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In einem Zimmer zu Paris saß eines Morgens während der Schreckensherrschaft ein Mann, dessen Alter etwas unter dreißig seyn mochte, vor einem mit Papieren bedeckten Tische, die mit der methodischen Genauigkeit eines ordnungsliebenden und geschäftsgewohnten Sinnes geordnet und bezeichnet waren. Hinter ihm erhob sich ein hohes Bücherbret, über welchem eine Büste Robespierres stand, während die Fächer hauptsächlich mit wissenschaftlichen Werken angefüllt waren; die größere Anzahl derselben betraf Chemie und Medicin. Auch sah man da viele seltene Bücher über Alchymie, die großen italienischen Historiker, einige englische wissenschaftliche Abhandlungen und einige arabische Handschriften. Daß in dieser Sammlung die stürmische Literatur des Tages gänzlich fehlte, schien anzuzeigen, daß der Eigenthümer ein stiller Gelehrter war, der dem Streit und den Leidenschaften der Revolution fern lebte. Diese Vermuthung ward indeß durch gewisse Papiere auf dem Tische widerlegt, welche förmlich und lakonisch bezeichnet waren: »Berichte über Lyon,« und durch Briefpakete in der Handschrift Robespierres und Couthons. An einem der Fenster war ein junger Knabe eifrig von einer Beschäftigung in Anspruch genommen, welche die Neugier des so eben geschilderten Mannes zu erregen schien; denn nachdem dieser letztere des Kindes Bewegungen einige Augenblicke mit schweigendem Forschen beobachtet, welches nur wenig von der halb freundlichen, halb melancholischen Theilnahme verrieth, mit welcher der geschäftige Mann die spielende Kindheit zu betrachten vermag, erhob er sich geräuschlos von seinem Sitze, näherte sich dem Knaben und blickte ihm unbemerkt über die Schulter. In einem Spalt des Fensterstocks hatte eine große schwarze Spinne ihr Netz angebracht; das Kind hatte so eben eine zweite Spinne entdeckt und in das Gewebe gesetzt; es war des Erfolgs seiner Operationen gewärtig. Die eingedrungene Spinne stand regungslos mitten im Gewebe wie festgezaubert. Der rechtmäßige Besitzer war ebenfalls ruhig; aber ein feines Ohr hätte einen leisen summenden Ton vernehmen können, welcher wahrscheinlich keine gastfreundlichen Absichten gegen den Eindringling weissagte. Indeß schien das fremde Insekt plötzlich aus seiner Betäubung zu erwachen; es zeigte Unruhe und wandte sich zur Flucht; die gewaltige Spinne schoß vorwärts – der Knabe ließ ein frohes Jauchzen vernehmen. Die bleiche Lippe des Mannes verzog sich zu einem unheimlichen Lächeln, und er schlich wieder zu seinem Stuhle. Dort fuhr er, das Gesicht in die Hand gestützt, fort, das Kind zu beobachten. Das Kind hätte für einen Künstler ein passendes Modell schöner und blühender Kindheit abgeben können. Sein lichtes, allerdings stark mit Roth angeflogenes Haar hing in weicher und glänzender Fülle über Hals und Schultern nieder. Seine Züge waren, im Profil gesehen, fein proportionirt; Gesundheit glühte auf seinen Wangen, und seine Gestalt verhieß, so schlank sie auch war, vorzügliche Gewandtheit und Kraft. Seine Kleidung war phantastisch und zeigte den Geschmack einer übertrieben zärtlichen Mutter; aber die feine, mit Spitzen besetzte Wäsche war zerknickt und befleckt, die Sammetjacke ungebürstet; die Schuhe mit Staub bedeckt; – zwar nur leichte Zeichen von Vernachlässigung, lieferten sie doch den Beweis, daß die thörichte Zärtlichkeit, welche das Kleid erfunden, in der letzten Zeit nicht über die Toilette gewacht hatte.
»Kind,« sagte der Mann, zuerst auf französisch, und als er bemerkte, daß der Knabe nicht darauf achtete, wiederholte er »Kind« auf englisch welches er gut, wiewohl mit einem fremden Accente sprach – »Kind!«
Der Knabe wandte sich rasch um.
»Hat die große Spinne die kleine verzehrt?«
»Nein, Sir,« sagte der Knabe erröthend; »die kleine hat den Sieg davon getragen.« Der Ton und die erhöhte Gesichtsfarbe des Kindes schienen seinen Worten eine Bedeutung zu geben – zum wenigsten glaubte der Mann so, – denn ein leichtes Zürnen flog über seine hohe gedankenvolle Stirn.
»Spinnen sind also,« sagte er nach einer kurzen Pause, »verschieden von Menschen; bei uns gewinnt der kleine nicht den Vortheil über den großen. Hm! vermissest Du immer noch Deine Mutter?«
»O ja!« und der Knabe näherte sich rasch dem Tische.
»Nun, Du wirst sie noch einmal sehen.«
»Wann?«
Der Mann blickte auf eine Uhr überm Kamin – »bevor diese Uhr schlägt. Nun, gehe zu Deinen Spinnen zurück.« Das Kind zeigte sich unentschlossen und nicht zu gehorchen geneigt; aber ein ernster und schrecklicher Ausdruck prägte sich allmälig auf des Mannes Gesicht aus, und der Knabe, der bei diesem Anblick erblaßte, schlich zum Fenster zurück.
Der Vater, denn in solchem Verhältniß stand der Eigenthümer des Zimmers zu dem Kinde, rückte Papier und Tinte vor sich zurecht und schrieb einige Minuten hastig. Dann stand er rasch auf, blickte auf die Uhr, nahm Hut und Mantel, die auf einem Stuhle zur Seite lagen, schlug den Mantelkragen um, daß er das Gesicht fast verbarg, und sagte: – »Jetzt, Knabe, komm mit mir, ich habe versprochen, Dir eine Hinrichtung zu zeigen. Ich will jetzt mein Versprechen halten, komm!«
Der Knabe schlug freudig in die Hände; und jetzt konnte man sehen, daß diese schönen Züge, obwohl die eines Kindes, eines grausamen und wilden Ausdrucks fähig waren. Der Charakter des ganzen Gesichts war verwandelt. Er ergriff seine bunt geschmückte Mütze und folgte dem Vater auf die Straße.
Schweigend gingen die beiden ihren Weg nach der Barrière du Trône. In einiger Entfernung sahen sie, wie das Getümmel stärker und dichter ward, wie eine Schaar nach der andern an ihnen vorüber eilte und wie sich die schreckliche Guillotine hoch in der klaren blauen Luft erhob. Als sie mitten unter das Gedränge des Pöbels kamen, ergriff der Vater zum ersten Male die Hand des Kindes. »Ich muß Dir einen guten Platz zum Zusehen verschaffen,« sagte er mit ruhigem Lächeln.
Es lag etwas in dem ernsten, gesetzten, höflichen und doch stolzen Benehmen des Mannes, was die Menge veranlaßte, ihm beim Durchgehen Platz zu machen. Sie kamen der Schreckensscene näher und erhielten Zutritt auf einem bereits mit eifrigen Zuschauern erfüllten Wagen.
Und nun vernahmen sie aus der Ferne das rauhe und polternde Rollen des Karrens, welcher die Opfer trug, und das Getrampel der Reiterei, welche die Todesprozession geleitete. Des Knaben ganze Aufmerksamkeit war in Erwartung des Schauspiels gefesselt, und da sein Ohr vielleicht weniger an das Französische gewöhnt war, obwohl er in Frankreich geboren und erzogen, als an die Sprache von seiner Mutter Lippen – und sie war Engländerin – so hörte oder beachtete er gewisse Bemerkungen der Umstehenden nicht, welche seines Vaters bleiche Wangen noch bleicher machten.
»Was gibts heut für Backwerk Im Original: » batch«: Schub, Stapel. – Gustav Pfizer übersetzt 1842 in »Zanoni« dieses Wort, das die ›Lieferung‹ mit zu Guillotinierenden bezeichnet, mit ›Schub‹.?« fragte ein Fleischer auf dem Wagen.
»Kaum des Backens werth – nur zwei; aber einer, sagt man, ist ein Aristokrat – ein ci-devant Marquis,« antwortete ein Zimmermann.
»Ach! ein Marquis! – Bon! – und der Andere?«
»Nur eine Tänzerin; aber eine hübsche, das ist wahr; ich könnte Mitleid mit ihr haben; aber sie ist Engländerin.« Und während er dies letzte Wort in einem Tone unaussprechlicher Verachtung aussprach, spuckte der Fleischer aus, als wenn er sich ekelte.
» Mort diable! vermuthlich eine Spionin Pitts. Was entdeckten sie?«
Ein besser als die übrigen gekleideter Mann wandte sich mit einem Lächeln um und antwortete: – »nichts Schlimmeres als einen Liebhaber, glaube ich; aber der Liebhaber war ein Proskribirter. Der ci-devant Marquis wurde in ihrem Zimmer verkleidet gefunden. Sie verrieth seinetwegen einen guten gefälligen Freund des Volks, der sie lange geliebt hatte, und Rache ist süß.«
Der Mann, welchen wir begleiteten, zog den Kragen seines Mantels hastig empor und seine zusammengedrückten Lippen sagten, daß ihm das Lachen ringsum Qual verursachte.
»Sie kommen! Da sind sie!« rief der Knabe im höchsten Entzücken.
»Auf diese Weise erzieht man Bürger,« sagte der Fleischer, indem er dem Kinde auf die Schulter klopfte und ihm eine weit bessere Aussicht am Rande des Wagens öffnete.
Die Menge wich jetzt rasch auseinander. Man erblickte den Karren. Ein Mann, jung und hübsch, stand aufrecht, mit untergeschlagenen Armen, in dem verhängnißvollen Fuhrwerk und blickte mit kalter Verachtung über die Pöbelmasse hin. Obwohl er das Kleid eines Arbeiters trug, vermochte doch der ungeübteste Blick in seiner Miene und seinem Benehmen einen von der gehaßten »Noblesse« zu entdecken, deren charakteristische Kennzeichen in der Stunde des Todes nur um so deutlicher hervortraten. Auf der Lippe ruhte das Lächeln des heiteren, trotzigen Leichtsinns, auf der Stirn jenes muthige, ja unbekümmerte Verachten physischer Gefahr, welches die edlen Stutzerhelden des alten Regime ausgezeichnet hatte. Selbst das grobe Kleid ward in einer gewissen gezierten Weise getragen, und das schöne Haar war sorgfältig, gleichsam für den Festtag der Henker, geordnet. Während die Augen des jungen Edelmanns über die trotzigen Gesichter dieser schrecklichen Versammlung schweiften und während ein gräßliches Triumphgeschrei diesem Blicke antwortete, in welchem der g entil-homme zum letzten Male seine Verachtung der Canaille ausdrückte, zog des Kindes Vater den Kragen seines Mantels herab und schob langsam den Hut von der Stirn. Das Auge des Marquis ruhte auf dem ihm so plötzlich gezeigten Gesicht, welches sich auf einmal unter der Menge auszeichnete, und sofort verlor jenes Auge seine ruhige Verachtung. Ein Schaudern lief sichtbar über seinen Körper und seine Wange ward bleich vor Schrecken. Der Pöbel bemerkte die Veränderung, aber nicht die Ursache, und erhob laut und lauter sein triumphirendes Geschrei. Dieser Ton rief den Stolz des jungen Edelmanns zurück; er richtete sich empor, hob das Haupt und suchte dem Blicke wieder zu begegnen, der ihn erschüttert hatte. Aber er vermochte ihn unter der Menge nicht mehr herauszufinden. Hut und Mantel verbargen wieder das Gesicht des Feindes und ein Gedränge neugieriger Köpfe unterbrach die Aussicht.
Die Lippen des jungen Marquis murmelten; er beugte sich nieder, und nun bekam die Menge seine Gefährtin zu Gesicht, die man vom Boden des Karrens, wohin sie sich vor Entsetzen und Verzweiflung geworfen, emporgehoben hatte. Im Augenblick ward die Menge still, als sich das bleiche Gesicht Einer, das den meisten von ihnen bekannt war, wild von Ort zu Ort auf dem schrecklichen Schauplatz wendete, umsonst und wahnsinnig durch dies Schweigen um Leben und Erbarmung flehend. Wie oft hatte der Anblick dieses Gesichts damals nicht bleich und eingefallen, sondern mit rosigem Lächeln geschmückt, genügt, um den Applaus des überfüllten Theaters hervorzurufen! – Wie hatten damals alle diese Busen, die jetzt der Blutdurst fieberhaft erfüllte, Herzen geborgen, welche zauberisch gefesselt waren durch die lustigen Bewegungen dieser herrlichen Gestalt, die sich jetzt unter nicht theatralischer Todesangst wand! Spielzeug der Stadt – Liebling der leichten Unterhaltung der Stunde – schwaches Kind Cytherens und der Grazien – welches unerbittliche Geschick hatte Dich zur Schlachtbank geführt? Sommerschmetterling, warum mußte eine Nation aufstehen, um Dich hinzurichten? Ein Gefühl von der Posse einer solchen Hinrichtung, von der entsetzlichen Burleske, den Bedürfnissen eines mächtigen Volkes ein so geringes Opfer darzubringen, regte sich selbst unter der Menge. Es ließ sich ein leises Gemurmel der Scham und des Unwillens vernehmen. Die gefährliche Sympathie wurde vom anwesenden Beamten bemerkt. Hastig gab er den Henkern das Zeichen, und als er es gab, hörte man den Ruf eines Kindes in englischer Sprache: »Mutter – Mutter!« Des Vaters Hand packte des Kindes Arm mit eisernem Drucke; das Getümmel schwamm vor des Knaben Augen; die Luft schien ihn zu ersticken und ward blutroth; durch das Stimmengewirr, das Pferdegetrappel, das Trommelwirbeln vernahm er nur eine leise Stimme, die ihm ins Ohr flüsterte: »Lerne, wie sie sterben, die mich verrathen!«
Als der Vater diese Worte sprach, war sein Gesicht wieder frei, und das Weib, deren Ohr bei all dem dumpfen Wahnsinn der Furcht die Stimme ihres Kindes erkannt hatte, sah dies Gesicht und sank bewußtlos in die Arme der Henker.