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Drei Wochen nach den eben erzählten Vorfällen schien das Leben in Laughton ganz wieder zu seiner frühern heitern, wenn auch etwas gleichförmigen Ruhe zurückgekehrt zu seyn. Vernon hatte sich, die Gerechtigkeit der ihm auferlegten Probe einsehend, verabschiedet, dabei aber ein zu feines Zartgefühl, einen zu stolzen Charakter bewiesen, um irgend ein anderes Versprechen von Onkel oder Nichte zu fordern, als das war, welches schon das Auflegen einer Probe selbst in sich enthielt. Seine Erinnerung wie sein Herz weilten noch immer bei Marien, seine Sinne aber, seine Einbildungskraft, seine Eitelkeit, fühlten sich in dem glücklichen Erfolg um die Erbin interessirt. Denn wenn auch seinem Herzen jede krämerhafte Spekulation fremd war, so hatte er doch zugleich zu viel Weltkenntniß, um nicht alle die Vortheile einer solchen, ihm von Sir Miles angetragenen Verbindung einzusehen, da ihr noch dazu Lucretia selbst nicht ganz abgeneigt schien.
Die Saison war in London vorüber, aber doch noch eine Gesellschaft dort geblieben, und zwar dieselbe, in der sich Charles Vernon bewegte, und welche die Stadt interessanter fand, als das Land; überdieß besuchte er gelegentlich Brighton, was damals in demselben Verhältniß zu England, als Bajä früher zu Rom stand. Der Prinz hielt fröhlichen Hof in seinem Pavillon, und in dieser Atmosphäre war Vernon gewohnt zu athmen, ohne jedoch ein Schmarotzer des königlichen Hauses zu seyn. Er fühlte im Gegentheil jene wirkliche persönliche Anhänglichkeit für den Prinzen, welche zu erwecken die Majestät oft das gute Glück hat. Nichts ist überhaupt grundloser, als die, durch die Dichter so oft in den Mund der Fürsten gelegte Behauptung, daß sie keine Freunde hätten. – Ist das wirklich der Fall, so muß es nur ihre eigene Schuld seyn; ein klein wenig Liebenswürdigkeit, ein nur geringer Grad von Offenheit wirkt gar stark und kräftig, wenn er von den Strahlen einer Krone ausgeht.
Vernon war aber stärker an Geist, als Lucretia geglaubt hatte; die Aussicht einer Verbindung erwägend, die ihm in sich selbst zugleich ein anderes Glück übertragen müsse, und recht gut fühlend, wie viel er bei solcher Heirath dem Vertrauen des Oheims sowohl, wie der Nichte zu danken habe, machte ihn festere Grundsätze zeigen, als er bisher bewiesen, so lange es nur sein eigenes Vermögen war, das er vergeudete, oder sein eigenes Glück, mit dem er spielte. Er schloß sich allerdings seiner alten Gesellschaft wieder an, hielt sich aber von ihren äußeren Vergnügungen fern, und Charles Vernon schien wirklich, das ausgenommen, was man damals für den leicht verzeihlichen Fehler eines etwas zu innigen Bachusopfers hielt, vollkommen gebessert.
Ardworth hatte sich einem Regimente angeschlossen, das schon in's Feld marschirt war; Mainwaring dagegen hielt sich noch immer bei seinem Vater auf, ohne bis jetzt gegen Sir Miles einen Wunsch, seine Zukunft betreffend, geäußert zu haben.
Olivier Dalibard verbrachte, wie früher, seine Morgen einsam auf dem eigenen Zimmer, seine Nachmittage und Abende dagegen bei Sir Miles, vermied jedoch jede Privatunterhaltung mit Lucretia, die diese ebenfalls nicht suchte. Gabriel amüsirte sich indessen wie bisher, kopirte Sir Miles Gemälde, skizzirte nach der Natur, kritzelte auf seinem Zimmer Verse oder Prosa – (was sich ziemlich gleich blieb, denn er trat nie mit seinen Nachtstudien an's Licht) – kniff die Hunde, wenn er ihrer habhaft werden konnte, schoß die Katzen, die sich in der Anpflanzung zeigten, und zwar nur aus augenblicklicher Liebe zu den jungen Fasanen, und schlenderte im Dorfe umher, wo er seines guten Aussehens wegen ein Liebling war, dennoch aber überall die Zeichen seines Besuchs in Unordnung und Verwirrung zurückließ, da er entweder den Theekessel umwarf und die Kinder verbrühte oder, was er am liebsten that, zwei Klatschschwestern zusammenschnürte.
Alle diese Beschäftigungen waren jedoch beendet, sobald Lucretia Morgens erschien; von der Zeit an ließ er sie nicht mehr aus den Augen, und wenn er sich dann, und zu der ihm gestatteten Frist entweder ihrem Spaziergange bei Sonnenuntergang im Garten anschloß, oder in der Abendstunde im Lesezimmer bei ihr saß, so zeigte er sich sanft, geschmeidig und zärtlich, wie Kupido zu Psyches Füßen, als er vorher die Nymphen geplagt hatte. Diese beiden Wesen fühlten auch in der That jene Art von geistiger Gemeinschaft, die man hier und da noch zwischen einem Knaben und einer ihm an Jahren weit überlegenen Jungfrau findet; das aber, was sie zusammenzog und an einander fesselte, war ein ihnen selbst fast unbewußter Instinkt ihrer Aehnlichkeit in so manchen Zügen des beiderseitigen Charakters – der junge Leopard spielte furchtlos und keck um die Pantherin.
Vor Oliviers mitternächtlicher Unterredung mit seinem Sohne hatte sich Gabriel immer enger und enger an Lucretia, und zwar als Verbündeter gegen seinen eigenen Vater angeschlossen, denn diesen Vater, obgleich er ihm den unbedingtesten Gehorsam zollte, fürchtete, – ja haßte er. Existirte überhaupt irgend Jemand auf der weiten Welt, – den der junge Varney, sich selbst ausgenommen, liebte, so war es eben nur Lucretia Clavering. Sie hatte seinen herrschenden Leidenschaften, dem unbegrenzten Ehrgeiz, Vorschub geleistet; sie war es gewesen, die ihm eine sein Aeußeres am besten hervorhebende Kleidung angerathen, und ihr dabei das Pittoreske, Künstlerische gegeben hatte, was er so lange und so sehnsüchtig in den Gemälden Titians und Vandykes studirt. Sie versah ihn (denn darin war sie freigebig) mit hinlänglichem Gelde, jeden knabenhaften Wunsch zu befriedigen. Das aber war es auch, was sich später gegen sie selbst kehrte, da dadurch seine natürliche Neigung zum Extremen sich zu einem wirklichen Laster steigerte und alle anderen Leidenschaften der seiner Geldgier sich unterordneten. Sie lobte seine Zeichnungen, die, obgleich durch sich selbst gelernt, wirklich an das Außerordentliche grenzten, prophezeihte ihm den Ruf eines Künstlers, lenkte die Aufmerksamkeit etwaiger Gäste auf ihn und – vor allen Dingen – war die Ursache, daß seines Vaters Betragen sich gegen ihn, aus der unerbittlichsten Strenge in die väterlichste Zärtlichkeit verwandelt hatte.
Und so vergalt er ihr alles dies durch eine Treue, die sich, wie sie fest hoffte, gegen seinen Erzieher selbst wenden sollte, wenn der in seinen Hoffnungen Getäuschte etwa zu einem Pläne schmiedenden Rival und geheimen Feind erstehen würde. Jetzt aber, vollkommen von der Wichtigkeit der Pläne seines Vaters überzeugt und auf der einen Seite die Feststellung einer sichern Existenz in Laughton, wie den unbedingten positiven Einfluß auf Lucretia, auf der andern aber die Rückkehr zu jener Armuth, an die er sich noch mit Schaudern und tiefem Entsetzen erinnerte, wie seines Vaters dann durch nichts behinderte Wuth und Rache vor Augen, gieng er völlig in Dalibard's düstere Pläne ein; ohne Skrupel und Reue hätte er jetzt selbst seiner Wohlthäterin das herbste Leid angethan. So gleicht der durch gemeinschaftliche List gestützte Betrug der Spinne, die ihr Netz freilich für die Fliege ausgespannt hat, in seinen Maschen aber dem stärkeren Feinde die Bahn zu ihrem eigenen Verderben zeigt.
Der junge Varney begann nun ruhig aber unermüdlich jeden Schritt Lucretia's zu beobachten und hatte schon seinem Vater zwei ihrer Besuche in dem entlegensten Theile des Parks mitgetheilt – zwei Besuche, die beide auf den nämlichen Tag der Woche gefallen. Bis jetzt war es ihm aber noch nicht gelungen bis zu dem Platze zu dringen, den sie ausgesucht, um genau den Ort ausforschen zu können. Gerade dieses unermüdliche Beobachten Lucretia's war aber auch die Ursache gewesen, daß er Mainwaring selbst in der Besorgung seines geheimen Briefwechsels nicht gesehen. Dalibard ermunterte ihn, seine Wache fortzusetzen, ohne ihm übrigens seinen Endzweck mitzutheilen, über den er in der That selbst noch nicht einmal im Reinen war, denn entdeckte er wirklich eine Verbindung zwischen Lucretia und Mainwaring, wie sollte er denn Sir Miles damit bekannt machen, ohne sich selbst jeden möglichen daraus zu ziehenden Vortheil abzuschneiden? Würde ihm Lucretia je den Verrath verziehen haben und hätte er es verhindern können, daß sie die Hand entdeckte, die den Streich geführt? Seine einzige Hoffnung blieb noch, Mainwaring durch fremde Vermittelung unschädlich zu machen und dann hoffte er (indem er sich gegen sie stellte, als ob er ihr zufällig entdecktes Geheimniß treu bewahre und sich mit großmüthiger Aufopferung in sein Schicksal ergebe) ihr Vertrauen, das sie ihm jetzt vorenthielt, wieder zu gewinnen und es zu seinem eigenen Vortheil zu benutzen, sobald nämlich einmal die Zeit kommen würde, wo er sich selbst gegen Vernon vertheidigen müsste. Sir Miles hatte ihm nämlich das stillschweigende Verständnis, was den Bewerber um der Nichte Hand betraf, mitgetheilt und er war nun überzeugt, daß sich Lucretia, hätte Mainwaring gar nicht existirt oder konnte er wenigstens je für ihre Hoffnungen aufhören zu existiren, eher einem Manne unterwerfen würde, den sie fürchtete aber achtete, als Einem, mit dem sie ihr Spiel trieb und den sie augenscheinlich geringschätzte.
»Meine Maßregeln müssen getroffen werden, sobald ich erst die Beweise gesammelt habe,« dachte der schlaue Intriguant und ruhig setzte er indessen mit dem Baronet sein Schach fort.
Ehe Gabriel jedoch im Stande war, weitere Entdeckungen zu machen, ereignete sich ein Vorfall, der gar verschiedene Empfindungen in den von ihnen näher berührten Personen hervorrief.
Sir Miles war in dem letzten Jahre zweimal von nicht zu verkennenden Schlaganfällen heimgesucht worden; sein Arzt aber, sicherlich kein sehr geschickter, wenn auch ein sehr formeller Mediciner, schien nicht recht einig mit sich selbst zu seyn, ob er sie wirklich der Apoplexie oder den minder gefährlichen Folgen, die eine zu ausgedehnte Diät oft nach sich zieht, zuschreiben sollte. Landdoktoren hatten aber zu jener Zeit noch nicht den Grad von Kenntniß, Geschicklichkeit und gründlicher Wissenschaft erreicht, dem sie sich jetzt immer mehr und mehr nähern und Sir Miles selbst protestirte stets so lebhaft und eifrig gegen den leisesten Wink, der uns auf eine so ungünstige Deutung seiner Gesundheit schließen ließ, daß der Arzt, wenn nicht wirklich von seinem Patienten eines Bessern belehrt, doch auf jeden Fall zu ängstlich war, eine entgegengesetzte Meinung fest und bestimmt auszusprechen. Es gibt Leute, die ihren Arzt entlassen, wenn er ihnen die Wahrheit sagt, und Sir Miles gehörte zu diesen.
Ueberhaupt war ihm eine Charakterschwäche eigen, die nicht selten gerade bei stolzen Menschen gefunden wird. Er fürchtete den Tod nicht, aber der Gedanke hatte für ihn etwas Schreckliches, daß Andere vielleicht sein Ableben erwarten möchten. Er freute sich der Gewalt, die er, wenn auch freundlich, ausübte, er wußte aber auch, daß die Macht, die Stand und Reichthum gibt, in dem Verhältniß geschwächt wird, als die von ihm Abhängigen die Zeit ihres Aufhörens voraussehen können. Eben so fest fürchtete er, die Bemerkungen, die stets über solche, von dieser Krankheit Betroffene gemacht werden. – »Der arme Sir Miles – ein Schlaganfall – sein Geist muß sehr dadurch gelitten haben – gestern Abend, beim Whist, vergaß er einmal Farbe zu bekennen – sein Gedächtniß hat sicherlich sehr gelitten.«
Das mochte nun freilich eine bedauerliche Schwäche seyn, Helden und Staatsmänner haben sie aber am häufigsten gezeigt – verzeiht es deßhalb dem stolzen alten Mann. Dem Arzt schärfte er nun auch ein, überall im Haus und der Nachbarschaft zu erklären, daß diese Anfälle völlig harmlos und unbedeutend gewesen wären, was der Arzt that und worin er auch – bei den Meisten Glauben fand; Sir Miles erschien ihnen ja noch ganz so frisch und lebhaft als früher. Nur zwei Personen ließen sich durch diese Reden nicht täuschen – Dalibard und Lucretia. Der erste hatte in seiner Jugend Medicin und zwar mit derselben Geduld und Ausdauer studirt, die er bei allem bewies, was er unternahm und vom Anfang an machte er Lucretia darauf aufmerksam.
»Die Tage Ihres Oheims sind gezählt,« sagte er, »wenn er seine Lebensweise nicht ändert, nicht dem Wein und den Tafelfreuden entsagt und sich überhaupt hinlängliche Bewegung macht, so müssen Sie auf das Schlimmste gefaßt seyn.«
Und da ihr diese Warnung zuerst in einer Zeit kam, wo sie Mainwaring noch nicht kennen gelernt, so empfand sie darüber – so aufrichtigen wie tiefen Schmerz. Wir haben aber gesehen, wie sich diese Ansichten änderten, als ein menschliches Leben ihr ein Hinderniß wurde. In ihrem Charakter war das, was die Phrenologen »Zerstörungssucht« nennen, am vollkommensten und im weitesten Sinne des Worts entwickelt. Sie war nicht grausam – nicht blutdürstig, diese Laster gehören – anderen Charakteren an, aber sie ging nur rücksichtslos – erbarmungslos ihre Bahn. Ein Ziel hatte sie sich gesteckt – das mußte sie erreichen, und alles, was sich ihr dabei entgegenstellte, war ein feindliches Hinderniß. Am Anfang zwar stand ihr Sir Miles noch nicht im Wege, ausgenommen zu ihrem Vermögen; da aber ihr Hauptlaster nicht im Geiz bestand, so glaubte sie das schon ruhig erwarten zu können, und bemühte sich deßhalb, nach des Provençalen Wink ihren Oheim von allem Schwelgen und übermäßigen Weingenuß zurückzuhalten. Sir Miles war jedoch in dem Punkt etwas kitzlich – er fürchtete die Auslegungen, die man einem plötzlichen Wechsel seiner Lebensart geben würde und hatte auch die ihn früher wirklich beunruhigende Warnung schon vergessen, da er sich überdies jetzt wieder so wohl als je fühlte. – Eine alte rheumatische Gicht blieb hiervon freilich ausgenommen, die aber auch nur eine Lähmung in den Gliedern zurückgelassen, und dadurch körperliche Bewegung unbequem gemacht hatte. Dabei besaß er eine jener wohl angenehmen doch gefährlichen Constitutionen, die keine üblen Folgen bei Unregelmäßigkeiten verrathen, sondern alles, was man ihnen zumuthet, mit wirklich philosophischer Ruhe hinnehmen. Demgemäß wollte er nun einmal seinen eigenen Weg gehen, und wußte den Doktor halb zu bereden, halb zu zwingen, bis er sogar dessen Autorität auf seiner Seite hatte. ›Wein,‹ hieß es, ›sei seiner Constitution nöthig, viel Bewegung strenge sie dagegen zu sehr an.‹
Der zweite, dem ersten nach vier Monaten folgende Anfall war weniger beunruhigend und Sir Miles schmeichelte sich damit, daß er selbst seiner Nichte unbekannt geblieben wäre; drei Nächte aber nach seiner Genesung saß der alte Baronet eine Zeitlang in seinem eigenen Zimmer allein, ehe er sich zur Ruhe begab. Dann stand er auf, öffnete das Schreibepult und las aufmerksam sein eigenes Testament – schloß es mit einem tiefen Seufzer wieder ein, und nahm dann die Bibel herunter. Am nächsten Morgen schrieb er die Briefe, die Ardworth und Vernon herbeiriefen, und als er sein Zimmer verließ, weilte sein Blick lange und mit schwermüthigem Vergnügen auf den Portraits der Gallerie. Niemand war in der Nähe des alten Mannes, diese leisen Anzeichen zu deuten, doch lag eine Welt von Gedanken in ihnen.
Wenige Wochen nach Vernons Abreise und inmitten der vorher beschriebenen, wieder eingetretenen Ruhe geschah es, daß Sir Miles Arzt, nachdem er in der Halle gespeist, zu einem von den Kindern der benachbarten Rektorei gerufen wurde, und dann auch dort über Nacht blieb. Kurz vor Tagesanbruch ward er aber aus seinem Schlummer aufgestört, und schnell nach Laughton Hall gerufen. Zum dritten Mal fand er hier Sir Miles bewußtlos und Dalibard neben seinem Bette. Lucretia war aber nicht geweckt worden; denn Sir Miles hatte es seinem Kammerdiener, der erst seit kurzer Zeit in demselben Zimmer mit ihm schlafen mußte, anbefohlen, unter keiner Bedingung Miß Clavering zu stören, wenn er jemals unwohl werden sollte. Der Doktor wollte nun seine gewöhnlichen Mittel anwenden, als er aber die Lancette hervorzog, legte Dalibard die Hand auf seinen Arm. »Nicht diesesmal,« sagte er langsam und mit ernster Bedeutung –, »es wäre sein Tod.«
»Puh, Sir,« rief der Doktor verächtlich.
»Gut – folgen Sie denn Ihrem Willen, lassen Sie ihm zur Ader, aber nehmen Sie dann auch die Verantwortlichkeit auf sich. Ich habe Medicin studirt – ich kenne diese Symptome, in diesem Falle mag der Schlaganfall noch schonend vorübergehen, die Lancette aber bringt unabweislichen Tod.«
Der Arzt sah ihn bestürzt und unschlüssig an.
»Was aber würden Sie thun?«
»Warten Sie noch drei Minuten die Wirkung der Umschläge ab, die ich angewandt habe – wenn diese fehlschlagen –«
»Nun? – dann?«
»Ein kaltes Bad und heftige Einreibung.«
»Sir – ich werde das nie zugeben.«
»Dann morden Sie Ihren Patienten auf Ihre eigene Art.«
Während dieser ganzen Zeit lag Sir Miles mit weit aufgerissenen Augen und festzusammengebissenen Zähnen besinnungslos da. Der Doktor näherte sich ihm, sah auf seine Lancette nieder und sagte endlich unschlüssig:
»Ihre Behandlungsart ist mir neu, doch – wenn Sie Medicin studirt haben, so ist das etwas Anderes. Können Sie den glücklichen Erfolg Ihres Mittels garantiren?«
»Ja.«
»Bedenken Sie aber – ich wasche meine Hände – Mr. Jonas hier ist mein Zeuge –« und er wandte sich dabei an den Bedienten.
»So ruft den Läufer Im Original: »footman«: Diener, Lakai. und hebt Euren Herrn auf,« sagte Dalibard; der Doktor aber bemerkte sich umsehend, daß ein, etwa sieben oder acht Zoll mit Wasser gefülltes Bad schon bereit stand. Unschlüssig und mit sich selbst nicht einig, wie er war, stellte er jetzt Dalibards Behandlung keine Hindernisse in den Weg. Der anscheinend leblose Körper wurde in das Bad gelegt, und unter Dalibards Aufsicht und nach seiner Anweisung rieben die Diener die kalten Glieder mit aller Anstrengung. Mehrere Minuten vergingen so, ehe sich auch nur der geringste günstige Erfolg zeigte, endlich seufzte Sir Miles tief auf und seine Augen bewegten sich – noch ein oder zwei Minuten länger und seine Zähne schlugen zusammen; das wieder in Bewegung gesetzte Blut zeigte sich unter der Haut – Leben kehrte wieder – die Gefahr war vorüber und der Tod, der dunkle Feind, aus seiner Citadelle vertrieben. Sir Miles sprach hörbar, aber unzusammenhängend, wurde in sein Bett zurückgetragen, warm zugedeckt, jedes Licht dann entfernt, jedes Geräusch verboten, und Dalibard und der Doktor blieben schweigend neben dem Bette sitzen.
»Reicher Mann,« dachte Dalibard, »Deine Stunde hat noch nicht geschlagen – Deine Schätze dürfen nicht in die Hände dieses Knaben Mainwaring übergehen.«
Sir Miles Genesung, diesmal aber unter der Sorgfalt Dalibard's, der jetzt ganz seinen eigenen Weg verfolgen durfte, ging so schnell und vollkommen von statten, als früher. Lucretia aber, als sie am nächsten Morgen von dem gefährlichen Anfalle hörte, fühlte – wir wagen nicht zu sagen verbrecherische Freude, aber eine eigene wilde, fast fieberhafte Aufregung. Sir Miles selbst dagegen, der von dem Bedienten den Streit Dalibards mit dem Doktor und dessen Erfolg gehört hatte, sah sich jenem zu inniger Dankbarkeit verpflichtet, in die sich noch stille Bewunderung mischte, wie er so ganz einfachen Mitteln doch seine Rettung verdanke. Mit einer Aufmerksamkeit und Geduld lauschte er auch jetzt all' den Ermahnungen und Vorschriften seines Erhalters, die dieser kaum erwartet hatte, ihm aber jetzt auch rücksichtslos enthüllte, welch' Leben er von nun an führen müsse, wenn er überhaupt am Leben bleiben wolle. Ueberzeugt endlich, daß Wein und Delicatessen den Feind nicht bannen konnten, und auch in Olivier Dalibard einem ganz andern Geist begegnend, als dem des Doktors, entschloß sich der alte Herr endlich zu einer strengen Diät und täglicher Bewegung in der freien Luft.
Dalibard war jetzt fortwährend um ihn und dies Wachsen seines Einflusses so natürlich wie augenscheinlich. Lucretia zitterte – sie ahnte eine Gefahr in dieser Macht, die jetzt nicht allein von der ihrigen geschieden dastand, sondern auch noch drohte, ganz unabhängig zu werden. Sie wurde zerstreut und unruhig; es war Eifersucht auf den Provençalen, die sie erfaßte: sie sann auf Pläne zu seinem Sturz. Zu dieser Zeit empfing Sir Miles folgenden Brief von Mr. Fielden: –
»Southampton, 20. Aug.1801.
Theurer Sir Miles!
Sie werden sich erinnern, daß ich Sie damals davon in Kenntniß setzte, als ich mit meiner lieben jungen Schutzbefohlenen in Southampton eintraf. Susanna hat indessen zweimal an ihre Schwester geschrieben und dabei den Wunsch angeregt, sie zu besuchen. Miß Clavering hat, wie man es in so naher Verwandtschaft nicht anders erwarten konnte, auch darauf geantwortet, aber vielleicht dieselbe Furcht gehegt, Sie durch eine solche Bitte zu beleidigen, wie ihre Schwester. Jetzt aber, da der würdige Geistliche, der meine Predigerpflichten übernommen hatte, die Luft dort ungesund findet und mich bittet, nicht auf dem Vergleich zu bestehen, nach dem wir mit unseren verschiedenen Amtspflichten auf ein volles Kalender-Jahr abwechseln sollten, so bin ich, wenn auch ungern, genöthigt, nach Hause zurückzukehren – mein theures Weib ward, dem Himmel sey Dank – auch schon vollständig wieder hergestellt, was eine unaussprechliche Gnade ist, und ich bin fest überzeugt, daß ich der Vorsehung kaum genug dafür danken kann, die mich nicht allein mit einem sehr liberalen Das englische »liberal« bedeutet in erster Linie »großzügig«, Einkommen von mehr als zweihundert Pfund jährlich, sondern auch mit der besten Frau und den bravsten Kindern gesegnet hat; Besitzungen, die ich die Reichthümer des Herzens nennen möchte.
Nun, mein theurer Sir Miles, wollte ich Sie bitten, den Wunsch dieser beiden wackeren jungen Mädchen zu erfüllen, und Miß Lucretia zu erlauben, ihre Schwester recht bald zu besuchen. Auf diese so kühn erbetene Einwilligung rechnend, habe ich schon für Miß Clavering ein Zimmer hergerichtet und Susanna beschäftigt sich jetzt mit etwas, das das ganze Hans – obgleich ich selbst nicht viel von solchen Arbeiten verstehe, eine wirklich ausgezeichnete und reizende Toilettdecke nennt, mit aus Muslin ausgeschnittenen Rosen und Vergißmeinnicht's daran, und mit zwei großen Seidentroddeln, die ihr allein drei Schilling vier Pence kosten. Ich kann aber nicht schließen, ohne Ihnen noch vorher so recht von Herzen für Ihre edelmüthige Güte gegen den jungen Ardworth gedankt zu haben. Er ist so voll von glühendem Eifer und Geist, daß ich noch immer daran denken muß, wie ich ihn damals verließ, den armen Jungen – ich glaubte ihn nämlich hart an der Arbeit bei jenem wohlbekannten Problem Euclids – die Eselsbrücke genannt und fand ihn eine 8 auf dem kaum erst zugefrorenen Teiche ziehend. Der arme Knabe! Nun, der Himmel wird für ihn sorgen, denn er sorgt ja für Alle, die es nicht selber thun. Ach Sir Miles, wenn Sie Susanna nur sehen könnten, und solch' eine Krankenwärterin. –
Ich habe die Ehre zu seyn
Sir Miles
Ihr ganz gehorsamster und ergebenster Diener
Matthew Fielden.«
Sir Miles drückte diesen Brief in seiner Nichte Hand und sagte dann freundlich: »Warum hast Du Deine Schwester noch nicht besucht? Ich wäre nicht böse gewesen. Geh' mein Kind, sobald Du willst; morgen ist Sonntag, an dem Tage darfst Du allerdings nicht reisen, aber am nächsten soll Dir die Kutsche zu Diensten stehen.«
Lucretia zögerte einen Augenblick. Der Gedanke, Dalibard im alleinigen Besitz des Platzes, und wenn auch nur für wenige Tage, zu lassen, ängstigte sie; was aber vermochte er ihr in der kurzen Zeit zu schaden? – Ihr Puls schlug schneller – Mainwaring konnte nach Southampton kommen, sie sollte ihn, nach mehr als sechswöchentlicher Abwesenheit wieder sehen. – Ach, sie hatte ja so viel zu erzählen und zu fragen – sie glaubte schon sein letzter Brief sey kälter, kürzer gewesen, als die früheren; sie sehnte sich danach, es von seinen eigenen Lippen zu hören, wie er sie »noch immer liebe.« Dieser Gedanke verbannte oder verdrängte wenigstens alle übrigen, sie dankte ihrem Oheim herzlich, und die Reise war beschlossen
»Sey Montag Morgen früh auf Deiner Wacht!« sagte Olivier zu seinem Sohn.
Der Montag kam: der Baronet hatte befohlen, daß der Wagen um zehn Uhr vor der Thür halten solle. Etwas vor acht Uhr schlich sich Lucretia fort nach der Guy's Eiche. Gabriel saß aber schon auf seinem Posten, er hatte einen Baum unten im Park und an einer Stelle erklettert, wo er bis jetzt Lucretien stets aus den Augen verloren. Sie schritt darunter hinweg – weiter, zu einem dichteren Gebüsch verkrüppelter Eichen. Sobald sie sich in gehöriger Entfernung befand, sprang der Knabe aus seinem Versteck herab und kroch mit fast indianischer Vorsicht ihrer Spur nach. Von Baum zu Baum dabei folgend, und stets gedeckt, stets auf der Huth sah er sie endlich in die Schlucht hinabsteigen. Schnell glitt er durch das Farnkraut, erreichte den Rand des Abhangs und blickte hinab – aber sie war verschwunden Endlich entdeckte er zu seinem nicht geringen Erstaunen den hellen Schein ihres Kleides in der Höhlung eines alten Baums – sie beugte sich nieder als sie durch die Oeffnung herauskam und er behielt Zeit in das hohe, ihn verdeckende Kraut zurückzusinken. Sie verließ das Thal, nahm denselben Weg zurück, den sie gekommen, und der Knabe kletterte in die Schlucht hinab. –
Guy's Eiche – alt und ehrwürdig, unten mit zwei noch, grünen, aber verkrüppelten, oben schon mit dürren, abgestorbenen Aesten, die ankündeten, wie der Tag ihres Sturzes mehr und mehr heranrücke, stieg hoch aus dem tiefsten Grunde der Schlucht, selbst noch über die, einem höher gelegenen Terrain entsprossenen Nachbarn empor, ebenso wie ein großer Name so viel stolzer und ernster klingt, wenn er aus dem Grabe herausschallt. Eine dunkle, unregelmäßige Höhlung öffnete sich zu dem Herz der Eiche – der Knabe schlüpfte hinein und sah sich um – er konnte Nichts erkennen, aber etwas mußte doch da seyn. Die Strahlen der Morgensonne drangen noch nicht in den hohlen Stamm – ein düsteres Dämmerlicht herrschte, und langsam und vorsichtig fühlte er in alle Oeffnungen hinein, er störte nur eine jener Motten auf, die ins Freie flog. Nicht der Motten wegen war die Jungfrau zu Guy's Eiche gewandert.
In Verzweiflung endlich trat er zurück, in demselben Moment hörte er aber auch dicht neben sich einen leise tönenden ärgerlichen Laut, einem Zischen ähnlich. Er sah zurück und erkannte, wie ihm aus dem Dunkel ein paar hellglänzende, feurige Augen entgegenblitzten. Eine Schlange hatte er aus ihrem Lager aufgestört, und zeitig genug sprang er noch zurück, ehe sich der erbitterte Feind gegen ihn schnellte. Jetzt war aber auch Alles, sein Zweck, sein Hierseyn vergessen: mit der Veränderlichkeit eines Kindes wandten sich seine Gedanken dem Thiere zu, das er gereizt hatte. Jener Eifer, der in fast jedes Mannes Brust schlummert, der ihm Verfolgung und Jagd so theuer macht und das Knaben- wie Mannesalter mit wahrer Leidenschaft zum Tödten und Zerstören füllt, jene Lust an Kampf und Gefahr regte sich mächtig auf in ihm und erfüllte das junge Herz mit einem eigenen Gefühl von Trotz und Freude.
Er flog an der Seite der Schlucht hinauf, überkletterte die Parkumzäunung, an die sie grenzte, war in dem Holz, wo die jungen Schößlinge stark und kräftig emportrieben und schnitt sich dort mit rascher, vor Eifer noch zitternder Hand einen Stecken. Den Abhang wieder hinunterspringen, in die Höhlung zurückkriechen und sich dort nach jenen zornfunkelnden Augen aufs Neue umzusehen, war das Werk weniger Sekunden. Die arme Schlange hatte sich aber schon in zufriedener und eingebildeter Sicherheit wieder nieder gethan; vielleicht war das Nest ihrer Jungen nicht fern und ihr ganzer Zorn war der Naturtrieb mütterlicher Liebe, die die Brut vertheidigte, gewesen. Noch hat sie Dir kein Leid gethan, Knabe, laß sie zufrieden.
Der junge Jäger hatte kein Ohr für solche Zuflüsterungen der Klugheit oder des Mitleids; in der Höhlung aber sich beengt fühlend, da er Nichts sehen, Nichts erkennen konnte, schlug er Stamm und Boden mit seinem Stab und schrie und forderte trotzig die Augen wieder heraus, ihn anzublitzen. Ob jedoch die Schlange allen ihren Zorn und Aerger in dem ersten furchtlosen Sprung verschwendet hatte, oder ob diese unerwartete Rückkehr ihres Störers sie mehr erschreckte als erzürnte, überlassen wir denen zu entscheiden, die besser mit der Naturgeschichte dieser Thiere bekannt sind. Anstatt übrigens die Herausforderung anzunehmen und zum Kampf zu eilen, glitt sie aus der Eiche vor, dicht an den Füßen ihres Feindes vorbei, erschien im hellen Lichte des Tages und schleppte ihren grauen feuchten Körper durch das Gras; nur ihr Zischen verrieth sie. Gabriel sprang durch die Oeffnung und schlug nach der Feigen, den Schlag mit einem höhnischen Lachen begleitend. Plötzlich hielt sie – ihr Kopf hob sich – ihre Kehle schwoll an, blitzesschnell zuckte die Doppelzunge hervor, und grün wie Smaragden funkelten ihre Augen. Keine Furcht empfand Gabriel Varney – sein Arm war erhoben, doch sein Blick fest und wie bezaubert auf den Feind gerichtet. Die Bewunderung hielt ihn so – die Bewunderung des Künstlers, hätte er in dem Augenblick Stift und Buch bei der Hand gehabt, er würde die Waffe niedergeworfen und die Zeichnung aufgenommen haben, und wäre die Schlange so giftig wie die Viper von Sumatra gewesen; so aber grub sich der Anblick seinem Gedächtniß ein, um noch oft durch die wilden phantastischen Bilder seiner Hand hervorgerufen zu werden. Nur wenige Sekunden blieben ihm jedoch zu stummem Staunen, die Schlange sprang – und fiel, durch den unwillkürlichen Schlag ihres Feindes zurückgeworfen, in das Gras nieder.
Wie sie sich wand und krümmte, und wie wunderherrlich sich dabei neue und immer wieder neue Farben entwickelten – wie graziös waren die Bewegungen dieses Schwanzes – und immer noch starrte der Knabe nieder auf den besiegten Gegner, bis er seine Neugier befriedigt, seine Grausamkeit aufs Neue erwachen fühlte.
Ein Schlag – ein zweiter – ein dritter – all die Schönheit ist verschwunden – formlos – mit geronnenem Blut bedeckt der zierliche Kopf, verstümmelt und zermalmt die Biegung dieses schlanken Körpers, der in den kräftigen Windungen den sich frei und ungezwungen durch seine Reime ziehenden Gedanken des Dichters glich. Der Knabe trat die noch zuckenden Ueberreste mit wilder, fast thierischer Siegesfreude in den Staub und kehrte dann noch einmal in die Höhlung zurück, um eine letzte, schon fast hoffnungslose Durchsuchung vorzunehmen. Ha – sein Zweck war erreicht – das Gesuchte gefunden. In seiner Kampfbegier die Schlange zu finden, hatte entweder Stock oder Fuß eine in der Ecke liegende Moosschicht verschoben; der schwache Strahl, ehe er das Dunkel durchbrach, fiel auf etwas Weißes. Er sprang aus der Höhlung mit einem Brief in der Hand – las die Adresse– schob ihn in seine Brieftasche und eilte wohl so vorsichtig, aber viel schneller als er gekommen, zu seinem Vater zurück.