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Zweites Kapitel.

Lucretia.

Als Lucretia in das Haus Sir Miles St. John kam, war sie ein Kind von etwa vier Jahren. Der Baronet lebte damals hauptsächlich in London und stattete gelegentlich eher dem Continent oder einem Badeort einen Besuch ab, als seinem eigenen Familiensitze. Seinem kleinen Pflegling widmete er seine Aufmerksamkeit keine Minute. Er begnügte sich damit, daß das Mädchen eine sorgfältige Wärterin hatte und daß ihr Zimmer lustig und bequem war. Als sie siebzehn Jahre zählte, begann sie seine Theilnahme zu erregen, und er selbst fing nun, bei zunehmendem Alter, ernstlich an zu erwägen, ob er sie zu seiner Erbin erlesen sollte, denn bis dahin hatte er sich in dieser Hinsicht noch nicht bestimmt entschieden. Er war betroffen über ein so heftiges Temperament, ein Wesen, so eigenwillig und gebieterisch, so hartnäckig auf die Erreichung seines Zwecks gerichtet, so ohne Unterschied Warnung, Vorwurf, Schelten und Strafe verachtend, daß ihre Gouvernante fortwährend zur Verzweiflung gebracht wurde.

Die Zügelung dieses zügellosen Kindes interessirte Sir Miles. Sie veranlaßte ihn, ernstlich an Lucretia zu denken, sie mehr in seine Gesellschaft zu ziehen und sich fortwährend mit ihr im Geiste zu beschäftigen. Die Folge war, daß sie, während sie ihn unterhielt und beschäftigte, sich weit fester in seiner Zuneigung setzte, als es der Fall gewesen seyn würde, wenn sie der Weise gewöhnlicher Kinder ähnlicher gewesen wäre. Unter allen Hunden ist keiner, der einem Herrn so sehr gefällt als der, welcher sonst Jedermann anknurrt, und welchen keine andere Hand ungestraft streicheln darf; unter allen Pferden gibt es keines, von Alexander bis auf diese Zeit herab, auf welches der Reiter so stolz ist als dasjenige, das Niemand sonst reiten kann. Wende man diesen Grundsatz auf das menschliche Geschlecht an und man wird begreifen, warum Lucretia dem Sir Miles St. John so werth wurde – sie gelangte durch seine Eitelkeit in sein Herz. Denn wenn sich auch bisweilen selbst seinem Tadel gegenüber ihre Stirn verdunkelte und ihr Auge leuchtet, so war sie doch kaum in seine Gesellschaft gelangt, als sie sofort einen merklichen Unterschied zwischen ihm und den Untergebenen machte, welche sie bis dahin zu beaufsichtigen gesucht hatten. War dies Zuneigung? Er glaubte es. Ach, welche Eltern vermögen den Einflüssen auf das Gemüth eines Kindes nachzuforschen – Federn, die durch ein müßiges Wort einer Wärterin in Bewegung gesetzt werden, durch ein zwischen Miethlingen geflüstertes Gespräch! War es nicht möglich, daß man Lucretia vielleicht oft mit ihres Oheims Mißfallen, als dem schrecklichsten Unglück, was sie nur treffen könnte, gedroht hatte? Daß ihr schon lange vorher, ehe sie noch einen klaren Begriff von Verlust oder Gewinn irdischen Gutes hatte, ein unbestimmtes Gefühl von Sir Miles Macht über ihr Schicksal eingeflößt worden war? ja, während sie in kindischer Wuth und Verachtung vielleicht das reizbare Gefühl einer Dienerin verletzte, war es nicht möglich, daß man ihr dann gesagt hatte, sie würde selbst nicht viel besser als eine Magd seyn, wenn Sir Miles nicht wäre? Sey dem wie ihm wolle, jede Schwachheit ist geneigt sich zu verstellen; und selten und glücklich ist das Kind, dessen Gefühle so rein und klar sind, als die zärtlichen Eltern glauben. Es liegt dann auch etwas in den Kindern, was eine instinktmäßige Ehrerbietung vor den aristokratischen Erscheinungen, welche die Welt beherrschen, zu seyn scheint. Sir Miles stattliche Person – sein imponirender Anzug, die Ehrerbietung, die ihn umgab, alles vereinigte sich, Begriffe von Ueberlegenheit und Macht zu erzeugen, welchen untergeben zu seyn, nichts Beschämendes hatte, während es beschämend bei Miß Black, der Gouvernante war, welcher die Mädchen schnippisch antworteten, oder bei Martha, der Wärterin, welche Miß Black ausschalt, wenn Lucretia ihr Kleid zerriß.

Nachdem Sir Miles Zuneigung einmal gewonnen war – dessen Scharfblick sich vielleicht nicht gegen ihre sichtbaren Fehler verblenden ließ, dessen Selbstliebe jedoch bestimmt wurde, sie milde zu beurtheilen – so besaß Lucretia äußerliche Gaben genug, welche die Vorliebe des hochmüthigen Mannes rechtfertigten. Als Kind war sie schön, und vielleicht gerade in Folge ihrer Gemüthsfehler hatte ihre Schönheit jenen vornehmen Ausdruck, den die Liebe zum Befehlen leicht verursacht. Wenn Sir Miles mit Freunden beisammen war, so freute er sich, wenn Lucretia ins Zimmer trat und sie dieselbe ihre kleine »Prinzessin« nannten, und noch mehr freute er sich über eine gewisse würdevolle Ruhe, mit welcher sie solche Schmeicheleien oder kleine Geschenke empfing, denn er betrachtete dies Benehmen als das Zeichen eines überlegenen Geistes. Auch währte es in der That nicht lange, so entwickelte sich das, was wir geistige Ueberlegenheit nennen, in der jungen Lucretia. Alle Kinder sind lebendig, bis sie methodisch zum Lernen angehalten werden; aber Lucretia's Lebendigkeit hielt selbst diese betäubende Probe aus, wodurch die Hälfte von uns allen zu »Dunsen« Duns: Dummkopf, Schwachkopf. – Das Wort scheint erst Mitte des 18. Jh. aus dem englischen »dunce« (so auch im englischen Original) eingedeutscht worden zu sein. gemacht werden. Raschheit und Präcision in allem, was sie vornahm, in der Auffassung aller Erklärungen, die sie auf ihre Fragen erhielt, verrieth eine ungewöhnliche Fassungs- und Verstandeskraft.

Als sie älter ward, wurde sie zurückhaltender und sinniger. Da sie nur wenig Kinder ihres Alters sah, und mit keinem vertraut umging, so blieb ihr Geist unbeschränkt von den gewöhnlichen Gegenständen, welche die Lebhaftigkeit, das rastlose und staunende Beobachten der Kindheit zerstreuen. Sie ging aus und ein in Sir Miles Bibliothek des Morgens oder in seinem Wohnzimmer des Abends bis zur Schlafenszeit, mit vollkommener Freiheit, ohne daß man sie befragte oder auch nur bemerkte; sie hörte auf die Gespräche um sie her, und stellte ungestört ihre eignen Gedanken darüber an. Es hat einen großen Einfluß, sowohl zum Guten, als zum Bösen, auf ein Kind, wenn es sich frühzeitig und gewöhnlich unter die Erwachsenen mischt – zum Guten stets auf den Verstand – der böse Einfluß hängt ab vom Charakter und der Discretion derjenigen, welche das Kind sieht und hört. » Maxima reverentia liberis« Ein lateinisches Zitat hat das Original an dieser Stelle nicht; vielmehr heißt es dort lediglich: »Reverence the greatest is due to the children«. Der lateinische Spruch, den der deutsche Übersetzer fehlerhaft zitiert, lautet in Wahrheit: »Maxima debetur puero reverentia«. – die größte Achtung gebührt den Kindern! ruft der weiseste Römer Das englische Original hat an dieser Stelle eine (vom Übersetzer nicht einbezogene) Fußnote des Autor: »Cicero. The sentiment is borrowed by Juvenal.« Und zwar Satire XIV, 47. aus; das bedeutet: wir müssen die Wahrheit und Unerfahrenheit und die Unschuld ihrer Seelen achten.

Sir Miles gewöhnliche Genossen waren nur Weltleute; wohlgezogen und anständig allerdings vor Kindern, wie es die besten der alten Schule waren; alle Anekdoten, alle Anspielungen vermeidend, deren willen die vorsichtige Hausfrau ihre Mädchen aus dem Zimmer schickte; jedoch mit dem Vorbehalt, von der Welt zu sprechen, wie die Welt ist; wenn vom jungen A– gesprochen und sorglos erörtert wurde, was er haben würde, wenn der alte A–, sein Vater, stürbe – wenn man natürlich dem Reichthum, dem Rang, der Lebensgewandtheit ihre bestimmte Bedeutung im Leben zuerkannte – wenn man sich nicht eben bemühte, eine stille Güte durch Lob auszuzeichnen, vielmehr geneigt war, mit Ironie von tugendhaften Neigungen zu sprechen – wenn man selten anders als mit Achtung von den glänzenden irdischen Aeußerlichkeiten sprach, welche die Menschen beherrschen: – so mußte alles dies seine unvermeidliche Wirkung auf diesen scharfen, lebhaften, doch reizbaren und denkenden Geist haben.

Sir Miles zog sich endlich nach Laughton zurück. Er gab London auf – warum, gestand er sich selbst nicht ein; aber es geschah, weil er seine Zeit überlebt hatte– die meisten seiner alten Genossen waren heimgegangen – neue Zeiten, neue Lebensweisen hatten sich eingeschlichen. Er hatte aufgehört als Heirathsfähiger, als Modemann Geltung zu haben; seine Gesundheit war geschwächt; er bebte vor den Anstrengungen eines Wahlstreits; er entsagte seinem Sitz im Parlamente, um nach seiner heimatlichen Grafschaft zu gehen, und da er einmal erst zu Laughton angesiedelt war, so behagte und schmeichelte ihm das Leben dort, denn alle seine früheren Bestrebungen nach Auszeichnung waren da noch frisch. Er unterhielt sich damit, in seinen alten Sälen und Zimmern seine Statuen und Gemälde zu sammeln, und er fühlte, daß er ohne Anstrengung und Mühe zu Laughton ein größerer Mann in seinen alten Tagen war, als ers zu London während der Jugend gewesen.

Lucretia zählte damals dreizehn Jahre. Drei Jahre später wurde Olivier Dalibard in seinem Hause aufgenommen und seit dieser Zeit ging eine merkliche Veränderung mit ihr vor. Die ungeregelte Heftigkeit ihres Gemüths legte sich allmälig und ward durch eine angewöhnte Selbstbeherrschung ersetzt, welche die seltenen Ausnahmen davon nur um so wirksamer und imponirender machte. Ihr Stolz veränderte seinen Charakter gänzlich und dauernd; kein Blick, kein Wort der Geringschätzung gegen Niedriggeborene und Arme entschlüpfte ihr. Die männlichen Studien, welche ihr gelehrter Führer einem gierigen und forschenden Geiste eröffnete, erhoben selbst ihre Fehler über die kleinlichen Standesunterschiede. Sie nahm mit Eifer an, was Dalibard scheinbar oder wirklich fühlte, – den gefährlicheren Stolz des gefallenen Engels – und erhöhete die Vernunft zu einer Gottheit. Alles was rein geistiges Studium war, reizte und fesselte sie; aber thätig und praktisch selbst in ihren Träumereien, sann sie nur nach, um einen Anschlag, einen Plan zu schaffen, ein Gespinnst und Gewebe zu bereiten und dann im stolzen Triumph über ihre eigene Erfindungskraft und Kühnheit zu lächeln. Die erste Lehre der reinen weltlichen Weisheit lehrt uns, das Gemüth zu beherrschen; es war weltliche Weisheit, welche das einst ungestüme Mädchen ruhig, gelassen und still machte. Sir Miles freute sich über eine Veränderung, welche den Hauptflecken von Lucretiens äußerlichem Charakter entfernte. Während seine Körperkräfte abnahmen, seufzte er vielleicht bisweilen bei dem Gedanken, daß sich bei so vieler Majestät so wenig Zartheit zeigte; er nahm indeß die Verdienste mit den Fehlern hin, und war im Ganzen zufrieden.

Wenn sich der Provençale mehr als gewöhnliche Mühe mit seiner jungen Schülerin gegeben hatte, so war die Mühe nicht uneigennützig. Während er ihren Geist in die tiefe Verderbniß stürzte, die nur dem kultivirten Verstande in Verachtung des Guten und in der Unterdrückung des Herzens eigen ist, so hatte er dabei seine eigenen Absichten verfolgt. Er erwartete das Alter, wann die Leidenschaften reifen, und er griff nach der Frucht, welche seine Pflege zur Reife zu bringen strebte. In dem schlecht geleiteten menschlichen Herzen liegt ein dunkles Verlangen nach dem Verbotenen. Dies empfand Lucretia – dies nährten ihre Studien und darüber brüteten ihre Gedanken. Sie entdeckte, mit dem Scharfblick ihres Geschlechts, das heimliche Ziel ihres Lehrers. Sie bebte nicht vor der Gefahr zurück. Stolz auf ihre Selbstbemeisterung, triumphirte sie vielmehr, diesen Meisterverstand, der ihren eigenen entzündet hatte, in Schwachheit zu verlocken – ihren Sklaven in ihrem Lehrer zu sehen – ihn zu verachten oder zu bemitleiden, den sie anfangs mit Ehrfurcht betrachtet hatte. Und mit diesem bloßen Stolze des Verstandes mochte sich auch der des Geschlechts verbinden, sie hatte die Jahre erreicht, wo das Weib begierig ist, seine Macht zu erkennen und zu prüfen. Dalibards Begier oder Ehrgeiz zu entzünden, war leicht; aber sein Herz zu rühren – dieses Marmorherz! – das hatte seinen Reiz und war ein würdiges Unternehmen. Seltsam genug, es gelang ihr. Die Leidenschaft wie das Interesse dieses gefährlichen und gewandten Mannes mußte seinen Hoffnungen dienen. Und jetzt hatte das Spiel, welches zwischen beiden gespielt wurde, etwas Schreckliches in seiner Unentschiedenheit. Denn wenn Dalibard nicht in die Falten der complicirten Natur seiner Schülerin eindrang, so war auch sie weit entfernt, die Hölle zu ergründen, welche schwarz und gähnend unter seinem Charakter verborgen lag. Nicht durch ihre Neigung – denn auf diese hoffte er kaum – sondern durch ihre Unerfahrenheit, ihre Eitelkeit, ihre Leidenschaften suchte er den Pfad seiner Siege über ihre Seele und ihr Schicksal. Und so entschlossen, so schlau, so rücksichtslos war dieser Mann, welcher alle die subtilsten Schlüssel und Saiten auf der Scala des stürmischen Lebens gespielt hatte, daß er trotz des hochmüthigen Lächelns, mit welchem Lucretia endlich seine Werbung hörte und zurückwies, sich nicht vor dem endlichen Ausgang fürchtete, – als plötzlich alle seine Pläne gekreuzt, alle seine Minen und Kriegslisten, auf dem Punkte der Ausführung durch ein von ihm gänzlich unbedachtes Ereigniß vereitelt wurden – durch das Auftreten eines Nebenbuhlers. Es war die glühende und fast läuternde Liebe, die sie all' den Dämonen, die er aufrief, entschlüpfend, mit dem freien Herzen und Trieb eines Mädchens, für Mainwaring gefaßt hatte. Und hier war in der That die große Krisis in Lucretia's Leben und Schicksal. So verwoben waren mit ihrer Natur die strengen Berechnungen des Verstandes, so zur Gewohnheit geworden war ihr die Sucht zum Planmachen, welche in dem Spiel und der Lebendigkeit des Komplots und der Intrigue schwelgt, und die Shakspeare vielleicht hauptsächlich in Jagos Schurkerei schildern wollte, daß es wahrscheinlich ist, daß Lucretia nie einen durchaus liebenswerthen und aufrichtigen Charakter erlangen konnte. Indeß hätte bei einer glücklichen und würdig gespendeten Liebe ihr Ehrgeiz die rechte Nahrung finden, und ihre rastlos bewegte Kraft auf dem natürlichen Gebiete des Weibes, in der Sympathie für einen andern, beschäftigt werden können. Das einmal erschlossene Herz wird durch Uebung erweicht; allmälig und unbewußt hätte der Austausch der Neigung, die Gesellschaft eines graden und offenherzigen Gemüths (denn Tugend ist nicht nur schön, sondern auch ansteckend) ihren versöhnenden und heiligenden Einfluß haben können. Glaublicher wäre es freilich gewesen, wenn ihre Wahl auf einen gebietenderen und stolzeren Charakter gefallen wäre. Aber vielleicht war es gerade das reizbare und empfindliche von Mainwarings Gemüth, dessen Schwäche durch seine Talente aufgewogen wurde, die jedenfalls groß waren, sobald sie einmal in Thätigkeit gesetzt wurden, was ihr durch den Kontrast mit ihrer eigenen geistigen Härte und ihrem despotischen Willen gefiel.

Der Umstand, daß Sir Miles für das Verhältniß der Liebenden blind gewesen, spricht weniger gegen seinen Scharfblick, als es scheinen mag; denn gerade die Unvorsichtigkeit, mit welcher Lucretia sich der Gesellschaft Mainwarings überließ, während sich dieser in Laughton aufhielt, gewährte den Anschein der Aufrichtigkeit. Sir Miles wußte, daß seine Nichte eine mehr als gewöhnliche Munterkeit besaß und wohl unterrichtet war, und daß sie, gleich ihm, in der Unterhaltung eines gebildeten jungen Mannes eine Erholung nach dem gewöhnlichen Geplauder ihrer ländlichen Nachbarn finden mußte, war natürlich genug; und durchkreuzte auch dann und wann ein Zweifel, eine Besorgniß seine Seele und berührte ihn stärker, als er es bei Vernons Bemerkungen gestehen mochte, so war sie doch immer wieder verschwunden, wenn er bemerkte, daß sich Lucretia während Mainwarings Abwesenheit nicht im mindesten nachdenklicher zeigte. Der Trübsinn und die Melancholie, welche die Liebe, besonders wenn sie nicht glücklich, gern begleiten, waren auf der Oberfläche dieser starken Natur nicht sichtbar. Allerdings verließ sich Lucretia, nachdem sie einmal versichert war, daß Mainwaring ihre Liebe erwiederte, mit ruhigem und festem Vertrauen auf die Zukunft; und ihre gewohnte Verstellung breitete sich gleich einer unbewegten Meeresfläche über alle die Strömungen, die in der Tiefe ihr Spiel treiben und einander begegnen. Aber Sir Miles Aufmerksamkeit, einmal, wenn auch nur leicht, zu dem Gedanken erweckt, daß Lucretia sich in dem Alter befände, wo das Weib natürlich an Liebe und Ehe denkt, hatte ihn jetzt lebhafter auf einen Plan zurückgeführt, den er früher nur unbestimmt gebildet hatte: nämlich auf die Vereinigung der getrennten Zweige seines Hauses durch die Vermählung des letzten männlichen Sprosses der Vernons mit der Erbin der St. Johns. Sir Miles hatte sich selbst zu verschiedenen Zeiten viel um Vernon bekümmert; er hatte seiner Taufe beigewohnt, obwohl er sich geweigert hatte, sein Pathe zu werden, weil er unziemliche Erwartungen zu erregen fürchtete; er hatte ihn zu Eton besucht und freigebig beschenkt; er hatte ihn nach seinem Quartier begleitet, als er in des Prinzen Regiment trat; er war oft mit ihm in Berührung gekommen, als Vernon, nach seines Vaters Tode aus der Armee getreten war und in den Vorderreihen der Londoner Modewelt geglänzt hatte; er hatte ihm Rath ertheilt und sogar Geld geliehen. Vernons verschwenderisches Treiben und unordentliches, wo nicht ausschweifendes Leben hatten sicherlich den alten Baronet in der Absicht bestärkt, die Ländereien von Laughton der geringeren Gefahr anzuvertrauen, von welcher Vermögen in den Händen einer weiblichen Besitzerin bedroht ist, als den kolossaleren und mannichfachen Bedürfnissen eines verschwenderischen Mannes, und um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, muß bemerkt werden, daß er, während Vernons Lebensweise den Höhepunkt der Unordnung erreichte, vor dem Gedanken zurückgebebt war, das Glück seiner Nichte einem so unsteten Gefährten anzuvertrauen. In der letzten Zeit waren jedoch, sey es in Folge seiner untergrabenen Gesundheit oder seines zerrütteten Vermögens, Vernons Thorheiten minder auffällig gewesen. Er hatte nun das reife Alter von dreiunddreißig Jahren erreicht, und der Jugendübermuth konnte ausgetobt haben. Der gesetzte und feste Charakter Lucretia's konnte dazu dienen, ihn zu führen und zu leiten; Sir Miles gehörte auch zu denen, welche der Meinung sind, ein gebesserter Wüstling mache den besten Ehemann. Zugegeben, daß seine Vergnügungssucht erschlafft war, so kannte man in Vernons Ruf übrigens nichts, was ernste Besorgnisse hätte erregen können. – Unter allen seinen Bedrängnissen hatte er seine Ehre unbefleckt bewahrt, tausend Züge von Freundlichkeit und Herzensgüte machten ihn populär und beliebt. Er war Niemands Feind als sein eigener. Seine Bedrängnisse selbst – die Aussicht auf seinen Ruin, wenn er durch Sir Miles testamentarische Verfügungen nicht unterstützt ward – waren Argumente zu seinen Gunsten. Und am Ende war Vernon, obwohl Lucretia eine nähere Verwandte war, in Wahrheit der direkte männliche Erbe, und den gewöhnlichen Familienvorurtheilen nach eben deswegen auch der passendere Vertreter der alten Linie. Mit solchen Gesinnungen und Absichten hatte er Vernon in sein Haus eingeladen, und wir haben bereits gesehen, daß durch seinen Besuch die günstigen Eindrücke verstärkt worden waren.

Wir müssen hier auch bemerken, daß Vernon als Knabe und Jüngling darauf hingewiesen worden war, sich als präsumtiven Erben von Laughton zu betrachten. Seit undenklichen Zeiten war es Gebrauch der St. Johns gewesen, die Ansprüche der weiblichen Familienglieder bei den Erbschaftsangelegenheiten zu übergehen: das Besitzthum hatte sich von Mann auf Mann vererbt, während es der Armee Krieger und dem Staate Senatoren lieferte. Und wenn auch, als Lucretia in Sir Miles Haus kam, die schöne Aussicht etwas verdunkelt schien, so schienen doch die Mesalliance der Mutter und Sir Miles hartnäckiger Unwille darüber die Annahme zu verbürgen, daß er der Waise wahrscheinlich nur den gewöhnlichen Antheil einer Tochter des Hauses hinterlassen möchte, während die Güter in gewöhnlicher Weise vererbt In der Vorlage: »vererben«. würden. Der Glaube, den man als etwas ganz Natürliches angenommen hatte, war von nachtheiligem Einfluß auf Vernons Laufbahn gewesen. Was schadete es, wenn er die Jugendfreuden übertrieb, wenn er das geringere Besitzthum der Vernons, das armselige 4 bis 5000 Pfund im Jahr eintrug, ein Bischen zu schnell verschleuderte – das herrliche Laughton mußte ja Alles wieder ins Gleiche bringen. Aus diesem Traume war er erst seit zwei oder drei Jahren durch ein Verhältniß geweckt worden, welches er mit der erbschaftlosen Tochter eines Earl angeknüpft hatte; da Grange viel zu verschuldet war, um ihm die gehörigen Mittel zu gewähren, auf welche die Familie der Dame Anspruch machte, so ward es Sache von Wichtigkeit, sich über Sir Miles Absichten Gewißheit zu verschaffen. Da er es nicht über sich gewinnen konnte, diese Absichten selbst zu sondiren, so vermochte er den Earl dazu, welcher sehr gut bekannt mit Sir Miles war, seinen Weg nach seinem eigenen Landsitz in Dorsetshire über Laughton zu nehmen und, ohne die Gründe seines Interesses an der Sache zu verrathen, so wenig auffällig als möglich die Absichten des reichen Mannes zu erforschen. Der Erfolg war eine schwere und schreckliche Enttäuschung gewesen. Sir Miles hatte sich vollkommen entschieden gehabt, Lucretia zu seiner Erbin einzusetzen und er hatte dies mit seiner gewöhnlichen Offenheit des Charakters gleich auf die erste versteckte Anspielung des Earl schlicht herausgesagt. Diese Entdeckung hatte, während sie alle Hoffnung auf eine Verbindung mit Lady Mary Stanville zerschlug, mehr als blos habsüchtige Erwartungen vernichtet. Zugleich mit seinem Herzen griff sie seine Gesundheit und seinen Geist an; tief prägte sie sich ein und erregte anfangs das Gefühl einer tödtlichen Beleidigung. Aber Vernons angeborner Edelsinn milderte allmälig einen Unwillen, der, wie seine Vernunft ihm sagte, grundlos und ungerecht war. Sir Miles hatten nie die Erwartungen ermuthigt, welche Vernons Familie und dieser selbst unwillkürlich gehegt hatten. Der Baronet war Herr seines eigenen Vermögens, und war es am Ende nicht natürlicher, daß er das Kind, welches er erzogen hatte, einem fernen Verwandten vorzog, der nicht viel mehr als ein Bekannter war, und nur Anspruch hatte, weil in dem alten Geschlechtsverzeichniß der St. Johns Mann auf Mann geerbt hatte? 5Und da Mary für ihn verloren war, hatte ihn seine Gleichgültigkeit gegen das Geld, sein fast französischer Leichtsinn des Gemüths, der Glaube, daß sein Leben dem Ende nahe sey, ohne Kummer und ohne Unwillen über seines Verwandten Entscheidung gelassen. Seine kindliche Zuneigung für den herzigen großmüthigen alten Herrn kehrte zurück, und obwohl er das Landleben verabscheute, hatte er doch, ohne irgend einen eigennützigen Gedanken und ohne Berechnung des Baronets gastfreundliche Aufforderung ebenso herzlich angenommen und »den süßen Schatten In der Vorlage: »Schaden«. Es handelt sich bei »the sweet shady side of Pall-Mall« um ein Zitat aus dem Gedicht »The Contrast« von Captain Morris (1740-1832). von Pall Mall« verlassen, um nach den Wildnissen von Hampshire zu gehen.

Treten wir nun in das Gesellschaftszimmer zu Laughton, wo bereits mehrere der in der unmittelbaren Nähe wohnhaften Familien versammelt waren, die sich gesellig um den nationalen Theetisch reihten, sich beim Whist vereinigten oder auch einen fröhlichen Tanz mit Hülfe einiger Kinder und einiger Großpapa's zu Stande brachten. Denn in jener glücklichen Zeit waren die Leute viel geselliger, als sie es jetzt in den Häusern unserer ländlichen Thans Im englischen Original: »Thanes«, was soviel wie »Lehnsleute, Kronvasallen« bedeutet. Ein deutsches Wort »Than« existiert nur als Eindeutschung innerhalb der Übersetzung von Shakepeares »Macbeth«. sind. Selbst viele der bedeutendsten Familien wohnten das ganze Jahr hindurch auf ihren Gütern; der Kontinent war uns verschlossen. Das stolze Ausschließen, welches von dem langen Aufenthalt in Städten herrührt, hatte noch nicht jene Abgrenzung in Benehmen und Sprache zwischen Nachbar und Nachbar erzeugt, welche jetzt existirt. Unsere Squires waren weniger unterrichtet, weniger verfeinert, aber gastfreundlicher und weniger anspruchsvoll. Mit einem Wort, es war vorhanden, was jetzt nicht existirt, außer in einigen von London entfernten Distrikten – eine ländliche Gesellschaft.

Bevor wir die Gesellschaft, die im Zimmer gruppirt war, betrachten, müssen wir auf letzteres selbst einen Blick werfen, welches meist der erste Gegenstand ist, der die Aufmerksamkeit des Fremden auf sich lenkt. Es war ein langes und nicht sehr wohlproportionirtes Gemach, wenigstens nicht nach den modernen Begriffen, denn es hatte fast das Ansehen von zwei in ein einziges vereinigten Zimmern. Aus der ersten Abtheilung gelangte man unter einem von Säulen getragenen Bogen nach einem Raum, der fast doppelt so groß war, wie der erste; und der ein Fenster von solcher Tiefe hatte, daß die Vertiefung fast für sich selbst ein Gemach bildete. Aber diese beiden Abtheilungen des Zimmers entsprachen einander genau hinsichtlich der Dekoration; sie hatten die nämlichen kleinen Wandfelder, mit einem so blassen Grün gemalt, daß es bei Kerzenlicht fast weiß erschien, und jedes Feld mit einer Arabeske geschmückt; sie hatten denselben reichverzierten Sims und Fries, dieselben hohen Kaminstücke, die, bis zur Decke emporsteigend, das Wappen St. Johns in hocherhabener Arbeit zeigten. Auch hatten sie dasselbe altmodische und ehrwürdige Geräth, Sammtdraperien, nebst ungeheuren Stühlen und entsprechenden Sopha's, untermischt allerdings mit modernern und bequemern Gegenständen der Tapezierkunst, theils mit schwerem Leder- oder anmuthigem Zitzüberzug. Zwei Fenster, die fast so tief waren wie das in der zweiten Abtheilung, unterbrachen die Wandfläche des ersten und trugen dazu bei, dem Gemach das winklige und unregelmäßige Ansehen zu geben, wodurch es trotz des Umfangs zugleich wohnlich wurde, und ebenso gewährten diese Fenster Gelegenheit zu einsamer Betrachtung und unbeachtetem Geplauder. Man hatte die Wände, ohne das Schnitzwerk der Felder sehr zu berücksichtigen, mit Gemälden bedeckt, die Sir Miles aus Italien gebracht hatte; hier und da aufgestellte Büsten und Statuen gaben dem Charakter des Zimmers Leichtigkeit und harmonirten gut mit den halbitalienischen Decorationen, die dem Zeitalter Jakobs des Ersten angehörten. Die Gestalt des Zimmers eignete sich in seinen beiden Abtheilungen vortrefflich für die gemüthlichen und geselligen Vergnügungen, welche ebenso dem Geschmacke des Alters wie der Jugend zusagen. In der ersten Abtheilung saß, in der Nähe des Kamins, Sir Miles in seinem Lehnstuhl, gegen die offene Thür durch einen siebenfältigen Tapetenschirm geschützt, und spielte mit seinem Bibliothekar Schach. Nicht weit von ihm saß ein Herr von mittlerem Alter und drei Matronen beim Whist. Auf Tischen, die in die Fenstervertiefungen gestellt waren, lagen Zeitungen, Gilray's Karrikaturen James Gillray (1757-1815), erfolgreicher britischer Karikaturist und Radierer. Ab 1797 arbeitete Gillray im Auftrag der Regierung unter Edmund Burke und William Pitt, die ihn bezahlte. und ähnliche Dinge. Und um diese Tische gruppirten sich Diejenigen, die noch keine sonstige Unterhaltung für den Abend gefunden hatten; zwei bis drei schüchterne junge Geistliche, der Doktor des Kirchspiels, vier bis fünf Squires, die sich hauptsächlich für Politik interessirten, aber nie an die Verschwendung dachten, eine Zeitung zu halten, und die nun, alle Journale, die sie finden konnten, in Beschlag nehmend, sich mit dem heldenmüthigen Entschluß darüber her machten, nichts zu überspringen, von der ersten Bekanntmachung bis zur Firma der Druckerei. Zu einer von diesen Gruppen hatte sich Mainwaring schüchtern gesellt. In der zweiten Abtheilung warf der Kronleuchter, der von der gewölbten Decke hing, sein freundliches Licht auf einen großen runden Tisch darunter, auf welchem die gewichtige silberne Theemaschine nebst allem Zubehör stand. Auch fehlten da nicht, neben jenen fabelhaft dünn aus Franzbrod geschnittenen lustigen Scheibchen, die substanziellern Kuchen – Rosinen- und Mandel-, Yorkshire- und Safrankuchen – die ebenso die Freigebigkeit des Hauses als die kräftige Verdauung der Gäste bekundeten. Um diesen Tisch saßen in vollem Geplauder die Mädchen und Frauen, nebst etlichen der kühnern jungen Herren, die man gelehrt hatte, die Schönen zu unterhalten. Die warme Luft des Abends gestattete, die obern Fensterflügel offen und die Gardinen bei Seite gezogen zu lassen, und der Julimondenglanz kämpfte nur schwach gegen den Kerzenschimmer im Innern. An jenem Tische hätte eigentlich Miß Clavering den Vorsitz führen müssen; allein dies war eine Gefälligkeit, zu welcher sie sich selten herabließ. Indeß hatte sie ihre besondere Weise, um die Honneurs in ihres Oheims Hause zu machen, und sie verfuhr dabei artig und anmuthig genug. Von Einem zum Andern zu schweben, einige freundliche Worte zu wechseln, zu sehen, ob jede Gruppe ihre bekannte Unterhaltung hatte und endlich sich ruhig niederzusetzen und mit Jemand zu sprechen, der, sey es wegen ernster Stimmung oder Alter, die übrigen zu vernachläßigen oder von ihnen vernachläßigt zu seyn schien, das war ihre gewöhnliche und nicht unbeliebte Weise, die Gäste zu Laughton zu bewillkommnen; – nicht unbeliebt war dieselbe, denn sie vermied dadurch alle Einmischung in die Liebschaften und Eroberungen minder bedeutender Mädchen, die sie durch ihren Rang und ihre Eigenschaften sonst hätte überflügeln oder demüthigen können, während sie sich nun zugleich die Alten gewann, gegen welche die Jungen selten so aufmerksam sind. Aber wenn ein Fremder von mehr als nur in der Provinz ausgebreitetem Rufe gegenwärtig war, wenn ein Parlamentsglied, oder ein reisender Künstler einen der Nachbarn begleitete, so widmete Lucretia diesem eine ernstere und ungetheiltere Aufmerksamkeit. Sie bemühte sich, ihn in eine tiefere Unterhaltung als das gewöhnliche Geplauder zu ziehen, und schien, während sie seinen Worten aufmerksam zuhörte, mit ihrem stillen, forschenden Auge den Geist zu ergründen, den sie beschäftigte. An diesem Abende hatte sie sich jedoch noch nicht gezeigt – eine bei ihr ungewöhnliche Sünde gegen die Etikette. Vielleicht hatte das letzte Gespräch mit Dalibard ihre Gedanken so eingenommen, daß sie alles minder Wichtige, was ihre Aufmerksamkeit noch beanspruchte, vergaß. Ihre Abwesenheit hatte der Fröhlichkeit am Theetisch, die munter bis zum Lärm ward, keinen Eintrag gethan; diese concentrirte sich um das lachende Gesicht Ardworths, der zwar den meisten oder allen anwesenden Damen unbekannt war, außer daß er einigen der zuerst Gekommenen flüchtig von Sir Miles, während dieser vom Schach aufgestanden war, um die Gäste zu bewillkommnen, vorgestellt worden, dir sich aber doch bereits völlig heimisch und äußerst beliebt gemacht hatte. Zwischen zwei muntere Mädchen gesetzt, hatte er die Bekanntschaft mit diesen durch einige drollige Scherze angeknüpft, welche seinen Kreis bald erweiterten, bis nun die ganze Gruppe von der fröhlichen und übermüthigen Laune angesteckt war. Gabriel, welcher länger als gewöhnlich dableiben durfte, hatte sich nicht, wie man erwarten mußte, an diesen Kreis angeschlossen, wie überhaupt an gar keinen; man sah ihn ruhig sich hin und wieder bewegen, bald mit neugierigem Blick die Gemälde an der Wand betrachtend, bald am Whisttisch stehen bleibend, und das Spiel mit dem Interesse eines Spieler-Embryo's verfolgend; – oder er warf sich auf eine Ottomane und suchte Dasch oder Ponto an sich zu locken, was umsonst war, da ihn beide Hunde scheueten. Hätte sich jedoch Jemand, unter der allgemeinen Bewegung hier, die Mühe genommen, ihn genau zu beobachten, so dürfte es hinreichend deutlich gewesen seyn, daß dies scharfe, helle, rastlose Auge unter seinen langen schlauen Lidern hervor, hauptsächlich auf den drei Personen ruhte, denen er sich am wenigsten näherte: auf seinem Vater, auf Mainwaring und auf Vernon. Dieser letztere hatte sich entfernt von Allen in den Winkel versteckt, den eine der Säulen des Bogens bildete, welcher das Zimmer theilte, so daß er beide Abtheilungen zugleich im Auge hatte. In einem der großen Sammtstühle mit jener gleichgiltigen Grazie, die von jeder Stellung und Bewegung seiner Person unzertrennlich schien, zurückgelehnt, mit einem Buch in der Hand, welches er, um die Wahrheit zu gestehen, verkehrt hielt, aber in dessen Lectüre er sehr vertieft schien, hörte er auf der einen Seite das fröhliche Gelächter, welches den jungen Ardworth umgab, oder erhaschte dann und wann halblaute Aeußerungen der ernsten Whistspieler – »hätten Sie nur dies Carreau gestochen, Madame.« »O, wie Schade, es war die beste Karte,« oder dergleichen; – allein Beide, das Lachen so wie diese Ausrufungen machten denselben Eindruck auf ihn, und erregten, was man »den Spleen«« nannte; denn das erste gemahnte ihn an die Tage seiner eigenen heitern, sorglosen Jugend, deren Schatten seine gegenwärtige gemachte Heiterkeit nur war, und die andern schienen eine Satire, eine Parodie auf das wilde aber geräuschlose Entzücken des Spiels, welchem seine Leidenschaft gefröhnt hatte, wenn Tausende mit einem heitern Lächeln verloren gingen und keine jener natürlichen Aufwallungen hervorriefen, welche hier den Verlust eines Schillings begleiteten. Ueberdies war Vernon so gewohnt gewesen, im Beiseyn von Genies und Prinzen im Gesellschaftszimmer etwas zu gelten, daß er zum ersten Male in diesem Provinzialkreise ein Gefühl der Unbedeutendheit empfand. Diese fetten Squires hatten nichts von Mr. Vernon gehört, außer daß er Laughton nicht erhalten würde – er besaß keine Ländereien, keine Stimme in ihrer Grafschaft, folglich hatte er für sie gar keine Bedeutung. Diese rothwangigen Mädchen betrachteten ihn, wenn auch die eine oder andere einen bewundernden Blick auf eine so ungewöhnlich elegante Erscheinung werfen mochte, doch nicht mit dem weiblichen Interesse, welches er einzuflößen gewohnt war. Sie fühlten instinktmäßig, daß er ihnen und sie ihm nichts seyn konnten – nur ein Londoner Modeherr und nicht halb so hübsch, als die Squires Bluff und Chuff.

Indem er sich über diese Verletzung seiner Eitelkeit mit einem selbstbewußten Lächeln über seine eigene Schwachheit erhob, wandte Vernon seine Blicke nach der Thür, Lucretia's Eintreten erwartend. Seit ihres Oheims Antrag empfand er jenes neue und unbeschreibliche Interesse an ihrer Erscheinung, welches jedes Herz einzunehmen pflegt, so bald die Person, die erst nur eine gleichgültige Bekanntschaft war, plötzlich in dem Lichte einer künftigen Gattin erscheint. Endlich öffnete sich die Thür und Lucretia trat ein. Mr. Vernon senkte sein Buch und blickte mit einem Eifer auf, an welchem sowohl Besorgniß als Bewunderung Antheil hatten.

Lucretia Clavering war groß – größer als man es bei Frauen gewohnt ist; aber es war in ihrer Länge weder etwas Unbeholfenes noch Männliches: kein Bildhauer hatte jemals eine vollkommnere Gestalt zum Modell gehabt. Die Tracht jener Zeit, die wir für unkleidsam erachten, stand ihr, wenigstens im Allgemeinen, nicht unvortheilhaft. Die kurze Taille machte die Länge ihrer Glieder nur majestätischer, während die klassische Sparsamkeit des Gewandes die genaue Proportion und die vortreffliche Contour verrieth. Die Arme trug man damals fast bis zur Schulter nackt und Lucretia's Arme waren ebenso fehlerfrei gestaltet als blendend in ihrer schneeigen Weiße; der stolze Hals, die schöngeformten Schultern, die feste, nicht starke aber gerundete Büste, alles mußte den Künstler nicht minder als den Lüsternen bezaubern. Zum Glück war der einzige Fehler an ihrer Gestalt von weitem nicht sichtbar: dieser Fehler lag in der Hand: sie hatte nicht die gewöhnlichen Fehler weiblicher Jugend, Ueberfluß an Fleisch und allzu rosige Gesundheit der Farbe, im Gegentheil, sie war klein und hager, aber trotzdem war es mehr die Hand eines Mannes, als eines Weibes: die Form hatte die kräftige Bestimmtheit wie beim Mann, die Adern schwollen gleich Sehnen, die Gelenke der Finger waren merklich sichtbar und vorstehend. Es schien fast, als verriethe sich in dieser Hand die eiserne Kraft ihres Charakters. Doch konnte, wie gesagt, dieser geringe Fehler, den überhaupt wenige, wenn sie ihn sahen, allzu kritisch tadeln mochten, natürlich nicht bemerkt werden, während sie sich langsam im Zimmer hinbewegte; und Vernons Auge blieb, über die ganze edle Gestalt gleitend, auf dem Gesicht ruhen. War es schön? – war es abstoßend? Seltsam, daß es in seinen Zügen die Ansprüche auf den höchsten Grad der Schönheit hatte, und daß gleichwohl dieser erfahrene Kenner weiblicher Reize in Verlegenheit war, welches Urtheil er fällen sollte. Das Haar bedeckte nach der Mode des Tages in reichen Locken die Stirn, konnte jedoch eine kleine Linie oder Runzel zwischen den Augenbrauen nicht verbergen; und diese Linie, die man bei Frauen jeden Alters selten findet, die selbst bei Männern von Lucretia's Alter selten ist, gab dem ganzen Gesicht einen zugleich denkenden und strengen Ausdruck. Die Augenbrauen selbst waren gerade und nicht scharf markirt, vielleicht ein klein wenig zu hell, ein Fehler, der noch mehr in den Wimpern sichtbar ward: die Augen waren groß, voll und, obwohl glänzend, doch äußerst ruhig, zum wenigsten in gewöhnlicher Stimmung; bei alldem entbehrten sie jedoch den Zauber jenes steten und offenen Blickes, der sogleich zum Herzen dringt und Vertrauen erweckt; ihr Ausdruck war eher unstet und zerstreut. Sie sah gewöhnlich seitwärts, während sie sprach und wenn dies bei Manchen nur Schüchternheit verräth, so mußte es doch bei einem so charakterstarken Wesen einen Anschein von Falschheit haben. Wenn sie aber bisweilen mehr diejenigen, mit denen sie sprach, zu erforschen, als sich selbst gegen Ausforschung zu decken bemüht war, so heftete sie diese Augen mit raschem und direktem Forschen auf den Gegner und dieser Blick machte einen gewaltigen Eindruck und übte eine seltsame Zauberkraft. Das Auge selbst war von einer eigenthümlichen und unangenehmen Farbe – nicht grau noch blau, noch schwarz, noch braun, sondern vielmehr von jenem katzenartigen Grün, welches schläfrig im Licht und lebhaft im Dunkeln ist. Das Profil war rein griechisch, und sah man sie so, dann schien Lucretiens Schönheit unbestreitbar. Aber beim Anblick en face, und noch mehr, wenn zwischen beiden mitten inne betrachtet, nahmen all' diese Züge eine Schärfe an, die bei aller Regelmäßigkeit etwas Erstarrendes und Strenges hatten. Der Mund war klein, aber die Lippen dünn und blaß, und es lag darin ein gewisser gewaltsamer und krampfhafter Ausdruck, welcher das Mißtrauen noch steigerte, welches ihr Seitwärtsblicken schon einflößte. Die Zähne waren blendend weiß, aber spitz und dünn, und die Augenzähne Eckzähne. waren viel länger als die andern. Die Gesichtsfarbe war blaß, doch ohne Zartheit; die Blässe schien ihr nicht natürlich, sondern vielmehr die Farbe zu seyn, welche Studiren und Nachtwachen den Männern verursachen; so entbehrte sie der Frische und Blüthe der Jugend, und sah älter aus, als sie war; diese Wirkung steigerte sich noch durch die Abwesenheit der Fülle in den Wangen, welche man im Profil nicht bemerkte, welche aber im übrigen dem Gesicht einen ziemlich scharfen und harten Ausdruck gab. Mit einem Wort, Gesicht und Gestalt harmonirten nicht mit einander; die Gestalt verhütete wohl, sie für ein männliches Wesen zu erklären – aber das Gefühl nahm der Gestalt den Reiz der Weiblichkeit. Es war der Kopf des jungen Augustus auf Agrippina's Körper. Noch einen Zug, und wir werden eine Schilderung schließen, die der Leser vielleicht für kleinlich genau halten wird. Hätte man vor den Mund und die untere Partie des Gesichts eine Maske oder Binde gelegt, so würde sich sofort der Charakter der obern Partie gänzlich verändert haben; das Auge verlor alsdann seinen falschen Schimmer, die Stirn die krampfhafte Strenge; sofort würde man das Gesicht nicht allein für schön, sondern auch für sanft und weiblich erklärt haben. Nahm man diese Binde plötzlich hinweg, so würde die Veränderung in Staunen gesetzt haben und zwar um mehr, weil man in dem untern Theile des Gesichts keinen hinreichenden Fehler und kein Mißverhältniß hätte entdecken können, um die Veränderung zu erklären. Es war, als wäre der Mund der Schlüssel zum Ganzen: der Schlüssel nichts ohne den Text, der Text unbegreiflich ohne den Schlüssel.

Dies war Lucretia Claverings äußere Erscheinung im Alter von zwanzig Jahren: – auffällig für das gleichgültigste Auge– interessant und verwirrend für denjenigen, welcher jene dunkle, nie entzifferte Sprache, das menschliche Gesicht, zu seinem Studium machte. Der Leser muß bemerkt haben, daß die Wirkung, die jedes Gesicht, welches er zum ersten Male betrachtet, hervorbringt, verschieden von dem Eindrucke ist, den es nach öfterm Ansehen auf ihn macht. Vielleicht sind zwei Personen nicht so sehr verschieden von einander, als dasselbe Gesicht, wie es unserer frühesten Erinnerung vorschwebt, von dem nämlichen Gesicht, während wir es nach längerem, vertrautem Umgange betrachten. Dies war besonders der Fall bei Lucretia Clavering. Der erste Eindruck war fast auf Alle, die sie betrachteten, Mißtrauen mit Furcht gemischt; sie flößte beinah' eine Ahnung von Gefahr ein. Das Urtheil war dagegen; das Herz war auf seiner Hut. Aber dies unangenehme Gefühl wich bei den meisten Beobachtern bald der Bewunderung der plastischen Umrisse, die, gleich dem griechischen Bildwerk, um so mehr gewannen, je länger man sie prüfte; es wich vor der geistigen Kraft des Ausdrucks und vor dem zauberischen Wohlgefallen, das ein Lächeln erregte, welches, je seltener es sichtbar ward, nur um so reizender war, theils aus eben diesem Grunde, theils aber auch weil es plötzlich Glanz und gewinnenden Ausdruck einem Gesicht, welches deren so sehr bedurfte, mittheilte. Es glich dies ganz dem plötzlichen Hervorbrechen eines Sonnenstrahls, und wenn der zurückstoßende Eindruck des Gesichts auf diese Weise schwand, so trug dazu natürlich auch die unvergleichliche Gestalt mit bei. Während daher derjenige, der Lucretia nur einen Augenblick sah, sie fast für unbedeutend und gewiß für arm an äußern Vorzügen erklären konnte, vereinigten sich Alle, mit denen sie umging, die sie täglich sahen, und diejenigen, denen sie zu gefallen suchte, in der Anerkennung ihrer Schönheit. Und wofern sie auch noch Scheu empfanden, so schrieben sie dies Gefühl doch nur ihrer überlegenen geistigen Kraft zu.

Während sie jetzt die Mitte des Zimmers erreichte, sprang Gabriel von seinem Sitze und eilte freudig zu ihr hin. Sie beugte sich nieder und legte ihre Hand auf sein schönes Haar. Dabei flüsterte er: –

»Mr. Vernon hat auf Sie gewartet.«

»Still! Wo ist Dein Vater?«

»Hinter dem Schirm, beim Schach mit Sir Miles.«

»Mit Sir Miles!« Und Lucretia's Auge heftete sich mit dem direkten unverwandten Blick, dessen wir erwähnten, auf das Gesicht des Knaben.

»Ich habe oft genug nach ihnen gesehen,« sagte er bedeutungsvoll; »sie haben von nichts als vom Spiel gesprochen.«

Lucretia richtete ihr Haupt empor und sah mit ihrem verstohlenen Blicke rings umher, der Knabe errieth dies Forschen und mit kaum merklicher Geberde lenkte er ihre Aufmerksamkeit auf Mainwaring's abgeschiedenen Platz. Ihr belebendes Lächeln glitt über ihre Lippen, während sie sich leicht gegen ihren Geliebten verneigte; dann zog sie die Hand zurück, welche Gabriel in der seinen gehalten hatte, ging weiter, sagte im Vorübergehen Vernon einige unbedeutende Worte und stand bald grüßend und begrüßt unter der scherzenden Gesellschaft im andern Theile des Zimmers. Einige Minuten nachher traten die Diener ein, der Theetisch wurde entfernt, die Stühle zurückgeschoben – eine unverheirathete Dame von gewissem Alter bot freiwillig ihre Dienste am Piano an und der Tanz begann in dem weiten Raume, welcher durch den Bogen von den Whistspielern geschieden wurde. Vernon hatte seine Gelegenheit erwartet und beim ersten Tone des Piano stand er an Lucretia's Seite und nahm mit ernster Höflichkeit ihre Hand zur Eröffnung des Tanzes in Anspruch.

Damals, obwohl es noch nicht so lange her ist, schämten sich die Herren nicht zu tanzen, und zwar gut zu tanzen; es war kein träges Schlendern durch eine Quadrille, es war ein schönes, überlegtes und geschicktes Tanzen auf Seiten der Höflichen, und freie muntere Bewegung unter den Fröhlichen.

Vernon war, wie sich erwarten ließ, der bewundertste Tänzer des Abends; allein er dachte sehr wenig an die Aufmerksamkeit, die er endlich erregte; er bot all' die Geschicklichkeit auf, welche seine Lebenserfahrung darbot, zur Ausgleichung der Mängel einer sehr unvollkommenen Erziehung, die sich auf das beschränkte, was ihm in Eton eingebläut worden, um den Charakter seiner schönen Tänzerin zu entziffern und ihr Herz zu prüfen.

»Mich wundert, daß Sie Sir Miles nicht dazu vermögen, Sie nach London zu führen, Cousine, wenn Sie mir gestatten, Sie so zu nennen. Sie hätten schon vorgestellt seyn sollen.«

»Ich habe noch kein Verlangen, nach London zu gehen.«

»Noch!« sagte Mr. Vernon, mit jener etwas faden Galanterie seiner Zeit; »selbst Schönheit gleich der Ihrigen hat wenig Zeit zu verlieren.«

«Händekreuzweis, Händekreuzweis!« rief Mr. Ardworth.

»Und,« fuhr Mr. Vernon fort, sobald es ihm eine Pause gestattete, »es gibt ein Lied, welches der Prinz singt und welches ein verständiger altmodischer Kumpan geschrieben hat, darin heißt es:

Pflücke Rosen, wenn wenn sie blühn,
Flüchtig ist die Zeit.«

»Sie haben, glaub' ich, die Moral des Liedes selber befolgt, Mr. Vernon.«

»Nennen Sie mich Cousin, oder Charles – Charley, wenn Sie wollen – wie es die meisten meiner Freunde thun; kein Mensch nennt mich Mr. Vernon; ich kenne mich selbst unter diesem Namen nicht.«

»Die Mitte hinab, wir warten alle auf Sie,« schrie Ardworth.

Und die Mitte hinab gleiteten mit wunderbarer Grazie die vortrefflichen Rankins Charley Vernons.

Der Tanz wurde nun, Dank Ardworth, zu lebendig und stürmisch, als daß noch mehr als einsilbige Worte möglich gewesen wären, bis Vernon und seine Gefährten endlich zur Ruhe kamen und der erstere, während er seiner Tänzerin Fächer in Bewegung setzte, wieder anhob:

»Im Ernst, Cousine, Sie müssen sich bisweilen sehr gelangweilt fühlen.«

»Nie!« antwortete Lucretia. Noch nicht ein einzig Mal hatte ihr Auge auf Vernon geruht. Sie fühlte, daß man sie ausforschen wollte.

»Gleichwohl bin ich überzeugt, daß Sie Geschmack an Pracht und Festlichkeiten finden. Aha! es wohnt Ehrgeiz unter diesen harmlosen Locken,« sagte Mr. Vernon mit seiner ungenirten, liebenswürdigen Zudringlichkeit.

Lucretia wandte sich ab.

»Aber wenn ich ehrgeizig wäre, welches Feld für den Ehrgeiz könnt' ich in London finden?«

»Dasselbe wie Alexander – ein Reich, Cousine.«

»Sie vergessen, daß ich kein Mann bin. Der Mann kann allerdings Hoffnung auf ein Reich haben. Es ist etwas werth, ein Pitt zu seyn, oder selbst ein Warren Hastings Warren Hastings (1732-1818), Generalgouverneur in Britisch-Ostindien

Mr. Vernon staunte. War das Dummheit oder was sonst?

»Ein Weib hat eine unbestrittenere Herrschaft, als die Mr. Pitts, und eine unbarmherzigere, als die des Gouverneur Hastings.«

»O, verzeihen Sie, Mr Vernon –«

»Charles, wenn's gefällig ist.«

Lucretia's Stirn verdunkelte sich.

»Verzeihen Sie,« wiederholte sie; »aber diese Komplimente, wofern es welche seyn sollen, haben auf schlechten Dank zu zählen. Eines Weibes Herrschaft über Spitzen und Bänder, über Theetische und Spielpartien, über Stutzer und Koketten, ist keine Reise von Laughton nach London werth.«

»Sie glauben Bewunderung verachten zu können?«

»Was Sie unter Bewunderung verstehen – ja.«

»Und Liebe auch?« sagte Vernon leise.

Jetzt erhob Lucretia auf einmal rasch ihre Augen gegen ihren Gesellschafter. Zielte er auf ihr Geheimniß? – Deutete er auf seine eigenen Absichten? Der Blick machte Vernon starr und er wandte sein Haupt ab.

Darauf änderte Lucretia plötzlich, im Verfolg eines neuen Ideengangs, ihr Benehmen gegen ihn. Sie hatte entdeckt, was ihr vorher entgangen war. Diese plötzliche Vertraulichkeit von seiner Seite erwuchs aus Gedanken, welche der Oheim ihm eingegeben; der Gast war angereizt worden, ein Bewerber zu werden. Ihre Fähigkeit, einen Charakter zu durchschauen, die von Kindheit an ihr leidenschaftliches Studium gewesen, sagte ihr, daß auf diesen leichten, abgeschliffenen, furchtlosen Charakter die Verachtung eine geringe Wirkung haben würde; um dieser Vertraulichkeit zu begegnen, würde das beste Mittel seyn, daß man einen Freund gewänne, um einen Bewerber zu entwaffnen. Sie veränderte daher ihr Betragen; sie bot außerordentliche Schlauheit auf; sie nahm die Vertraulichkeit an, mit der man ihr entgegenkam, nicht um sich selbst bloß zu stellen, sondern um ihren Gegner auszuforschen. Es wurde nothwendig für sie, diesen Mann zu kennen und im Verhältnisse dieser Kenntniß auch Gewalt über ihn zu haben. Unmerklich und allmälig lenkte sie ihren Gefährten von dem Plan ab, ihre eigenen Geheimnisse und ihr Wesen zu ergründen, indem sie offen über ihn selbst sprach. Ganz unwillkürlich begann er seiner Zuhörerin die Schwächen seines unsteten, offenen Herzens deutlich vor Augen zu legen. Schweigend blickte sie vor sich nieder und erkannte Alles: die Frivolität, die Sorglosigkeit, das halb heitere, halb traurige Gefühl nahen Untergangs und Verderbens. Sie erblickte da, mitten unter den Trümmern blühend, die schönsten Blüthen edler Männlichkeit, die sich noch immer reichlich und duftend entfalteten– Edelsinn und Muth, und Selbstverleugnung. Auf der einen Seite Verschwender und Spieler – auf der andern Gentleman und Krieger. Mit diesem verstümmelten und unvollkommenen Charakter verglich sie ihre eigene gebildete und tiefe Geisteskraft, und während sie zuhörte, wurde ihr Lächeln milder und häufiger. Sie konnte es über sich gewinnen, huldvoll zu seyn; fühlte sie doch Ueberlegenheit, Verachtung und Sicherheit.

Während sich diese scheinbare Vertraulichkeit entwickelte, hatten Vernon und seine Gefährtin den Tanz verlassen, und besprachen sich zur Seite in der Vertiefung eines der Fenster, welches die Zeitungsleser verlassen hatten, nämlich in der Abtheilung des Zimmers, in welcher Sir Miles und Dalibard noch saßen und im Begriff waren, ihre dritte Schachpartie zu beginnen. Des Baronets Hand hielt inne in der Anordnung seiner Figuren: sein Auge ruhte auf dem jungen Paar und dann, nach einem langen und zufriedenen Blicke, blickte er um sich. ohne zu finden, was er suchte.

»Ich möchte Ihre Gefälligkeit in Anspruch nehmen, Monsieur Dalibard,« sagte der Baronet mit jener Artigkeit, welche Ardworth sehr mißfiel, »wollten Sie nicht die Güte haben, den Schirm da ein wenig bei Seite zu schieben? Ich möchte unsere jungen Leute besser im Auge haben. Ich danke Ihnen recht sehr.«

Sir Miles entdeckte nun Mainwaring und bemerkte, daß derselbe, weit entfernt mit selbstverrätherischer Eifersucht das vertrauliche Gespräch mit Lucretia und ihrem Verwandten zu betrachten, vielmehr in lebhafter Unterhaltung mit dem Präsidenten der Quartalgerichte begriffen, war. Sir Miles war zufrieden gestellt und ordnete seine Figuren. Während dieser ganzen Zeit und überhaupt seit sie sich zum Spiele gesetzt hatten, hatte der Provençale mit der seinem Charakter eigenen Geduld auf eine Bemerkung von Sir Miles über den Gegenstand gewartet, der, wie sein Scharfsinn bemerkte, des Baronets Gedanken beschäftigte. Der alte Herr hatte eine rastlose Unruhe bewiesen, welche zeigte, daß etwas in ihm vorging. Seine Augen hatten sich häufig nach seiner Nichte gewendet, nachdem diese eingetreten; ein- oder zweimal hatte er sich geräuspert und gehustet – sein gewöhnliches Vorspiel zu einer wichtigen Mittheilung, und Dalibard hatte gehört, wie er in sich hinein murmelte, und er glaubte den Namen »Mainwaring« dabei vernommen zu haben. Wirklich war der Baronet mehrmals im Begriff gewesen, seinen Sekretär auszufragen, aber eben so oft hatte ihn sein Stolz und der Stolz in Lucretia's Namen abgehalten Es schien ihm unter seiner und ihrer Würde, auch nur einen leisen Zweifel, eine leise Besorgniß hinsichtlich der Erbin von Laughton anzudeuten. Olivier Dalibard hätte seinen Gönner leicht nach seinem Belieben zum Worte bringen können, leicht hätte er, wenn er gewollt hätte, ein Wort fallen lassen können, um Argwohn und eine rasche Frage zu veranlassen; aber das war nicht seine Absicht; er vermied eher eine Rücksprache mit ihm selbst hinsichtlich jenes Gegenstandes, statt sie zu suchen; denn er wußte, daß Lucretia, sobald sie vermuthete, er habe sie, wenn auch noch so indirekt, ihrem Oheim verrathen, sofort seine eigene Werbung entdecken und damit seine augenblickliche Entlassung bewirken würde: während er andererseits fürchtete, daß bei ihrer Verstellungsgabe und ihrem Einflusse auf den Oheim, ein einziges Wort von ihr genügen würde, um jeden Argwohn in Sir Miles zu beseitigen, wie sorgfältig ein solcher auch eingeflößt und wie wahr er auch begründet seyn mochte. Aber inzwischen war, bei aller seiner scheinbaren Ruhe, sein Geist fort und fort geschäftig und seine Leidenschaft in Glut.

»Ach, Ihr altes Spiel – wieder der Läufer!« sagte Sir Miles lachend, während er einen Springer rückte, um seines Gegners Plan zu vereiteln; dann betrachtete er, indem er sich umsah, die wachsende Vertraulichkeit zwischen Vernon und seiner Nichte. Diesmal konnte er sein Vergnügen nicht unterdrücken: »Dalibard, mein werther Freund,« sagte er, die Hände reibend, »sehen Sie dort – sie würden ein hübsches Paar seyn!«

»Wer, Sir?« sagte der Provençale nach einer andern Richtung blickend und indem er sich ganz unwissend stellte.

»Wer? ei der Henker, Mensch! – nun, verzeihen Sie meine derben Worte, aber ich empfand Freude und Stolz. Wer? Charley Vernon und Lucretia Clavering.«

»Ei sicherlich, ja. Meinen Sie nicht,– daß ein so glückliches Ereigniß möglich wäre?«

»Nun, es hängt nur von Lucretia ab. Zwingen werd' ich sie nie.« Hier hielt Sir Miles inne, denn der vorher unbemerkte Gabriel hob seines Gönners Taschentuch auf. Olivier Dalibard's graue Augen ruhten kalt auf seinem Sohne. »Du tanzest heut' nicht, mein Sohn. Geh, ich seh' es gern, wenn Du Dich vergnügst.«

Der Knabe gehorchte sofort, wie er es stets that, dem väterlichen Geheiß. – Er fand eine Tänzerin und nahm Theil an einem so eben begonnenen Tanze; und während des Tanzes schien Honoré Gabriel Varney ein neues Wesen zu seyn: selbst Ardworth gab sich nicht so ganz und gar der Lust der Bewegung, des Glanzes und der Musik hin. Mit glänzenden Augen und bewegten Athemzügen schien er frühzeitig all' das Aufregende und Ueppige in dieser Vergnügung zu empfinden, was die Kindheit in der Regel so wenig fühlt. Seine Blicke folgten der schönsten Gestalt; er ließ die weichste Hand in der seinigen ruhen; seine Stimme zitterte, während der warme Hauch seiner Tänzerin seine Wange berührte.

Inzwischen setzte sich das Gespräch zwischen den Schachspielern fort.

»Ja,« sagte der Baron, »es hängt allein von Lucretia ab, – und sie scheint mit Vernon zufrieden; warum auch nicht?«

»Ihr Scharfsinn täuscht Sie selten, Sir Ich gestehe, ich bin Ihrer Meinung. Weiß Mr. Vernon, daß sie das Bündniß genehmigen würden?«

»Ja; allein –« der Baronet hielt inne.

»Sie wollten sagen, allein – allein was, Sir Miles?«

»Nun, der Bursch affektirte Mißtrauen; er fürchtete ihre Neigung nicht gewinnen zu können, zum Glück ist diese wenigstens noch nicht anderweit in Anspruch genommen.«

Dalibard nahm eine ernste Miene an, und sein Auge richtete sich wie unwillkürlich nach Mainwaring. Der schlimme Zufall fügte es, daß der junge Mann jetzt sein Gespräch mit dem Präsidenten des Quartalgerichts beendigt hatte und mit untergeschlagenen Armen, finsterer Stirn und ernsten, besorgten Blicken die leise Unterhaltung zwischen Lucretia und Vernon beobachtete.

Sir Miles Auge war dem seines Sekretärs gefolgt und sein Gesicht veränderte sich. Seine Hand sank auf das Schachbrett und warf die Hälfte der Figuren; er murmelte ein sehr hörbares »Wahrhaftig!«

»Ich glaube, Sir Miles,« sagte der Provençale, indem er aufstand, als wüßte er, daß Sir Miles nicht mehr zu spielen wünsche, »ich glaube, wenn Sie mit Miß Clavering über ihre Ansichten hinsichtlich Mr. Vernons sprächen, so würde das die Sache fördern; denn ich habe von französischen Müttern gehört – und unsre französischen Frauen kennen das weibliche Herz, Sir, – daß ein Mädchen, welches noch ohne bestimmte Neigung ist, oft sogleich zu Gunsten des Mannes gestimmt wird, von dem sie weiß, daß er um sie werben und sie gewinnen soll, während sie denselben ohne jene Kenntniß nicht anders als einen gewöhnlichen Bekannten betrachten würde.«

»Das ist klug bemerkt, mein lieber Monsieur Dalibard; und es ist aus mehr als einem Grund um so besser, je eher ich mit ihr spreche. Leihen Sie mir Ihren Arm – es ist Zeit zur Tafel – der Tanz ist vorüber, wie ich sehe.«

Als sie vor der Stelle, wo Mainwaring noch lehnte, vorüber kamen, blickte diesen der Baronet scharf an. Der junge Mann bemerkte den Blick nicht. Sir Miles rührte ihn sanft an. Er fuhr wie aus einem Traum empor.

»Sie haben nicht getanzt, Mr. Mainwaring.«

»Ich tanze nur selten, Sir Miles,« sagte Mainwaring erröthend.

»Ach! Sie beschäftigen Ihren Kopf mehr als Ihre Beine, junger Herr. Nun gut, ich muß morgen mit Ihnen sprechen. Nun, meine Damen, ich hoffe, Sie haben sich gut unterhalten. Meine theure Mrs. Vesey, Sie und ich sind alte Freunde, Sie wissen – wir haben manches Menuet mit einander getanzt, nicht wahr? Jetzt können wir nicht tanzen, aber wir können noch Arm in Arm mit einander gehen. Bitt' um die Ehre. Und Ihr kleiner Enkel – schon geimpft, nicht wahr? eine wunderbare Erfindung! Zur Tafel, meine Damen, zur Tafel!«

Die Gesellschaft hatte sich entfernt. Die Lichter waren erloschen, alle, außer die Lichter des Himmels, und diese schimmerten ruhig und hell durch die Fenster: Monden- und Sternenschimmer schienen nun das alte Haus zu besitzen. Herein drangen die Strahlen, heller, länger und kühner, gleich Feen, die, Reih' um Reihe, in ihr Reich der Einsamkeit einziehen Die eichenen Stufen hernieder, von den mit Wappen geschmückten Fenstern, bewegten sich die Strahlen leise und schüchtern. Auf der Rüstung im Saale erglänzten die Strahlen kühn und schimmernd, bis der Stahl wie ein Spiegel glänzte. In die lange und niedere Bibliothek traten sie nun ein und bewegten sich nicht weiter – das war kein Ort für ihr Spiel. In dem jetzt einsamen Gesellschaftszimmer waren sie neugieriger und unternehmender. Durch das große noch offene Fenster zogen sie frei und munter ein, als wollten sie erspähen, was solche Unordnung hervorgebracht hätte; die Stühle von ihrer Stelle gerückt, die glatten Dielen ihres Teppichs beraubt – da war eine Blume zu Boden gefallen – da ein Tuch auf dem Tische vergessen auf alle dem verweilten die Strahlen. Auf und nieder durch das Haus, von der untersten Flur bis zum Dach, streiften die Kinder der Luft, und fanden nur zwei Geister wach, während alle übrigen schliefen.

In jenen östlichen Thurm, in das Tapetenzimmer, mit dem großen vergoldeten Bett in der Nische, kamen die Strahlen bleich und matt, als wären sie durch das stärkere Licht auf dem Tische eingeschüchtert. An diesem Tische saß ein Mädchen, das Haupt in die eine Hand gestützt; in der Andern hielt sie eine Rose – ein Liebeszeichen – heimlich mit ihrer Schwesterrose getauscht – zum stummen Zeichen des Vorwurfs für erregten Zweifel – ein Zeichen der Versicherung und Aussöhnung. Ein Liebeszeichen! – erschreckt nicht, ihr Strahlen – in der Liebe ist etwas euch Verwandtes. Aber, sieh', die Hand schließt sich krampfhaft um die Blume – sie birgt sie nicht im Busen – sie führt sie nicht zur Lippe empor; – sie wirft sie zornig bei Seite. »Wie lange!« flüsterte das Mädchen leidenschaftlich – »wie lange! Und zu denken, daß der Wille hier keine Stunde kürzen kann!« Darauf stand sie auf, ging auf und ab, und jedesmal, wenn sie eine gewisse Nische im Zimmer erreichte, blieb sie stehen, und ging dann wieder unentschlossen vorüber. Was ist in dieser Nische? Nur Bücher. Was können dich Bücher lehren, bleiches Mädchen? Der Schritt wird fester, diesmal bleibt sie entschlossener stehen. Die Hand, welche die Blume hielt, nimmt einen Band herab. Das Mädchen setzt sich wieder beim Lichte nieder. Seht, ihr Strahlen, was ist's für ein Band? Mond und Sternenstrahl, ihr liebt, was Liebende beim einsamen Lampenlicht lesen. Das ist kein Buch mit Liebesliedern; auch kein heiligeres Buch, um Geduld und Hoffnung zu lehren. Was hast Du, junges Mädchen, bei Deiner kräftigen Gesundheit und Deiner Jugend mit der Arzneilehre, mit Anzeichen, Symptomen und Krankheiten zu schaffen? Mit scharfem Auge spürt sie den Zeichen nach, die dem finstern Feinde, bei seiner plötzlichen Annäherung, vorausgehen – den Gewohnheiten, die ihn anlocken, den Warnungen, die er gibt. Er, dessen Reichthum sie freimachen soll, ist zweimal von dem Schlag heimgesucht worden – aber er geht nicht unter, er lebt frei! Sie schließt das Buch und sinnt den Stunden und Tagen nach, die er noch zu leben hat. Bebt zurück, ihr Strahlen! Die Liebe ist entheiligt, während die Hand an der Rose war, weilte der Gedanke beim Beinhaus.

Dort kam auch der Strahl, in dem entgegengesetzten Thurm, durch das kleine Fenster nah' am Dach; Kindheit schlummert, Mond und Sternenstrahl, ihr liebt den Schlummer des Kindes! Die Thür öffnet sich, eine dunkle Gestalt schleicht geräuschlos herein. Der Vater kommt, um zu sehen, wie sein Sohn schläft. Heilige Zärtlichkeit, wofern dies Alles ist!

»Gabriel, wach' auf!« sagte eine leise strenge Stimme und eine rauhe Hand schüttelte den Schläfer.

Die schärfste Erprobung derjenigen Nerven, von denen der rein animalische Muth abhängt, ist die, wenn man plötzlich mitten in der Nacht durch eine heftige Hand aufgeweckt wird. Gabriel empfand, aufgeschreckt, weder Furcht noch Ueberraschung. Seine Regung war die des spartanischen Knaben, dem Gefahr nicht neu ist. Mit einem leisen Schrei und rascher Bewegung fuhr des Sohnes Hand nach des Vaters Kehle. Dalibard befreite sich mit einiger Anstrengung von ihm, während ein halb lobendes, halb ironisches Lächeln beim Mondlicht über seine Lippen glitt.

»Das Blut will heraus, junger Tiger,« sagte er. »Still, und höre mich an.«

»Bist Du es, Vater?« sagte Gabriel; – »ich dachte – ich träumte –«

»Gleich viel; denke – träume stets, daß sich der Mann zur Vertheidigung gegen Gefahr bereit halten muß!«

»Gabriel, (und der bleiche Gelehrte setzte sich an das Bett,) »wende Dein Gesicht nach mir, – näher! laß den Mond darauf fallen! heb' Dein Auge auf– sieh' mich an – so! Treibst Du nicht ein falsches Spiel mit mir? Bist Du nicht Lucretia's Spion, während Du vorgibst, der meinige zu seyn? Es ist so, Dein Auge verräth Dich. Nun hör' an! Du hast einen Geist über Deine Jahre. Ist Dir Deine schlechte Dachkammer in London, die grobe Kost und gemeine Kleidung lieber, oder Deine Wohnung hier, das Gefühl des Ueberflusses, die glänzende Umgebung, die Atmosphäre des Reichthums? Du hast die Wahl vor Dir.«

»Ich wähle, wie Du es wünschest,« sagte der Knabe, »das Letzte.«

»Ich glaube Dir, hör' an! Du liebst mich nicht, das ist natürlich – Du bist der Sohn Clara Varney's! Du hast vermuthet, Du würdest mich, indem Du Lucretia Clavering liebtest, ärgern und kränken; und zu dem hat Lucretia Clavering Gold und Gaben, und sanfte Worte, und Versprechungen, um damit zu bestechen. Ich will Dir jetzt meinen Plan hinsichtlich dieses Mädchens offen mittheilen: ich habe die Absicht, sie zu heirathen – und der Herr dieses Hauses und dieser Güter zu werden. Gelingt mir's, so wirst Du sie mit mir theilen. Verräthst Du mich Lucretien, so vereitelst Du dies Ziel; Du arbeitest dann gegen unser Emporkommen und für unsern Ruin. Glaube nicht, daß Du meinem Sturze entgehen könntest; werd' ich von hier vertrieben, so wirst Du mit mir vertrieben – Du theilst mein Schicksal; und merk Dir's wohl, Du fällst dann meiner Rache anheim; Du hörst auf mein Sohn zu seyn, Du wirst mein Feind. Kind, Du kennst mich!«

Der Knabe schauderte, so kühn er auch war; aber nach einer Pause, so kurz, daß zwischen seinem Schweigen und seinem Wort kaum ein Athemzug lag, erwiederte er mit Nachdruck:

»Vater, Du hast mein Herz gelesen. Ich bin von Lucretia – (denn sie übt Zauberkraft auf mich) überredet worden, Dich zu beobachten – wenigstens, wenn Du mit Sir Miles beisammen bist. Ich wußte, daß dies mit Mr. Mainwaring ausgemacht war. Jetzt, wo Du mich Deine Pläne hast kennen gelehrt, will ich wahr gegen Dich seyn – wahr ohne Drohungen.«

Der Vater sah ihn scharf an, und dieser Blick schien ihn zufrieden zu stellen. »Erinnere Dich wenigstens, daß Deine Zukunft von Deiner Wahrheit abhängt; das ist keine Drohung – das ist ein Gedanke der Hoffnung. Nun schlaf', oder denke darüber nach.« Er ließ den Vorhang, den seine Hand bei Seite gezogen hatte, fallen, und schlich aus dem Zimmer so geräuschlos, wie er gekommen. Der Knabe schlief nicht mehr. List, Begier und schlechter Ehrgeiz waren in seinem Gehirn thätig. Bebt zurück, Mond und Sternenstrahl! Auf dieses Kindes Stirn spielen die Dämonen, welche dem Schritte des Vaters zu seiner Schlummerstätte gefolgt waren.

Olivier Dalibard schlich zu seinem eigenen ganz nahgelegenen Zimmer zurück. Die Wände waren bedeckt mit Büchern in mancherlei Sprachen, und tiefgelehrten Inhalts. Mond und Sternenstrahl, ihr liebt die mitternächtige Einsamkeit des Gelehrten! Der Provençale schlich zum Fenster und sah hinaus. Alles war ruhig; regungslose Bäume, mondbestrahlte Bildsäulen und eine bleiche, von der Masse des Schattens umgebene Fläche. Woran dachte der Mann? Nicht an die gegenwärtige Lieblichkeit der Scene, die sich seinem Blicke darbot, noch an die Geheimnisse der Zukunft, welche die Sterne der Seele zuflüstern möchten. Düster schweifte das Gedächtniß über eine stürmische und furchtbare Vergangenheit, erfüllt von Betrug und von Verbrechen besudelt; voller Pläne mit grausamer Weisheit entworfen, und mit gewissenloser Kühnheit verfolgt, und jetzt doch Alles verloren und fruchtlos! – eine geistige Kraft im Kriege mit dem Guten – und das Gute hatte gesiegt! Aber die Ueberzeugung rührte weder das Gewissen, noch erleuchtete sie die Vernunft; er empfand allerdings ein trübes Gefühl der Ohnmacht, aber es erregte Wuth, nicht Niedergeschlagenheit; er unterwarf sich nicht dem Guten, weil es zu mächtig, um Widerstand zu dulden, sondern er glaubte nur, noch nicht die gehörige Meisterschaft über das Arsenal des Bösen erreicht zu haben. Und Böses nannte er's nicht. Gut und Böse waren für ihn nur untergeordnete Genien, die dem Geiste gehorchen müssen. »Was bedeutet es,« dachte er, während er sich ungeduldig vom Fenster abwendete, »daß ich mich hier betrogen sehe, wo mein Glück so fest gegründet schien? Hier war der Geist, den ich selbst bildete, und den die Natur für meine Hand vorbereitet hatte; hier lächelte günstige Gelegenheit Und plötzlich muß die gewöhnlichste Erscheinung im gemeinen, Leben der Sterblichen auftreten – ein Wesen, kaum als Rival erwartet – und noch dazu ein Rival solcher Art, wie ich sie zu verachten gelehrt hatte – einer der Dutzendhelden einer Komödie – kein Charakter, nur Jugend und schönes Ansehen – ja – der Liebhaber von der Bühne erscheint, und das Werk langer Jahre ist vernichtet.« Während er so sann, legte er die Hand auf ein kleines Kästchen auf einem der Tische. »Aber hierin,« begann er sein Selbstgespräch wieder, und er schlug auf den Deckel, daß es dumpf schallte, – »hierin hab' ich die Schlüssel für Leben und Tod! Narr, die Kraft reicht nicht zum Herzen, außer um es still zu machen. Waren die alten Heiden wirklich und in der That im Irrthum? Gibt es keine Liebestränke, um dem Verlangen eine andere Richtung zu geben? – nur eine Saite rühre in eines Mädchens Neigung, und alles Uebrige ist mein – alles – alles, Ländereien, Rang, Macht – alles Uebrige hängt von dem Oeffnen dieses Deckels ab!«

Birg' Dich in der Wolke, o Mond! – Bebt zurück, ihr Sterne! sendet nicht euer heiliges, reines und schmerzenstillendes Licht auf das von Mordgedanken gebleichte und entfärbte Antlitz.


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