und vermied nun mit edlem Zartgefühl, Susannen gegen Lucretia zu erwähnen; ja, fand vielleicht gerade darin seine Entschuldigung, was sie oft geärgert und gekränkt hatte, daß er sich nicht dem Familienzirkel anschloß.
Wenn Einer meiner Leser oder Leserinnen zu denen gehören sollte, die, selbst klug und mit scharfem Verstande begabt, geliebt haben und betrogen wurden, so werden sie sich vielleicht noch der ersten Augenblicke erinnern, als der so lang zurückgedrängte Zweifel endlich sein Recht verlangte und gehört werden wollte; ein schwaches thörichtes Herz gibt dabei gleich dem ersten Eindrucke nach, nicht so das stärkere – kräftigere; das im Gegentheil sucht alle die kleinen Züge und Umstände hervor, die es rechtfertigen an Treue und Wahrheit zu glauben, um dem Verdacht die Spitze zu bieten; es übergibt die Festung nicht bei dem ersten herausfordernden Ton der Trompete; es sammelt alle seine Kräfte und schließt dem Feinde die Thore. Daher kommt es auch, daß die, die in Sachen des Herzens am leichtesten zu betrügen sind, sich gewöhnlich in anderen und größeren Lebensverhältnissen schlau und gewandt zeigen. Molière, der jedes Räthsel in den tausendfachen Veränderungen des menschlichen Herzens löste, und trotzdem mit fast erzwungener Leichtgläubigkeit an seiner ruchlosen Frau hing, liefert davon ein treffendes Beispiel.
Dennoch hielt Lucretia eine dumpfe Ahnung, eine Furcht, der sie selbst keinen Namen geben konnte, davon ab, tiefer in dies Geheimniß einzudringen. So gräßlich war der Gedanke, betrogen zu seyn, daß sie sich, ehe sie ihn ganz ausdachte, lieber selbst betrog. Das arme und doch so böse Herz schrack vor einer Frage zurück, und zitterte bei dem Gedanken an Schuld. Froh und freudig, ja fast mit Entzücken vernahm sie eines Morgens Susannens plötzliche Ankündigung, daß sie die Einladung von einer Verwandtin ihres Vaters angenommen habe, und einige Zeit auf deren Villa bei Hampstead verleben würde. Sie wollte gegen Ende der Woche gehen und Lucretia jubelte darüber, wenn sie auch die Ursache erkannte. Susanne floh den Namen Mainwarings auf Lucretia's Lippen, sie schrack zurück vor der ihr so rauh und tückisch aufgedrungenen Vertraulichkeit. Mit heiterem Blicke empfing Lucretia an dem Tag den Geliebten – aber sie sagte ihm Nichts von Susannens beabsichtigter Reise – sie wagte es nicht.
Dalibard war getäuscht. Dieser Widerspruch in Lucretia's Charakter – so mißtrauisch – und doch so fest – blieb selbst seinem Scharfsinne ein Räthsel. Er sah, daß stärkere Mittel nöthig waren. Er fing Mainwaring auf des jungen Mannes Weg nach seiner eigenen Wohnung auf, und frug ihn nur so hingeworfen, nachdem er sich erst vorher mit ihm über mehrere andere gleichgültige Sachen unterhalten, ›ob er nicht dächte, daß Susanna in letzter Zeit recht abgenommen;‹ sich stellend, als bemerke er das fast krampfhafte Emporzucken des jungen Mannes bei dieser Frage nicht, fuhr er ruhig fort:
»Es muß ihr auf jeden Fall irgend etwas das Herz bedrücken, ich habe schon bemerkt, daß ihre Augen oft vom Weinen geröthet sind – armes Mädchen, vielleicht irgend eine thörichte Liebesgeschichte! Doch wir werden sie wohl vor Ihrer Hochzeit nicht wieder zu sehen bekommen, sie will in ein oder zwei Tagen verreisen: ein Luftwechsel mag sie vielleicht wieder herstellen, ich gestehe aber, ich fürchte das Schlimmste. Zu solcher Jahreszeit und in dem Alter halte ich Krankheiten, wie sie hat, für schnell tödtend. Adieu – wir sehen uns wohl heute Abend noch.«
Von Entsetzen durchbebt bei diesen grausamen Worten, hatte Mainwaring kaum seine eigene Wohnung erreicht, als er ein paar Zeilen an Fielden schrieb und ihn bat, bei ihm vorzusprechen.
Der Vikar folgte dem Ruf und fand Mainwaring in einem Zustande, der an Verzweiflung grenzte; ja selbst dann nicht, als Susanna's Name genannt wurde, sah er sich beruhigt, denn auch Fielden war ängstlich besorgt um das Leben des jungen Mädchens. Der Klang ihres kurzen Hustens schallte ihm ins Ohr, und er verstärkte eher das Schreckbild, das Mainwaring verfolgte, als daß er es vertreiben half. – Susanna im Innersten verwundet – sterbend – gebrochenen Herzens sterbend.
An Herz und Gewissen gemartert, war es Mainwaring, als ob er auf dieser Welt nur den einzigen Wunsch behalten habe – Susanna noch einmal zu sehen. Was er ihr sagen wollte – ach, er wußte es selbst ja nicht – vor ihrem Abschied aber – Abschied? – großer Gott, vielleicht in das Grab, in das sie dann den Glauben mitnähme, er trüge gleichgültig ihren Tod – mußte er sie noch einmal sprechen, mußte ihr wenigstens sagen, was er ertragen, wie weit er schuldig sey und dann, dann noch ihre Verzeihung erbitten. Nach solcher Zusammenkunft würden beide mehr Festigkeit gewinnen, beide konnten sich zu dem Schritte ermuthigen, der ihnen allein noch – ehrenvoll übrig blieb. Diesen sehnsüchtigen Wunsch machte er Fielden mit jener Beredsamkeit kund, die nur leidenschaftlicher und so tiefer Schmerz geben kann, und er flehte ihn an, ihm eine letzte Unterredung mit Susanna zu gestatten und zu verschaffen. Das verweigerte aber der einfache Verstand und das ehrliche Gewissen des guten alten Mannes lange. Wäre Mainwaring in der Lage gewesen, sein Herz Lucretien zu entdecken, Fielden hätte dagegen Nichts einwenden können; ein Rendezvous aber mit der einen Schwester zu verabreden, während er mit der anderen verlobt war, trug doch etwas zu Zweideutiges schon in sich selbst, um des einfachen Vikars Beistimmung zu erhalten.
»Was können Sie fürchten.« rief aber der junge Mann jetzt fast zornig – denn gequält, gemartert, war seine sonst milde Natur zum Aeußersten getrieben. – »Können Sie auch nur glauben, daß ich mein eigenes Elend noch durch verbrecherisches Flehen um hoffnungslose Liebe vergrößern würde? Alles, was ich verlange, ist die Seligkeit, ja wahrhaftig, die so lange nicht gekannte Seligkeit des aufrichtigen Vertrauens. Frei und offen will ich Susannen die Lage erklären, in die mich das Schicksal geworfen. Glauben Sie, daß wir nicht Beide Trost und Stärke durch einander empfangen können? Unsere Pflicht liegt offen und einfach vor uns, aber sie wird schmerzloser, wenn wir einen Leidensgefährten haben. Und hier erkläre ich es Ihnen, sehen will und muß ich Susanna. Um ihren Aufenthalt will ich mich schleichen, sey sie wo sie wolle – Stunde nach Stunde – und geschehe was mag, einmal finde ich die Gelegenheit. Ist es da nicht besser, die Unterredung finde in Ihrem Hause, unter demselben Dache statt, das ihrer Schwester Schutz gibt? Hier hält der Platz selbst die Verzweiflung zurück. Oh Sir – jetzt ist keine Zeit mehr zu formellen Scrupeln– seyn Sie barmherzig, ich bitte Sie, und nicht gegen mich allein; nein, gegen Susanna. Ich beurtheile sie nach mir, und ich weiß, daß ich selbst ruhiger, mehr meinem Geschick ergeben, zum Altar gehen werde, wenn ich nur einmal dem arg bedrängten Herzen Luft machen konnte. Sie wird dann, wie ich selbst, erkennen, daß der Weg, den wir zu gehen haben, unausweichbar ist und mehr ergeben in ihr Schicksal und ruhiger seyn. Wir werden uns gegenseitig und aufrichtigen Herzens schwören, nicht zu lieben, sondern unsere Liebe zu bezwingen. Glauben Sie mir, Sir, ich bin in dieser Bitte nicht selbstsüchtig, ein Instinkt – eine Verwandtschaft, die Schmerz und Schmerz zusammen hat – überzeugt mich, daß Das, um was ich bitte, der beste, vielleicht der einzige Trost auch für Susanne sey. Sie gestehen, daß sie krank ist, daß sie leidet – fürchten Sie nicht sogar für ihr Leben? O allmächtiger Gott, für ihr Leben, und doch wissen Sie, wie wir uns nie gegen einander ausgesprochen; kann jetzt Sprache schädlicher – schrecklicher wirken, als unser bisheriges Schweigen? Oh, ihretwegen – hören Sie mich!«
Des guten Mannes Thränen floßen, seine Bedenklichkeiten waren zum Wanken gebracht, denn Wahrheit lag in dem, was jener sagte. Dennoch gab er nicht gleich nach, versprach aber, die Bitte zu überlegen und Mainwaring noch an demselben Abend durch ein paar Zeilen davon in Kenntniß zu setzen. Mainwaring, da er sah, daß dies Alles war, was er für den Augenblick von ihm erlangen konnte, ließ ihn gehen, und Fielden eilte unverzüglich zu Dalibard, um ihn um Rath zu fragen. Dieser schlaue Betrüger machte jedoch Mr. Fieldens letzten Scrupel bald schwinden, und es blieb nun Nichts weiter übrig, als zuerst Susanna's Einwilligung zu erlangen, es dann aber so zu arrangiren, daß sie durch Nichts gestört werden konnten. Mr. Fielden versprach am nächsten Morgen die Kinder auszuführen, Dalibard erbot sich freiwillig, zu der bestimmten Stunde Lucretia zu entfernen; nur Mrs. Fielden sollte allein zu Hause bleiben und, wenn das für nöthig befunden würde, bei der Zusammenkunft gegenwärtig seyn, die auf den Vormittag im gewöhnlichen Wohnzimmer angesetzt worden. Susanna's Einwilligung war jetzt allein noch nöthig, und Mr. Fielden stieg zu ihrem Zimmer empor.
Er klopfte zweimal – keine süße Stimme rief ihm ein freundliches »herein« entgegen, – er öffnete die Thür leise – Susanna betete. An der entgegengesetzten Seite des Zimmers, neben ihrem Bett, kniete sie, ihr Antlitz in den Händen verborgen, und er vernahm, schwach und undeutlich das durch Schluchzen unterbrochene Murmeln. Endlich aber und allmälig, während er unbemerkt stehen blieb, schwieg beides. – Das Gebet hatte seinen gewöhnlichen segensreichen Einfluß auf die Reine und Andächtige ausgeübt, und als sich Susanna erhob, war ihr Antlitz, wenn auch noch thränenfeucht,– doch verklärt wie das eines Engels.
Der Pastor näherte sich ihr und nahm ihre Hand – ein leises Erröthen zuckte dabei über ihr Antlitz – sie zitterte und ihre Augen sanken zu Boden.
»Mein Kind,« sagte er jetzt feierlich – »Gott wird Dich hören!« – Nach diesen Worten herrschte ein langes Schweigen, dann zog er die nicht Widerstrebende zu einem Stuhl, und ließ sich an ihrer Seite nieder; freilich wußte er noch immer nicht, wie er beginnen sollte, und sagte endlich gerade heraus, doch halb bei Seite: –
»Mr. Mainwaring hat mich um etwas gebeten – um etwas, das Dich ebenfalls mitbetrifft und was ich Dir hiermit überlasse. – Er ersucht Dich ihm eine Zusammenkunft zu gestatten, ehe Du das Haus verläßt – morgen, wenn Du willst. Ich verweigerte es ihm zuerst – ich bin noch in Zweifel, ob ich recht handle, denn, mein liebes Kind, sobald unsere Gefühle mit ins Spiel kommen, wird dem menschlichen Herzen seine Pflicht so viel, ach so sehr viel unklarer, und verworrener – und doch sind sie manchmal bessere Rathgeber als unser Verstand. Nie habe ich überhaupt den Verstand ganz frei von Irrthum gefunden, als in der Mathematik, wir haben aber keinen Euclid – (und der gute alte Mann lächelte wehmüthig,) in den Problemen des wirklichen Lebens. Ich will Dich nun nicht zu diesem oder jenem Weg überreden, – ich stelle Dir den Fall einfach und klar vor Augen. Wird es Dir, wie der junge Mann glaubt, Trost und Stärke geben, ihn noch einmal zu sehen, so lange Du – so lange – kurz, ehe Deine Schwester – ich meine ehe – das heißt, würde es Dich jetzt beruhigen, eine ungestörte Zusammenkunft mit ihm zu haben? Er fleht darum, was soll ich ihm sagen?«
»Auch noch Das!« flüsterte Susanna kaum hörbar »das, wonach sich einst meine Seele sehnte« – und die Hand, die Fielden gefaßt hielt, war so kalt wie Eis. Dann aber heftete sie ihre Augen fest, ja fast wild auf ihren Erzieher und rief: – »Aber weshalb – zu welchem Zweck? warum will er mich sehen?«
»Um Muth zu fassen seine Pflicht zu thun – sich weniger unglücklich zu fühlen, wenn – wenn –«
»Ich will ihn sprechen,« unterbrach ihn Susanna fest – »er hat recht, – es wird uns Beiden Stärke geben – ich will ihn sprechen«
»Aber die menschliche Natur ist schwach, mein Kind, wenn es mein Herz jetzt ist, wie wird es das Deinige seyn?«
»Fürchten Sie nicht für mich –« erwiederte ihm Susanna mit einem wehmüthigen fast krankhaften Lächeln und dann wiederholte sie leise– »ich will ihn sprechen.«
Der gute Mann sah sie an, schlang dann seine Arme um ihre abgezehrte Gestalt, blickte empor, und seine Lippen bewegten sich von Worten, wie sie ein Vater für sein Kind zum Höchsten sendet.