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In Leicester Square steht ein altes, finsteres Haus, in welchem damals die geheimnisvolle Madame Liehbur wohnte. Es war schon Nachmittag und sie saß allein in ihrem Gemache, welches durch Vorhänge gegen das Eindringen der Sonnenstrahlen geschützt war. In dem großen Zimmer war kein Zeichen von der trugvollen Kunst, welche sie übte. Ein paar Deutsche Bücher lagen auf dem Tisch neben ihr, aber sie enthielten neue Poesien, nicht veraltete Systeme. Die Schwärmerin starrte vor sich hin und schien den Gedanken zu folgen, welche bereits seit Jahren ihre sichere Richtschnur verloren hatten: ihr Kopf war ein ödes, von seinem Herrn verlassenes Haus, in dem fremdartige Geister ihren spukhaften Sitz aufgeschlagen hatten. Auch konnte man sich kein Gesicht denken, das besser zu dem Karakter paßte, welchen das seltsame Weib angenommen hatte. Die dunklen Locken theilten sich über einer Stirn, auf welcher die hervorragenden Schläfen dem Schädellehrer das Übergewicht verrathen hätten, welches die träumerische Phantasie über die ernsteren Geisteskräfte übte. Ihre Augen hatten den tiefen Ausdruck, den feurigen Glanz, welcher so sehr auf den Zuschauer wirkt, weil er von den Gedanken spricht, welche nicht dieser Alltagswelt angehören und weil er die Scheu, Ehrfurcht und Schwermuth einflößt, welche jeden ankommt, der einem Wahnsinnigen gegenüber steht. Ihre Züge waren edel, und von dem schönen Griechischen Ebenmaß, mit welchem der Maler die Sybilla malt; aber die Wangen waren eingefallen, und auf ihrer Marmorblässe trat ein einzelner brennender Fleck hervor; ihre Lippen dagegen waren noch voll und roth und zeigten durch ihre zitternde Beweglichkeit häufig die schimmernd weißen Zähne, welche zwar die Schönheit des Gesichts vollendeten, aber doch auch den schrecklichen Eindruck ihrer glühenden Augen und die geheimnisvolle Wirkung ihres plötzlichen und düsteren Lächelns erhöhten. Wenn ihr Gesicht ruhig war, so konnte man sehen, daß ihre Gesundheit zerrüttet war, und daß sie nicht lange mehr auf einer Welt zu wandeln hatte, auf der ihre Seele bereits keine Heimath mehr hatte; aber so wie sie sprach, rötheten sich die Wangen, und der schnelle, glänzende Wechsel ihrer Züge täuschte das Auge und verbarg die Verheerung des Wurmes, der an ihrem Innern nagte.
– Ja – sagte sie endlich, und zwar in einem Englisch, aus dem etwas von einem fremden Accent herausklang – ja ich bin in seiner Stadt, einige Schritte von seinem Hause, ich habe ihn gesehen, ihn gehört. Nacht für Nacht, im Regen und im Wehen der schneidenden Winde, bin ich zu seiner Wohnung gewandelt. Und ich hätte meine Stimme erheben und eine Prophezeihung erschallen lassen können, die ihn aus seinem Schlummer geweckt hätte, wie die Posaune des jüngsten Gerichtes! Aber ich erstickte den Ruf meiner Seele und schwieg. O Gott, was habe ich gesehen, gefühlt, erfahren, seit ich zuletzt ihn gesprochen habe! Aber wir werden uns wieder treffen, und ehe das Jahr seinen Kreislauf vollendet, werde ich den Kuß seiner Lippen fühlen und sterben. Sterben! Welche Ruhe, welche Wonne liegt in diesem Worte! Die brennende Last dieser schrecklichen Wissenschaft, welche ich auf mich geladen, fällt von mir; das Gedächtnis schwindet; Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist gebannt, und es folgt ein langer Schlaf mit den glänzenden Träumen eines sanften Himmels und seiner Gegenwart.
Die Thür ging auf und ein schwarzes Mädchen von ungefähr zehn Jahren in ihrer Mohrentracht, meldete die Ankunft eines neuen Besuchers. Das Gesicht der Madame Liehbur nahm auf einmal den Ausdruck kalter, gelassener Ruhe an; sie befahl den Fremden hereinzuführen und gleich darauf erschien Stainforth Radclyffe.
– Du verkennst mich und meine Kunst – sagte die Wahrsagerin – ich mische mich nicht in die Pläne und Intriguen der Weltleute; ich enthülle nur die Wahrheit.
– Pah! – sagte Radclyffe – dieses Geschwätz kann mich nicht täuschen; Sie üben Ihre Kunst für Geld, ich verlange Eine Probe davon und Sie mögen Ihren Lohn dafür verlangen. Wir wollen nach der Weise dieser Welt sprechen und die der andern den Thoren überlassen.
– Und doch – sagte sie sinnend – hast auch Du Kummer gekannt, und die, welche selbst gelitten, sollten milder von einander denken. Willst Du meine Künste erst selbst erproben, ehe Du sie für andere begehrst?
– O ja, wenn Du meinen Träumen die Todten zurückgeben kannst.
– Ich kann es – antwortete die Prophetin ernst.
Radclyffe lachte bitter. – Weg mit dem Unsinn; oder wenn Du mich überzeugen willst, so rufe die Erscheinung, die ich zu sehen wünsche.
– Und glaubst Du, eitler Mann – erwiederte die Fremde stolz – ich mache auf das Vermögen, von dem Du sprichst, Anspruch? Ich kann es allerdings, aber nicht wie die alten Betrüger, die sich an plumpe äußere Beschwörungen hielten, eine Zauberkraft, die nur sie allein übten. Ich vermag die Todten Dir vorzuführen, aber Du selbst mußt auf Dich wirken.
– Possen! Was muß ich thun?
– Willst Du drei Tage fasten, Dich drei Nächte des Schlafes enthalten und mich dann wieder besuchen?
– Nein, schöne Zauberin, eine solche Vorübung machen, hieße zuviel von einem Neophyten verlangen. Drei Tage ohne Speise, drei Nächte ohne Schlaf? Dann werden Sie mich selbst von den Todten zu wecken haben.
– Und kannst Du – sagte die Wahrsagerin mit großer Würde – und kannst Du hoffen, Du seyst einer Offenbarung aus einer höhern Welt würdig, die Riegel der Gräber würden sich aufthun und ihre fürchterlichen Schätze zeigen, und die Todten ins Leben zurückkehren, wenn Du anstehst, Dein Fleisch zu kreuzigen und die irdischen Banden zu lockern, welche Deinen Geist fesseln und bannen? Ich sage Dir, daß nur, wenn die Seele sich von ihrem Körper losmacht, der innere reine Geist erwachen und das volle Bewußtseyn des Unsichtbaren und Göttlichen auf sie herabsteigen kann.
– Und was – fragte Radclyffe, den mehr die Stimme und Erscheinung der Frau, als ihre Worte befangen machten – was würden Sie dann thun, wenn ich mich der Posse unterwerfe?
– Ich würde die nackten Nerven jener großen Kraft, welche Du die Einbildung nennst, bis zu ihrer äußersten Empfindlichkeit, selbst bis zur Qual, erwecken, jene Kraft, welche bei Träumen und Visionen herrscht, welche in den Herzen der Melodien lebt, welche die Weisen des Orientes begeisterte und im Sturm und Ungewitter zuerst die Begriffe von einem Gott erzeugte, jener Kraft, welche dem Geiste ist, was die Gottheit dem Universum – die Schöpferin Alles, was da ist. Diese Kraft würde ich aus ihrem gewöhnlichen Schlummer wecken, in dem sie mit eingezogenen Schwingen ruht, und nur durch vereinzeltes Auffahren, durch kurze Bewegungen ihr Leben verräth, und durch diese Kraft würdest Du sehen, fühlen, erkennen und bestehen. So daß es wäre, als ob der Körper nicht existirte, als ob Du schon ganz geistig, ganz Seele wärest. So würdest Du im Leben lernen, was Dir nach dem Tode bevorstehen mag, und so mag die Seele schon jetzt mit der Seele verkehren, die Vergangenheit beschwören und vorherwissend auf dem dunklen Strom der Zukunft hineilen. Ein kurzes, flüchtiges, aber theuer erkauftes Vorrecht. Sey weise, und zweifle daran, sey glücklich, und lache dazu.
Radclyffe fühlte sich wider Willen durch die feierliche Neuheit dieser Sprache und die tiefe Schwermuth ergriffen, mit welcher die Prophetin diese Worte fallen ließ.
– Und wie – sagte er nach einer Pause – wie und durch welche Kunst werden Sie dann die Einbildungskraft wecken?
– Frage nicht, ehe die Zeit zur Prüfung gekommen ist.
– Aber können Sie sie in jedermann wecken? Bei dem Stumpfsinnigen, Materiellen – so gut als bei dem Geistvollen, dem Enthusiasten?
– Nein! Aber der Stumpfsinnige, Materielle wird auch die Probe nicht bestehen. Wenige außer denen, welchen das Schicksal große Rollen in dem Drama des Lebens zutheilt, kommen je zu dem Punkte, wo ich ihnen die Zukunft lehren kann.
– Meinen Sie damit, daß sich Ihre Hauptanhänger unter den Großen befinden? Verzeihen Sie mir, aber ich glaubte, die Abergläubischen fänden sich fast immer unter den Unwissenden, den Menschen von niederer Geburt.
– Ja; sie befragen aber nur den, der ihrer Leichtgläubigkeit imponirt, ohne, wie ich, strenge Opfer an Zeit und Genüssen zu verlangen. – Die Kühnen, Entschlossenen, deren Geist auf große Dinge, und stolze Träume gerichtet ist, das sind Männer, welche die Reize des Augenblicks verschmähen, welche begierig sind, die ferne Zukunft zu durchschauen, welche wissen, wie sehr ihre Laufbahn, nicht durch Genie, sondern durch irgend ein seltsames Zusammentreffen von Ereignissen, oder eine geheimnisvolle Einwirkung des Geschicks geordnet wird. Die Großen sind immer glücklich und darum forschen sie am meisten nach den Beschlüssen des Glückes.
Der Einfluß, welchen der Enthusiasmus, sey er falsch oder begründet, auf uns ausübt, ist so groß, daß selbst der Scharfsinnige, feste Radclyffe, der mit der tiefsten Verachtung gegen die Wahrsagerin in das Zimmer getreten war, und sich zum Theil von dem Wunsche, die Schwäche Lord Saltreams eben so zu heilen, wie sie entstanden war, zum Theil durch die ihm eigenthümliche Forschungssucht dazu hatte verleiten lassen, zu überlegen anfing, ob er der in ihm erregten Neugierde nachgeben und sich der vorläufigen Buße unterwerfen sollte, welche die Prophetin verlangte.
Die Frau fuhr fort:
– Die Sterne, das Clima und der Mondeswechsel haben Einfluß auf uns. Und warum auch nicht! Wirken sie nicht auch auf die übrige Natur? Aber wir können ihre erhabenen und verborgenen Geheimnisse nur enthüllen, wenn wir dem schöpferischen Geiste Freiheit geben, welcher zuerst uns ihr Grundwesen gelehrt hat, und welcher, einmal von der Erde erlöst, die Macht haben wird, ihre glänzenden Gefilde zu durchschreiten. Wisse denn, daß die Einbildungskraft und die Seele nur Eins und unteilbar ist. Auf diesem Satze beruht meine ganze Lehre.
– Und welche andere Vorübungen müßte ich machen, wenn ich Ihrer Lehre folgte?
– Hast Du Dich erst verpflichtet, sie zu übernehmen, sage ich Dir mehr.
– Ich verpflichte mich.
– Willst Du es beschwören?
– Ich schwöre.
Die Wahrsagerin erhob sich – und –