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Es war den Abend vorher, ehe Godolphin Rom verließ. Als er in seine Wohnung trat, bemerkte er im Dunkeln, und in kurzer Entfernung eine in einen Mantel eingehüllte Gestalt, die ihn an Lucilla erinnerte. Ehe er sich davon überzeugen konnte, war sie verschwunden.
Als er in seinem Zimmer angekommen war, durchsuchte er eifrig die Papiere auf seinem Tisch: er schien in seiner Erwartung getäuscht zu seyn, und setzte sich verdrießlich nieder. Er hatte Tags zuvor einen langen, herzlichen Brief an Lucilla geschrieben, eine edle Auseinandersetzung seiner Gedanken und Gefühle. So weit er dies einem in ihrer Unerfahrenheit so einfachen und in ihrer Phantasie so ungeregelten Wesen gegenüber thun konnte, hatte er ihr die Art seines Kampfes und seiner Aufopferung erklärt. Er verhehlte ihr nicht, daß er vor ihrem Geständnis den Zustand seines Herzens in Beziehung zu ihr nicht untersucht, so wenig, als daß nachher ein neues, glühendes Gefühl sich in ihm entzündet habe. Er kannte die Frauen zu gut, als daß er nicht überzeugt war, die letzte Erklärung würde der süßeste Toast für ihr Herz und ihre Eitelkeit seyn.
Er theilte ihr die Versprechungen mit, welche ihre Verwandten ihm gegeben, sie nicht in ihrer Freiheit zu stören, und ihr alle die Nachsicht zu Theil werden lassen, welche ihre ungezwungene, regellose Lebensweise nöthig machte, und schloß mit den zartesten, achtungsvollsten Ausdrücken einen Wechsel auf eine Summe bei, die zu jeder Zeit sie in den Stand setzen könnte, jede Rücksicht von ihren jetzigen Vormündern zu verlangen, oder, wenn sie es wünsche (obgleich er dabei rieth, dies nur im äußersten Falle zu thun) einen andern Aufenthalt zu wählen.
»Schicken Sie mir dafür,« fügte er noch bei, »eine Locke von Ihrem Haare. Ich bedarf nichts, mich an Ihre Schönheit zu erinnern, aber ich sehne mich nach einem Pfande des Herzens, dessen Liebe mich mit so schmerzlichen Stolze füllt. Ich will es als einen Schild gegen die Ansteckung dieser Welt tragen, die ihnen so glücklich fremd geblieben ist – als das Andenken eines Wesens, das über jeden Gedanken der Selbstsucht erhaben ist – als die Versicherung, daß ich mich nicht täusche, nicht träumte, als ich in diesem egoistischen Theile der Erde doch ein so warmes, so reines Gemüth fand, wie das Ihrige. Mögen Sie, wenn wir uns wieder begegnen, einen glücklichern Freund als mich gefunden, und in seiner Zärtlichkeit jeden andern Gedanken an mich aufgegeben, und mir nur eine freundliche Erinnerung bewahrt haben. Schöne und theure Lucilla, leben Sie wohl. Habe ich mich nicht der Wollust, von Ihnen geliebt zu seyn, überlassen, so geschah dies, weil Ihre edle Hingebung in einem gegen Andere zu selbstischen Herzen, eine wahre Liebe für Sie geweckt hat.«
Mit jeder Stunde hatte Godolphin eine Antwort auf dieses Schreiben erwartet. Er erhielt keine – nicht einmal die Locke, um die er gebeten hatte. Er war mißmuthig – böse auf Lucilla – unzufrieden mit sich selbst. – Wie bitter, – sagte er – würde Saville über meine Thorheit lächeln. Ich habe auf die Seligkeit, dieses sonderbare und schöne Geschöpf zu besitzen, verzichtet. Warum? Wegen eines nichtigen, abgeschmackten Skrupels, den sie nicht einmal begreifen kann, und den, bei ihrer freundelosen, verlassenen Lage, die geziertesten ihrer sittenlosen Landsmänninnen als eine lächerliche, übertriebene Gewissenhaftigkeit verspotten würden. Und hätte ich nicht in der That, wäre ich mit ihr von hier entflohen, sie für das ganze Leben glücklicher gemacht, weit glücklicher, als sie es jetzt seyn wird? Sie würde in diesem Glücke nicht, wie ein Englisches Mädchen, die Qual der Schande empfunden haben. Hier wäre dies Band nie als eine Entwürdigung betrachtet worden, und sie, die nur das einfache Gesetz der Natur kennt, glaubt nicht einmal, daß einer es dafür halten könnte. Wird sie nicht bei ihrer Unerfahrenheit, sie, die sich immer von jedem ersten Anstoß bestimmen läßt, als das Opfer eines hinterlistigen, unedlern Liebhaber fallen? Irgend eines Menschen, der sie nicht beschützen, wie ich, sondern sie als das Spielzeug einer Stunde betrachten, und sie wegwerfen wird, sobald seine Leidenschaft gesättigt ist? Gesättigt! Oh, bitterer Gedanke, daß ein anderer sein Haupt an diese Brust legen soll, die jetzt so ganz mein ist! Was habe ich nun gethan? Ich habe mich in den falschen Schein einer hohlen Tugend gehüllt, mein eigenes Glück von mir geworfen, und ihr die Aussicht hinterlassen, für ewig elend, der Schande und dem Mangel durch einen Andern Preis gegeben zu werden!
Diese unangenehmen, reuevollen Gedanken wurden nur schwach und gelegentlich durch den Stolz bekämpft, der jeder gerechten oder edeln That folgt, und durch tausend Vermuthungen voll Besorgnis und Zorn über Lucilla's Schweigen verdrängt. Manchmal glaubte er – aber dieser Gedanke glitt schnell vorüber und wurde nie festgehalten – sie würde ihn noch vor seiner Abreise zu sprechen suchen und in dieser Hoffnung begab er sich nicht eher zur Ruhe, als bis die Nacht sich auf die Ruinen der gewaltigen, schweigenden Stadt gesenkt hatte. Dann warf er sich unangekleidet auf ein Sopha, und schlief, aber in mehren Absätzen, eine kurze Zeit.
Am nächsten Morgen verschob er seine Abreise bis auf den Mittag, immer noch in der Hoffnung, Lucilla zu sehen. Aber vergebens. Er konnte sich nicht mit dem Glauben schmeicheln, Lucilla wisse nicht genau die Zeit seiner Abreise, denn er hatte sie ihr bestimmt mitgetheilt. Manchmal nahm er sich wieder vor, selbst sie aufzusuchen; aber er kannte die Schwäche seines edlen Entschlusses zu gut, und war trotz des Schwankens im Denken, doch im Handeln tugendhaft genug, nicht einer sichern Niederlage entgegen zu gehen. Endlich warf er sich in einem Augenblicke der Verzweiflung und mit Verwirrung auf Lucilla's Unbeständigkeit und ihre Unfähigkeit, seine Großmuth zu würdigen, in den Wagen, und sagte Rom Lebewohl.
Wie einst jeder Hain, durch den der Reisende auf diesem Wege kommt, von einer Nymphe bewacht wurde, so ist er jetzt durch eine Erinnerung geheiligt. Umsonst lastet die todesschwangere Luft auf dem Gebüsch, dem Bach, und dem Gemäuer, der Geist denkt nicht an die Gefahr seiner irdischen Hülle, er fliegt zurück, und schwelgt in der Vergangenheit. Ein sprachloses Entzücken füllt und erbebt das Gemüth. Dort steigen Berge mit ihrem Schneekranze gen Himmel – auf dieser Ebene ist das Grab der Curiatier, und jener beiden unsterblichen Heroen, welche ihrem dritten Bruder den Ruhm des Sieges und die darauf folgende Schmach hinterließen – der See von Nemi, um den noch die heiligen Haine stehen, wo Diana Hippolyt in das Leben zurückrief. Poesie, Fabel und Geschichte wachen über das Land: es ist eine Grabstätte; der Tod ist überall; die Vergänglichkeit auf jedem Steine: aber die Vergangenheit sitzt am Grabe als trauernder Engel, und eine Seele athmet durch die Verwüstung und eine Stimme spricht durch die Stille. Jedes Zeitalter, das verschwunden, hat einen Geist zurückgelassen, und das schöne Land gleicht der Unterwelt, in der trotz ihrer Herrlichkeit der Mensch nicht athmen kann, aber die gefüllt ist mit seligen Phantomen und hehren Schatten.
Godolphin eilte weiter. Die Nacht brach ein, als er durch die Pontinischen Sümpfe fuhr. Hier brütet die Luft ihr tödtlichstes Gift, die Einsamkeit hat ihre Seele verloren, alles Leben, außer dem tödtlichen Wachsthum der Verwesung, scheint vernichtet; der Geist erschlafft, der Athem der Natur stockt, und auf den Trümmern der Zeit sitzt starr das Schweigen in den Armen des Todes.
Er kam in Terracina an und begab sich zur Ruhe. Sein Schlaf wurde von schrecklichen Träumen gestört: er erwachte erst spät am Mittag, matt und niedergeschlagen. Als sein Diener, der seit einigen Jahren bei ihm war, ihm beim Aufstehen half, bemerkte Godolphin auf seinem Gesicht den bei Personen seiner Klasse gewöhnlichen Ausdruck, wenn sie etwas haben, was sie gern anbringen möchten, und auf Gelegenheit dazu warten.
– Nun, Madden – sagte er – Du siehst ja diesen Morgen so wichtig aus. Was giebt es?
– Hm! Haben Sie nicht hinter uns, als wir durch den Sumpf kamen, einen Wagen bemerkt? Sie müssen ihn beim Mondlichte in einiger Entfernung gesehen haben!
– Zum Teufel, wie soll ich, wenn ich im Wagen sitze, hinter mich sehen? Ich weiß nichts vom Wagen. Was ist damit?
– Er ist mit einer Person darin, Sir, bald nach Ihnen angekommen; sie wollte sich nicht zu Bette legen und wartet im Saal auf Sie.
– Eine Person? Was für eine Person?
– Eine Dame, Sir, eine junge Dame – sagte der Diener, ein Lächeln unterdrückend.
– Gerechter Himmel – rief Godolphin – verlaß mich. Der Diener gehorchte.
Godolphin zweifelte keinen Augenblick, daß Lucilla ihm so gefolgt sey und wurde tief von diesem Beweise ihrer entschlossenen und rücksichtslosen Liebe erschüttert. Bei einem andern Weibe würde ein so kühner Schritt seinen spröden und etwas Englischen Geschmack empört haben. Aber bei Lucilla entsprang in der That alles, was bei andern unbescheiden gewesen wäre, aus der reinen und fleckenlosen Unwissenheit, welche die gefährlichste, aber auch die reizendste Züchtigkeit ist. Gänzlich abgeschieden von allem Verkehr mit Frauen, durch die wonnigen Poesien und Briefe, die sie zufällig gelesen, mehr aufgeregt, als belehrt, war der Sinn für Unziemlichkeit in ihr ein so unbestimmtes Gefühl, daß jeder Anstoß ihres wilden, leidenschaftlichen Karakters es verwischte, mit fortriß. Unbekannt mit dem, was die weibliche Zurückhaltung erfordert, und selbst mit der Meinung der Welt; in Liebessachen, lockern Begriffs, wie eine Italienerin, sah sie nur etwas Rühmliches darin, ihre Zärtlichkeit, ihre Hingebung einem in ihrer Phantasie so hochstehenden Manne, wie den Englischen Fremden zu widmen. Aber in diese phantastische Verehrung mischte sich, selbst unbewußt, kein einziges schlimmeres, unreineres Gefühl.
Mit schwankenden Schritten und klopfendem Herzen suchte Godolphin das Zimmer auf, in welchem er Lucilla zu finden dachte. Und dort saß sie in einem Winkel des Gemaches – das Gesicht mit dem Mantel bedeckt. Er eilte zu ihr, warf sich auf die Knie vor ihr und zog mit schüchterner Hand die Hülle von ihrem Gesicht, und trotz Thränen, Blässe und Erschütterung, war sein Herz doch von dem sanften und liebenden Ausdruck gerührt.
– Wirst Du mir verzeihen – rief sie? – Es war Dein eigener Brief, der mich hieher führte. Verlaß mich jetzt, wenn Du kannst.
– Nein, nein – rief Godolphin, sie an seine Brust pressend – das Schicksal will es, und ich widersetze mich nicht länger. Ich will Dich lieben, Dir folgen, so lange ich lebe. Ich will Dir Alles seyn, was menschliche Banden bieten können – Vater, Bruder, Geliebter – Alles – nur – er schwieg. Sein Gewissen sprach: »nur nicht Gatte,« aber seine Stimme schwieg.
– Ich darf mit Dir gehen? – rief Lucilla außer sich. Das war ihr einziger Gedanke.
So wie, wenn der Gedanke an Flucht den Wahnsinnigen einfällt, der Wahnsinn zurückzutreten scheint, und Muth, Klugheit, Vorsicht, Erfindungskraft (Fähigkeiten, welche sie in bessern Tagen nicht kannten), in ihnen wie durch Eingebung aufblitzen, so schien auch der Gedanke, Godolphin wieder zu finden, wie ein neuer Geist in die träumerische Lucilla gefahren zu seyn. Mehr als je, seit seinem Geständnisse von Liebe entflammt, aufgeregt durch seinen Brief, hatte sie den kühnen Schritt beschlossen, den sie auch ausführte. Unweit des Thores von St. Sebastian wohnte ein Vetturino. Ihn hatte sie aufgesucht, und er versprach ihr beim Anblick des Geldes, das ihr Godolphin schickte, sie in jeder beliebigen Richtung nach Neapel zu führen, und sogar mit dem schnelleren Wagen Godolphins Schritt zu halten. Am Morgen seiner Abreise hatte sie die Wohnung Godolphins nicht aus den Augen verloren, und einige Minuten, nach dem er fortgefahren, fuhr auch sie, zitternd aber entzückt, auf derselben Straße dahin. Die Italiener sind gewöhnlich gutmüthig, besonders wenn sie dafür bezahlt werden, und artig gegen Frauen, besonders wenn sie den Einfluß einer tüchtigen Liebe ahnen. Die Vorsicht des Vetturinos ergänzte ihren Mangel an Erfahrung; er hatte sie an die Nothwendigkeit erinnert, sich einen Paß zu verschaffen und versprochen alle anderen Schwierigkeiten auf sich zu nehmen. Und so war jetzt Lucilla unter demselben Dache mit ihn, dem sie Opfer brachte, von denen sie keine Ahnung hatte, und den sie trotz Allem, was später ihre Bande trübte und auflöste, bis zuletzt so heiß und innig liebte, wie im Anfang, mit einer Liebe, welche über das Gefühl des Weibes hinausging, und dem gewöhnlichen Gebete der Zeit trotzte.
Auf die blauen Wogen, welche mit tiefem Klange sich an den Festen jenes herrlichen Ufers brachen, von welchem der Berg, der hinter Terracina sich erhebt, den Duft der Orangen und der Citronen zu den Wolken trägt, auf diesen dunklen See warfen die Sterne, wie die Hoffnung einer bessern Welt auf die Nacht und Mühen des Lebens – ihr feierliches, und doch sanftes Licht. An diesem Ufer stand Lucilla und er – der fremde Wanderer, dem sie ihren Frieden und ihre irdischen Hoffnungen anvertraut hatte. Auf ihren Wangen glühte die erste Purpurröthe der Liebe, welche ihr Ziel erreicht hat, jene süße, ruhige Fülle der Zufriedenheit, der himmlischen, Alles besiegenden und doch erliegenden Lust, mit welcher das Herz im Übermaß seines eigenen Entzückens entschlummert. In solchen Augenblicken wollüstiger Ruhe fühlt man nicht die Sorge, die Ahnung des Wechsels, das düstere, unbestimmte Trauern der Leidenschaften. Wie das Wasser, welches vor ihr hinströmte, tief und beredt, war jedes Gefühl in ihr nur der Spiegel eines klaren, wolkenlosen Himmels. Den Kopf leicht gegen die Brust ihres jungen Geliebten gelehnt, fühlte sie das Schlagen seines Herzens, und hörte darin die Stimme dessen, was ihr jetzt die Welt war.
Und still und verschwiegen senkte sich um sie die geheimnisvolle, liebliche Nacht herab. Wie wunderbar war dies Gefühl und Bewußtseyn der Einsamkeit! Wie schlossen sie, als es sie durchbebte, sich enger an einander an! Noch umschwebte sie die wonnige, sehnsüchtige Zeit, wo die Berührung ihrer Hände allein ihnen ein Glück gewährte, das Worte nicht ermessen können. Und so oft sein Auge das ihrige suchte, schimmerten Thränen hervor, welche die Empfindsamkeit ihres Wesens, das Glück ihres überströmenden Herzens hervorrief, und die sogleich fortgeküßt wurden. – Blick nicht zum Himmel auf, mein Leben – flüsterte Godolphin – damit Du an keine andere Welt denkst, als an diese.
Arme Lucilla! Wird irgend jemand, der müßig über diese Seite blickt, einen Augenblick an dem Quell Deiner kurzen Freuden und an Deinen bittern Sorgen Theil nehmen? Die Seite, in welcher ich, Deiner erwähnend, gern Dein Andenken der Vergessenheit entreißen möchte, diese Seite ist Dein Bild: ein kurzes Daseyn, vermischt mit der Menge, der es nicht gleicht, und dann, im Sturm und Lärm der Welt, vergessen, und auf immer dahin geworfen.