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Den einen Winter wollen wir die Jünglinge einmal in der Woche bei uns versammeln. Wir wollen mit ihnen singen, dann wird sich mein Mann mit ihnen beschäftigen, sie werden mit uns Tee trinken, wir wollen ihnen auch im Deutschen nachhelfen, damit sie deutschen Verordnungen gegenüber selbständig werden. Obgleich mein Mann den Beschluß bekannt gemacht hat, meint er doch, ich möge lieber noch einmal in die verschiedenen Höfe gehen und erinnern, daß wir die jungen Leute heute abend erwarten. Ich komme zuletzt zu sehr netten, freundlichen Leuten, und frage, ob Niels heute abend kommen kann. Die Frau sitzt am Spinnrad, der Bauer hat seinen Platz am Fenster, er strickt an einem langen, blauen Strumpf. Sie haben nichts gegen unsere Einladung: warum nicht, die jungen Leute haben aus der Konfirmandenstunde wohl schon viel wieder vergessen, und etwas deutsch lernen? ja, sie haben auch dagegen nichts einzuwenden.
Der Bauer sagt: »Er kann bald kommen. Das Häckselschneiden will ich heute für ihn tun.«
Die jungen Leute kommen. Viele sind's nicht. Vier, – die sind da, aber zu meinem Staunen fehlt gerade Niels. – Der Vater hatte doch so bestimmt zugesagt.
Am nächsten Vormittag sitze ich mit einer Flickerei in der Stube. Es klopft, und der Schuster tritt ein. Heute ist er Leichenbitter. In monotonem Ton leiert er her: »Karen Nörby, Witwe von Jens Nörby, läßt grüßen und sagen, daß ihr Mann: Jens Nörby, gestern mit Tode abgegangen ist. Sie möchten ihr die Ehre erweisen und Donnerstag zehn Uhr zum Begräbnis und später zum Essen kommen.«
»Nörby?!« sage ich, »welcher Nörby denn? Gestern abend war ich doch bei einem.«
»Der ist's.«
Ich sprang erschrocken auf und rief: »Nicht möglich!«
»Bei Gott ist kein Ding unmöglich. Er wollte für Niels Häcksel schneiden,« ich nickte lebhaft, »da hat er auf dem Boden einen Fehltritt getan, ist durch die Luke gefallen und hat den Hals gebrochen.«
»Darum kam Niels nicht!«
»Eben darum nicht.«
Als mein Mann nach Hause kam, gingen wir zusammen ins Trauerhaus. Wir trafen in der geräumigen Küche die Nachbarfrauen, Stine Köksch hatte hier schon ihr Regiment angetreten. In der Wohnstube waren wieder Frauen, sie halten einen knitternden, weißen, steifen Stoff mit breiten, ausgeschlagenen Kanten zwischen sich, sie maßen mit dem Metermaß, schwatzten, tranken Kaffee, und eine nähte Maschine. Wir fragten nach der Witwe, da kam sie schon. Sie war gefaßt und ergeben. Sie wischte sich mit der Schürze die Augen und sagte: »Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen. Sein Wille geschehe.«
Wir drückten ihr teilnahmvoll die Hand.
»Kommen Sie mit,« sagte sie und führte uns an das Strohlager des Toten, das in einer Kammer auf der Diele hergerichtet war.
»Gott hat ihn vor einem langen und schweren Todeskampf bewahrt. Freilich beten wir ja jeden Sonntag: bewahr' uns vor einem plötzlichen, unbußfertigen Tod, aber mein Mann war ein gottesfürchtiger Mann, ich kann wohl hoffen, er war bereit.«
Auf einen Blick meines Mannes zog ich mich zurück und ging in die Küche.
Stine Köksch hatte hier die Oberleitung. Sie war eine alte dicke Frau mit einer Brille auf der breiten Nase. Als ich sie anredete, entwickelte sie ihr Programm. »Bis zum Begräbnis,« sagte sie, »haben wir alle Hände voll zu tun, wir haben Lichte zu gießen, morgen wird Bier gebraut, übermorgen gebacken, und das Kochen soll auch vorbereitet werden. Man hat seine Gedanken zusammenzunehmen.« Sie nahm aus einer hölzernen Dose eine Prise und fuhr in einförmigem Ton fort: »Dies wird eine große Leiche, viele kommen von auswärts. Fünf bis sieben Schinken werde ich kochen müssen. Fruen und der Herr Pastor kommen doch auch? Das ist recht! Ja, über fünfzig Jahre bin ich nun schon Köchin, hab' schon manchen Hochzeits- und Leichenschmaus gekocht.«
Sie läßt mich stehen und verteilt mit großer Ruhe die Ämter.
»Komm,« sagt sie zur lahmen Anna Greth, »du kannst ja nicht gut stehen, du kannst den Senf mahlen.« Sie holt eine steinerne Schüssel, die einen runden Boden hat, schüttet Senfkörner hinein, holt eine schwere eiserne Kugel, die nun von Ann' Greth auf den Knien hin- und hergerollt wird.
»Nur immer sinnig! Ganz sinnig!« mahnt Stine, »Eile hast du nicht, aber das weißt du ja. Anrühren tu' ich ihn nachher selbst.« –
Wir verabschieden uns und kommen erst zum Begräbnis wieder.
Im Saal ist die Leiche feierlich aufgebahrt. An beiden Seiten stehen Bänke für die nächsten Angehörigen, die tief verschleiert Platz genommen haben. Das übrige zahlreiche Gefolge sitzt und steht, wie sich's gerade macht.
Zu Häupten des Toten brennen zwei dicke Altarkerzen, die Witwe stiftet sie der Kirche. Sie hat vom Dorfmaler zwei Blechschilder malen lassen, die sind mit einer langen Florschleife an den Lichtern befestigt. Auf dem einen steht der Name des Toten, auf dem andern Geburts- und Sterbetag.
Pastor und Küster treten an den Sarg, letzterer stimmt ein Sterbelied an, in das die Anwesenden einfallen, dann hält der Pastor eine kurze Rede. Es wird wieder gesungen, und während des Singens nehmen alle Angehörigen Abschied von dem Toten, sie streicheln ihm Gesicht und Hände. Viele Buchsbaum- und Perlenkränze schmücken den Sarg, der jetzt geschlossen und auf den schlichten Kastenwagen getragen wird. Die Witwe setzt sich zum Fuhrmann, und die vielen Wagen folgen.
In der Kirche hält der Pastor die eigentliche Leichenrede, am Grabe wird die Leiche eingesegnet und die üblichen drei Schaufeln Erde auf den Sarg geworfen.
Das Gefolge kehrt zurück ins Trauerhaus.
In dem Saal, wo soeben die Leiche gestanden hat, ist unterdessen die große, hufeisenförmige Tafel gedeckt. Es dauert eine Weile, bis man zu Tisch geht. Die Männer sitzen unterdessen rauchend in der Wohnstube, jeder hat eine Tasse Kaffeepunsch vor sich. Die Frauen mögen sehen, wo sie bleiben, sie drücken sich in der Küche und in der Schlafstube herum, sie bekommen eine Tasse Teepunsch.
Wenn alles parat ist, kommen die »Schaffer«. Es sind die Bauern aus der Nachbarschaft, die die Bedienung übernommen haben. Sie haben große Servietten, zum Dreieck gefaltet, vor den Leib gebunden, so daß der Zipfel der Serviette gerade in der Mitte sitzt. Sie fordern jeden Gast einzeln auf, Platz zu nehmen. Männer und Frauen streng geschieden. Der Pastor und seine Frau sitzen in der Mitte obenan, ihnen gegenüber hat der Küster seinen Platz. Bei den Männern geht das Setzen verhältnismäßig schnell, anders bei den Frauen. Der Schaffer fordert auf, die Gebetene ziert sich: »Ach, ich komm' doch noch lange nicht an die Reihe!«
Der Schaffer hat große Geduld, er redet lange auf sie ein, endlich faßt er sie an und zerrt sie ein Stück vorwärts, schon unterwegs, macht sie noch immer Einwendungen, und der, der dem Spiel zusieht, atmet auf, wenn wieder eine sitzt.
Wenn endlich alle beisammen sind, heißt der Küster im Namen der Witwe die Gäste willkommen, und nun kommen die Schaffer mit den großen Suppenterrinen und den mächtigen Schinken. Die Papiermanschette am Knöchel ist mit einem schwarzen Florband umwunden. Hie und da stehen eingeschenkte Gläser mit dem selbstgebrauten Festbier und große Teller mit schönem eigengebackenen Weißbrot. – Der Küster spricht das Tischgebet. Jeder Gast hat zwei Teller vor sich, einen für die süße Graupensuppe, den andern für den Schinken. Man ißt das beides gleichzeitig. Reisbrei mit geschmolzener Butter, von dem vier aus derselben Schüssel essen, macht den Beschluß.
Zwischen jedem Gang zünden die Männer die Pfeifen an und rauchen. Das Wasser läuft in dicken Perlen von den Wänden. Eine schwere, undefinierbare Luft erfüllt den Raum. Der Geruch von Sarglack, Buchsbaum und dem verschiedenen Essen mischt sich mit dem dicken Tabaksqualm.
Als der Reisbrei verzehrt ist, stimmt der Küster an: »Nun danket alle Gott.« Der Text ist ins Dänische übersetzt, alle Gäste singen mit; er sagt das Schlußgebet, dann hält er eine kleine Rede. Zuerst dankt er der Versammlung im Namen der Witwe für die rege Teilnahme, auch für die Hilfeleistung bei den Vorbereitungen zum Begräbnis.
Jetzt macht er eine Pause, und nun dankt er im Namen der Gäste für die gute Bewirtung, erwähnt noch einmal, was für ein braver Mann heute zur Ruhe gebracht worden ist, und dankt der Witwe für alle Treue, die sie dem Verstorbenen während der Ehe bewiesen hat. Schließlich bittet er alle Anwesenden, sich zu Kaffee und Abendbrot vollzählig wieder hier einzufinden.
Am nächsten Vormittag komme ich in die Studierstube.
»Nun?« sagt mein Mann, »geht es dir denn jetzt besser? Was machst du doch für Geschichten! Das war ja eine böse Nacht.«
»Hast du Zeit?« sage ich, »ich möchte gern allerlei mit dir besprechen.«
»Ja, ich habe Zeit.« Er setzt sich zu mir aufs Sofa.
»Ich möchte dich fragen,« sage ich mit unsicherer Stimme, »ob ich diese Festlichkeiten durchaus mitmachen muß? Du machst es jedesmal mit mir durch, wie es mir danach geht. Es ist doch eine große Unwahrheit, daß ich mich bedanke für eine Sache, der ich mit Angst entgegensehe, und durch die ich hinterher so leiden muß. Ich bin durch die Trauer an sich seelisch sehr erregt, und dann das Trauermahl! Wenn ich nur einem Menschen damit nützte! Warum muß das sein! Ich sitze da obenan, nicht weil man mich liebt oder schätzt, nur weil es Sitte ist! Jemand von sonstwoher sitzt neben mir, ich quäle mich mit der Unterhaltung. Die Nächstbeteiligten bekomme ich nicht zu sehen. Heißt es denn nicht hier erst recht, meine Kraft an einen verkehrten Fleck legen? Sag' mir endlich, daß ich nicht mehr zu diesen Festen zu gehen brauche!«
Mein Mann schweigt eine Weile, dann sagt er: »Es ist mir doch nicht einerlei, wie du in der Gemeinde beurteilt wirst! Natürlich legen sie es dir als Hochmut und Stolz aus, oder sie meinen, was sie dir bieten, sei dir nicht gut genug.«
»Du weißt, daß ich jeden Tag Graupensuppe essen könnte, aber nur nicht unter diesen Umständen! Und zum Dekorationsstück eigne ich mich doch wirklich nicht! Ach, alle diese Zeremonien! Darf ich sie nicht durchbrechen? Wie verknöchert und unnatürlich kommt mir alles vor. Schon der Leichenbitter! Ich hätte gemeint, er müsse von dem plötzlichen Unglück erschüttert sein, aber er singt seinen Satz her. Man glaubt doch, daß alles Gefühl untergeht in der Zeremonie!«
»Ich kann dich ja nicht zwingen. Daß du krank wirst, sehe ich ja, also bleibe fort! Aber ich möchte doch manches in ein anderes Licht rücken.
Diese Sitten und Satzungen erben sie wie ihre Höfe, sie fühlen sich wohl in diesen anererbten Formen, sie sind ihr Recht. Dir kommt es vor, als verlören sie dadurch alles natürliche Gefühl, als wäre der eine wie der andere. So ist es doch nicht! Ich meine auch, du bist nun schon lange genug hier, um zu sehen, daß in diese scheinbaren Einförmigkeit doch eine interessante Mannigfaltigkeit zu finden ist. Um das herauszufinden, muß man sich freilich mit ihnen allein beschäftigen. Du kannst doch nicht sagen, der oder jener repräsentiert den Geist der Gemeinde. Sie sind doch Individuen! Denk' an Christiane, an den Schuster, an Jeß Lind und wie sie nun alle heißen. Ich sagte dir neulich, du könntest Besseres von den Bauerfrauen lernen, als Spinnen und Buttern und dergleichen. Nachmachen in ihren äußeren Formen sollst du sie nicht, aber sieh mal, welche Selbstbeherrschung sie haben. Du wirst so leicht keine verzweifelte Bauerfrau finden!
Sie ergibt sich demütig und fromm in ihr Schicksal. Welche Selbstzucht! Das Herz mag ihr noch so weh tun, sie geht sofort an ihre Arbeit, an das, was sie als ihre Pflicht ansieht. Das ist doch Heldentum, und da habe Anerkennung, da kann jeder von ihr lernen! Denk', wenn dich so ein Unglück träfe, könntest du dich gleich so zusammenraffen und für all diese Leute sorgen? Sie hätte für ihren Schmerz wohl lieber Ruhe gehabt, aber kein müßiges Jammern haben wir von ihr gehört.«
»Ach,« sagte ich, »was mich bei diesem Fall am meisten quält, das habe ich dir noch gar nicht gesagt.«
»Nun?«
»Ich kann gar nicht zur Ruhe kommen, ist mir doch, als hätte ich den Mann gemordet.«
Als mein Mann schwieg, fuhr ich zögernd fort: »Ich sage mir immer, wär' ich nicht gekommen, – dann – ?«
»Du meinst, dann wäre er nicht aus der Luke gefallen.«
Ich nickte.
»Das glaubst du hoffentlich nicht! – Der, bei dem kein Sperling ohne seinen Willen vom Dache fällt, der sollte bei einem so tiefgreifenden Ereignis den blinden Zufall walten lassen?«