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Nachdem mein Verlobter ein Jahr auf dem dänischen Seminar in Hadersleben gewesen war, kam er während einiger Monate als Adjunkt in das Pastorat nach Koppeln, um da den erkrankten Pastor zu vertreten.
Ich hatte in gewohnter Weise weiter im Krankenhause unterrichtet. Da sagte Frau Doktor eines Tages: »Ich habe über deine Zukunft nachgedacht. Mir scheint es wünschenswert, daß du vor deiner Verheiratung das Leben in einem Pastorat kennen lernst. Du bist durch den Aufenthalt in England und bei uns doch sehr verwöhnt; das könnte dir das Leben nachher erschweren. Dein Verlobter, der doch in diesen Kreisen bekannt ist, kann dir gewiß dabei einen guten Rat geben.«
Als Antwort auf meine Vorfrage schrieb mein Verlobter: »Was nun Frau Doktors Rat betrifft, Dich für eine Weile in ein Pastorat zu schicken, so kann ich nur sagen, ich nehme diesen Vorschlag mit Dank und Freude an. Ich habe hier gleich die Frau Pastorin gefragt. Daß man Dich hier aufnehmen würde, wagte ich nicht zu hoffen, aber zu meiner großen Freude kam mir nach einigem Überlegen die Frau Pastorin mit dem Vorschlag entgegen, Du könntest hierher kommen, wenn Du wolltest, sie wolle Dich von Herzen willkommen heißen und Dich ihren eigenen Töchtern gleichstellen. Darüber bin ich sehr glücklich, denn ich könnte mir nichts denken, was so vorbildlich auf Dich wirken könnte, wie gerade dieses Pastorat. Du wirst außer echt pastörlicher Einfachheit und häuslichem Fleiß ein sehr geistig angeregtes Haus kennen lernen. Gewiß, der Pastor ist krank; das gibt dem Leben einen ernsten Hintergrund, aber gerade daran kannst Du lernen, wie suchende Christen ihr Leid tragen. Du hörst kein Murren und Klagen, mit Ergebung und Geduld nehmen alle das schwere Schicksal auf sich. Ich nenne es schwer, weil leider keine Aussicht auf Besserung ist. Das Leiden kann sich jahrelang hinziehen. Der Kranke hat durch einen Schlaganfall ein Gehirnleiden; er ist nicht bettlägerig, macht keinen Anspruch an besondere körperliche Pflege, er geht wie ein freundlicher, guter Hausgeist umher. Bei der Frau Pastorin und ihren beiden Töchtern findest Du Interesse für alles Schöne und Gute und eingebendes Verständnis für alles, was Menschenwohl und -wehe angeht. Du hast doch, da Du Dich soviel mit Pädagogik beschäftigt hast, sicher auch von dem Pädagogen Karl von Raumer gehört! Du weißt wohl, daß er eine umfangreiche »Geschichte der Pädagogik« geschrieben hat. Er war aber auch auf dem Gebiet der Naturwissenschaft, das muß Dich ja besonders interessieren, zumal in der Mineralogie, sehr beschlagen. Nun denke Dir nur! Die Frau Pastorin ist eine Tochter von Karl von Raumer. Du kannst Dir denken, wieviel Interesse man hier für Erziehung hat. Der Pastorenberuf ist ja doch auch Erzieherberuf im höchsten Sinne. – Hier wirst du auch viel gute und schöne Musik hören, sowohl die Frau Pastorin wie die Töchter, singen und spielen sehr schön. Durch den häufigen Besuch der benachbarten Pastoren kommt auch von außen allerlei anregendes Leben ins Haus. –
»Du fährst von der Kieler Landungsbrücke mit dem Dampfschiff direkt hierher. Das Städtchen mit der alten, großen Kuppelkirche steigt terrassenförmig am Ufer der Schlei empor. In unmittelbarer Nähe breiten sich herrliche Laubwälder aus. Vom Pastorat aus siehst Du die Insel Masholm mit der freistehenden Windmühle; ein schöner Anblick, wenn die untergehende Sonne das friedliche Bild verklärt.
»Ich reise in einigen Tagen nach Handewitt bei Flensburg, wo ich wieder einen erkrankten Pastor zu vertreten habe. Wenn Du sehr bald kommst, kann ich Dich vom Schiff holen und Dich hier einführen, nötig ist das letztere aber nicht, Du wirst Dich auch ohne mich bald heimisch fühlen.«
Ich reiste nach Kappeln und fand alles bestätigt, was mir mein Verlobter geschrieben hatte. –
Eines Tages erhielt ich aus Handewitt einen Brief, in dem mir mein Verlobter mitteilte, daß am nächsten Sonntag seine Ordination im Schleswiger Dom stattfinden würde.
»Du kommst doch natürlich dazu herüber, ich habe Dich schon bei meiner Schwester Marie angemeldet.«
Da saß ich an dem bezeichneten Sonntage im Schleswiger Dom, vor dem herrlich geschnitzten Altarbilde von Hans Brüggemann, und sah zum erstenmal meinen Verlobten im Talar und hörte zum erstenmal eine Predigt von ihm, glücklicherweise wurde sie in deutscher Sprache gehalten, sonst hätte ich wohl nichts davon verstanden.
Am folgenden Montag wurde ich in Kappeln zurückerwartet.
Aber es kam anders.
Ehe ich abreisen wollte, brachte ich meinen Verlobten zur Bahn.
Wir bauten Luftschlösser. Er meinte: »So weit wären wir, Pastor bin ich nun, ich möchte aber bald auch meine Frau Pastorin haben! Lernst du auch fleißig Dänisch?«
»Du sagst ja selbst, daß man in Handewitt Deutsch spricht.«
»Aber,« sagte er mahnend, »darauf verläßt du dich doch wohl nicht? Du weißt, ich bin da nur konstituiert! Mein Aufenthalt kann sich lange hinziehen, ich kann aber auch bald wegkommen. Trotzdem sehne ich mich nach einem eigenen Heim, und wenn wir auch nicht lange dableiben, wir wollen doch bald heiraten. Meinst du nicht auch?«
Ich war derselben Meinung, und wir planten, wann unsere Hochzeit sein könne.
Dann sagte er: »Heute kann ich in Gedanken all dein Tun verfolgen. In einer Stunde fährst du nach Kappeln, morgen nimmst du deine Küchenstudien auf, und wenn du hübsch fleißig bist, dann bringt dir vielleicht der Postbote einen Gruß aus Handewitt!«
Als die Kinder bei meiner Schwägerin hörten, daß ich bis zur Abfahrt des Schiffes noch ein bißchen Zeit hatte, bettelten sie: »Tante, wenn du doch noch nicht gehst, dann spiel' doch wieder so mit uns wie gestern.«
Ich ließ einen Kreis bilden, und wir sangen aus vollen Kehlen: »Wollt ihr wissen, wie der Bauer –«
Wir waren mitten im Vers, als plötzlich ein Mann in der Stube stand.
Wir schwiegen, und der Mann sagte: »Ich habe mehrmals laut geklopft, aber es hat mich niemand gehört.«
Meine Schwägerin war hereingekommen und sah den Mann erstaunt an.
»Ich habe ein Telegramm,« sagte er.
Meine Schwägerin streckte eilig, erschrocken die Hand aus, da sagte der Mann: »Sind Sie Fräulein Dietrich? Für die ist es.«
»Für mich? –!« rief ich erschrocken, nahm es und setzte mich.
Meine Schwägerin und die Kinder umringten mich mit erschrockenen Gesichtern.
»Meine Mutter kommt morgen vormittag!« sagte ich aufschluchzend.
»Deine – Mut–ter? – Morgen? –! Sie haben dir das Telegramm nachgeschickt. Was nun?«
»Nun muß ich so schnell wie möglich nach Hamburg. Habt ihr einen Fahrplan?«
Zitternd vor Aufregung irrte mein Finger auf dem Plan umher.
»Laß nur,« sagte Marie, »gib her, ich schreib dir den Zug auf. Du mußt schnell etwas essen und dann zur Bahn. Weißt du denn, wo du in Hamburg bleibst? Gehst du in ein Hotel?«
»Ins Hotel?« sagte ich zerstreut, »nein, ich versuch's bei meinen Bekannten in der Apotheke. Wenn es da nicht paßt, kann ich noch immer ins Hotel.«
Am Abend kam ich in der Apotheke an. Frau Doktor Sonder war allein. Auf ihre erstaunte Frage, woher ich so spät komme, erzählte ich ihr, was mich herführte.
»Was?–!« rief sie erregt, »dei–ne Mut–ter kommt? –! Also, wir werden sie wirklich noch wiedersehen! Ich kann mir denken, wie dir zumute ist! Ich geh' schnell und hole meinen Mann, und dir bring' ich ein paar Baldriantropfen mit, sonst schläfst du mir die ganze Nacht nicht, und du hast deine Kräfte nötig für die nächste Zeit!«
Am nächsten Morgen begleitete mich Doktor Sonder an den Hafen, hier verließ er mich. Mit größter Spannung spähte ich den Elbfluß hinunter. Mit der »Susanne Godeffroy«, so stand im Telegramm, sollte die Mutter kommen. Ungeduldig fragte ich den Brückenwärter, er sagte mir, daß die Überseer der Ebbe wegen noch draußen in Cuxhaven blieben, die Passagiere würden vom Stader Dampfer aufgenommen. –
Endlich landete der Dampfer. Alle Passagiere waren an mir vorübergegangen, die Erwartete war nicht dabei, da ging ich zitternd vor Erwartung auf das Schiff.
Ein Herr trat auf mich zu und fragte: »Sind Sie vielleicht Fräulein Dietrich? Ich bin der Kapitän von der ›Susanne‹. Ihre Mutter sitzt unten und erwartet Sie.«
Er reichte mir den Arm und ich sah, daß er sehr bewegt war. Vor der Kajütentür sagte er: »Ich werde dafür sorgen, daß dieses Wiedersehen nicht gestört wird!«
Da feierten wir dann in der kleinen, niedrigen Kajüte nach zehn Jahren das Wiedersehen.
Die nächsten Wochen wohnten wir als Godeffroys Gäste in Höfers Hotel. Nachdem wir bei Godeffroy und den nächsten Bekannten gewesen waren, gingen wir ins Museum. Hier feierte die Mutter ebenfalls ein sehr bewegtes Wiedersehen. Wie sie sich freute, als sie die Insekten und Amphibien so schön geordnet in den Glaskästen sah.
Kustos Schmeltz sagte: »Unser Chef möchte, wenn Sie sich erst ein bißchen eingelebt haben, daß Sie die Herbarien nachsähen. Wir haben mit den anderen Sachen soviel zu tun, und wir meinten –«
»Selbstverständlich!« rief die Mutter begeistert, »o, das wird ja eine Freude, wenn ich alle meine schönen Pflanzen wiedersehe, wenn ich sie nun bei Namen nennen kann! Wo sind sie, und wo kann ich arbeiten, ich freue mich so! Ich fange gleich an.«
Schmeltz lachte und sagte: »Solche Eile hat's nicht, aber wenn Sie so dahinter her sind, dann kommen Sie morgen früh, wir werden bis dahin alles bereit haben für Sie.«
»Du kommst morgen mit und hilfst?« sagte sie eifrig zu mir.
»Ich bin ja ganz heraus,« meinte ich zögernd, und als ich den enttäuschten Ausdruck auf ihrem Gesicht sah, sagte ich einlenkend: »Morgen komme ich mit, und sehe mir die Pflanzen an, aber daran arbeiten will ich nicht.«
»Das willst du nicht!« sagte sie gekränkt, »was willst du denn?«
»Am liebsten möchte ich doch an meiner Aussteuer nähen.«
»Ja,« sagte sie seufzend, »es ist alles anders, als ich's mir gedacht habe. Eine Enttäuschung nach der anderen!«
Nach einigen Tagen war die Mutter wieder im Museum, ich saß im Hotel und schrieb Briefe, da kam zu meinem großen Staunen plötzlich Frau Doktor Meyer herein.
»Charitas!« sagte sie und umarmte mich gerührt, »welch ein Wiedersehen! Wir sind gestern aus Florenz zurückgekommen, da erzählt uns Neelsen, daß du mit deiner Mutter hier bist! Wie geht es ihr denn? Wo ist sie denn? Ich möchte sie doch willkommen heißen!«
»Die ist bei ihren Pflanzen im Museum,« sagte ich trocken.
Frau Doktor lachte und sagte: »Na, nun bring mich nur schnell zu ihr, ich bin ja so gespannt!«
Nach der herzlichen Begrüßung sagte Frau Doktor: »Mein Mann und ich bitten, daß Sie, sobald Sie mögen, uns für einige Tage auf Forsteck besuchen.«
Ich hatte mir von Kappeln allerlei nachschicken lassen, unter anderem auch die »Nachfolge Christi«.
Während meine Mutter im Museum arbeitete, konnte ich mir endlich einen langgehegten Wunsch erfüllen.
Ich ließ mir ein Adreßbuch geben und suchte Pastor Meinel auf.
Eine rundliche Dame öffnete auf mein Klingeln.
»Sie kennen mich wohl nicht mehr?« sagte ich und legte das in Seidenpapier eingewickelte Buch in ihre Hände.
»Aber nur zum Ansehen!« sagte ich bittend, »denn ich hoffe, Sie schenken mir das Buch!«
Die Dame besah erstaunt das Buch, dann blickte sie mich sinnend an und sagte zögernd: »Doch – nicht?!« – –
»Es stimmt schon,« sagte ich vergnügt.
Sie öffnete die Tür zum Nebenzimmer und rief: »Lieber Mann, du kannst dir nicht denken, wer hier ist!«
Nun kam auch der würdige Herr Pastor und begrüßte mich.
Ich bat die Frau Pastorin, mich doch »du« zu nennen, sie reichte mir freundlich die Hand und sagte: »Die künftige Amtsschwester nenne ich gern ›du‹, es muß aber natürlich gegenseitig sein. Und das Buch behältst du selbstverständlich. Wie oft haben wir von dir gesprochen, wir haben einander gefragt, ob wir damals recht daran taten, dir unser Haus zu verbieten; und wie manchmal sagte ich: ›Mein kleines Buch sehe ich wohl nie wieder;‹ und nun kommst du doch!«
Ich mußte viel erzählen. Als ich von meiner Verlobung erzählte, sagte die Frau Pastorin: »Wie schön, daß dir endlich eine irdische Heimat beschert wird, aber – nicht wahr – die Heimat der Seele ist droben im Licht!«
Einige Tage nach diesem Besuch reisten wir nach Kiel.
Meiner Mutter zu Ehren gaben Doktors eine große Gesellschaft. Da waren sie alle, die ich von den offenen Abenden her kannte: Professor Esmarch mit seiner Gemahlin Henriette Prinzessin von Augustenburg, Klaus Groth, Professor Seeligs, Litzmanns, Weinholds, Fräulein Professor Meßtorf, Karstens, Ribbecks, Fräulein Hegewisch und noch viele von den Freunden des Hauses. Da saßen wir zwischen den reich geschmückten Damen, und die Mutter erzählte unbefangen und drastisch von ihrem Leben im australischen Urwald, von den Sitten der Papuas, und interessiert lauschte die glänzende Gesellschaft. Ich konnte in der darauffolgenden Nacht nicht schlafen. Was zog alles durch meine Seele! Durch der Mutter Hiersein war das Leben der Vergangenheit plötzlich in die Gegenwart gerückt, und ein buntes Durcheinander redete in stillen Nachtstunden auf mich ein.
Der Mutter mochte es gehen wie mir. Die Eindrücke erregten sie sehr, es war eine große Unruhe in ihr, ihre Wünsche zogen sie einerseits ins Museum, andererseits zu ihren früheren Beziehungen. Sie plante eine Reise nach Holland, um ihre geliebten Eshuys zu besuchen, von da wollte sie nach Sachsen. Als Hauptziel schwebte ihr aber Pompeji vor der Seele.
Bei einem Spaziergang durch den Park sagte Frau Doktor zu mir: »Ich habe deiner Mutter den Vorschlag gemacht, daß ihr von hier aus deinem Verlobten einen Besuch macht, sie muß ihn doch kennen lernen! Du weißt am besten, daß ihr deine Verlobung eine große Enttäuschung ist; sie wirft alle ihre Luftschlösser über den Haufen. Sie hatte sich vorgestellt, daß sie nun immer mit dir zusammen leben wollte. Und nun noch gar ein Pastor! Wenn es noch ein Naturforscher wäre, so klagte sie mir. – Es ist für euch beide nicht leicht! Wir müssen sie ganz gewähren lassen. Red' auch du ihr in nichts darein! Sie hat eine schwere Aufgabe glänzend gelöst. Zehn Jahre lang hat sie sich nach niemand zu richten brauchen; nun dürfen doch wir ihr keine Vorschriften machen. Kannst du dich wundern, daß sie an ihren Pflanzen hängt, daß ihr ein grünwarziger Käfer mehr Interesse abgewinnt als deine Aussteuer? Das ist in ihren Augen Trödel, Plunder! Ob sie jemals Sinn für dergleichen Bedürfnisse gehabt hat, das weiß ich nicht. Als die Verhältnisse ihr diese Dinge versagten, da half sie sich dadurch, daß sie deren Besitz verachtete. Dir haben wir Kultur anerzogen. Wie könnt ihr wohl verlangen, daß ihr bei so entgegengesetzten Richtungen, die ihr in zehn Jahren gegangen seid, einander sofort wieder versteht!? Mein Rat ist: Du gehst so bald wie möglich wieder nach Kappeln und arbeitest da in gewohnter Weise weiter. Und deine Mutter läßt du tun, was sie mag! Sie muß sich erst mal wieder an europäische Verhältnisse gewöhnen. Warum willst du es schwer nehmen, wenn sie findet, du bist eine Verschwenderin, weil du Hut und Mantel hast? Mit Schmerzen und Kummer habt ihr euch beide gewöhnt, ohne einander fertig zu werden, nun geht es wieder nicht ohne Tränen, bis ihr euch aneinander gewöhnt. Überlaß der Zeit und den Verhältnissen die richtige Einordnung, sie wird kommen und damit auch eure gegenseitige Liebe und Anerkennung.«
Schon nach einigen Wochen trat die Mutter ihre Reise nach Holland an, der sich die Reise in unsere alte Heimat anschloß.
Aus Holland schrieb sie mir unter anderem: – – »Es ist doch schade, daß Du nicht dabei warst, als ich meine lieben Eshuys in Rotterdam aufsuchte. Diese Freude und dieses Staunen hättest Du sehen sollen! Herr Eshuys sah mich lange prüfend an, ich muß mich doch sehr verändert haben, – dann streckte er mir beide Hände entgegen und sagte leise fragend: ›Frau Dietrich?! –‹ Dabei liefen ihm die Tränen über sein liebes, gutes Gesicht. Von Frau Eshuys wurde ich mit derselben Liebe aufgenommen, unsere Gespräche drehten sich viel um den verstorbenen Sohn. Der Kreis war so zusammengeschmolzen, denn die Tochter ist in Haarlem an der Schule angestellt. Ich reise zu ihr, sie sind mir alle so lieb, als gehörten sie zu mir. – –«
Der nächste Brief war aus Sachsen.
»– – Du würdest Dich wundern, wenn Du sähest, wieviel sich hier verändert hat. In Dresden suchte ich alle Apotheken auf. Sie erinnerten sich meiner noch alle. Ganz besonders bewegt war das Wiedersehen mit Herrn Richter in der Salomonisapotheke. Wie der sich freute, daß ich nicht mehr mit dem Tragkorb zu ihm kam. Mit viel Teilnahme hat er sich nach Dir erkundigt, er schickt Dir viele Grüße. Bei Tante Klärchen habe ich gewohnt. Dann fuhr ich über Nossen nach Siebenlehn, aber nicht mehr mit Stöbers Wochenwagen, sondern flott mit der Eisenbahn. Du solltest mal sehen, wie ich überall aufgenommen wurde! Über meine Schenkung australischer Vögel und einiger Gerätschaften hat sogar der Siebenlehner Anzeiger eine Notiz gebracht. Lächeln muß ich, wenn mir die Leute sagen: ›Ach, das haben wir dir doch immer gesagt: bleib du nur bei deiner Sache, du wirst dich schon durchbeißen.‹
Ich war auch bei Lehmanns in Voigtsberg. Du hattest mir erzählt, daß du in Voigtsberg soviel geweint hast, nun war ich ganz erstaunt, als ich hörte, wenn Du zu ihnen gekommen seiest, habest Du immer gesungen, deklamiert und Theater gespielt. Du habest nie den Eindruck eines unglücklichen Kindes gemacht. Nach einigem Überlegen sagte ich mir: Ja, so warst Du wohl auch, immer dem Augenblick Dich hingebend. Und wie bist Du nun? Ich muß Dich erst kennen lernen. Ich denke, welche glücklichen Augenblicke das doch waren, wenn Du mir, – barfuß, im kurzen, dürftigen Röckchen, – jubelnd um den Hals fielst, wenn ich von einer Reise zurückkam. Diesmal kamst Du zögernd, fast schüchtern zu mir. Was mir so weh tut, ist, daß Du alles Interesse für die Naturwissenschaft verloren hast. Daß Du mir nicht halfst im Museum! Ich hätte Dir bei fast jeder Pflanze eine Geschichte erzählen können, mit welchen Gefahren ich oft zu kämpfen hatte, um in ihren Besitz zu gelangen; ich hätte Dir die Landschaft schildern wollen, wo sie vorkam. Du hast jetzt so andere Gedanken. Ob die Liebe zur Natur wohl in Dir erstorben ist, oder ob sie nur schläft und einst wieder aufwacht?! – Kannst Du Dich wohl noch auf Donath besinnen? – (Ob ich das konnte! Er hatte mir doch das Gedicht: »In Myrtills zerfallener Hütte« so schön abgeschrieben!) Denke Dir, der hat mir in diesen Tagen den beifolgenden Brief geschrieben:
Reichenbach, d. 20. Juli 1873.
Geehrteste Madame Dietrich!
Vor einigen Wochen teilte mir Herr Kantor Märkel in Leuben mit, daß Sie wohlbehalten und glücklich nach Europa zurückgekehrt seien. Soeben überraschte mich nun die Nachricht, daß Sie Siebenlehn mit Ihrem Besuche beehrt haben.
Ich weiß nicht, soll ich es freudigen Schreck oder Bestürzung nennen, was mich sofort treibt, Ihnen in der augenblicklichen Verworrenheit der Gedanken, infolge dieses Ereignisses, diese Zeilen zu schreiben. Gab und gibt es doch für mich keine Gelegenheit wieder, auf Ihre, vor Jahren an mich gerichteten Briefe von Australien aus, eine Erwiderung darauf an Sie gelangen zu lassen.
Ihren ersten Brief, worin Sie mir den Vorschlag machten, doch nach Australien zu kommen, habe ich sogleich durch einen Brief beantwortet und erstaunte nicht wenig, daß Sie fast ein Jahr darauf denselben, wie Sie mir im zweiten Briefe schrieben, noch immer nicht erhalten hatten. – Es war mir damals nicht möglich, meine Eltern zu verlassen, da beide krank lagen und keins von meinen Geschwistern in der Nähe wohnte, um dieselben zu versorgen, dieselben also gänzlich hilflos hätten bleiben müssen. Bereits als ich Ihren zweiten Brief erhielt, waren meine Eltern gestorben und ich durch nichts gebunden, die Heimat für immer verlassen zu können. Ich ersuchte Sie daher in einem Schreiben, sich für mich verwenden zu wollen, mußte aber schließlich alle Hoffnung aufgeben, da auf meinen Brief keine Antwort erfolgte. – Drei Jahre später erst erfuhr ich, daß dieser Brief, bloß weniger Groschen Gewinnes wegen, unterschlagen worden war. Ich beschäftigte damals einen gewissen Schuhmacher Richter und beauftragte denselben, den Brief frankiert auf der Post abzugeben. Seit dieser Zeit waren auch Ihre beiden Briefe verschwunden. Nachdem genannter Richter gestorben, sagte mir der Gemeindevorstand, daß er ein Stück Brief von mir in Händen habe. Als nämlich der Arzt für Richtern ein Rezept habe schreiben wollen, sei kein Papier vorhanden gewesen, und man habe da von bewußtem Brief einen Streifen abgeschnitten, worauf zufällig der Schluß desselben nebst Unterschrift gestanden. Da die Richtersche Kur aus der Gemeindekasse bezahlt werden mußte, so war auch dieses Rezept an den Gemeindevorstand gekommen. Ihre Briefe hingegen hatte dieser Richter der australischen Briefmarken wegen entwendet und in Roßwein verkauft, was ich durch den Käufer herausbekommen habe, indem ich mir in Roßwein eine solche Sammlung ansah, die Marken aber sofort erkannte und für mich wieder erwarb.
Niemals wird eine so günstige Gelegenheit mir wieder geboten, wo ich eine meinen Neigungen entsprechende Stellung hätte bekommen können, trotzdem ich seit jener Zeit Erfahrungen gesammelt habe und mit sicherer Hand meinen Präparaten nicht nur streng wissenschaftlichen, sondern auch künstlerischen Wert zu geben weiß.
Was nützen mir alle die Anerkennungsschreiben, die ich von hochgestellten Leuten und Kennern bereits zahlreich besitze? Sind sie nicht eine Ironie für mich, wenn ich, durch Verhältnisse gezwungen, Kunstwerke, zu deren Gelingen ich das Leben geopfert hätte, für Spottpreise an Nichtkenner ablassen muß!
Bitte zu verzeihen, daß ich so weitläufig ausschweifte und Sie mit dem Grollen über mein verpfuschtes Schicksal langweile. Genehmigen Sie meine aufrichtigste Verehrung für Ihre so wertvollen Leistungen für die Wissenschaft, als auch für Ihren persönlichen Mut, und gestatten Sie mir das Glück, Sie zu sehen und zu sprechen, falls Sie noch einige Tage in der Nähe zu bleiben gedenken.
Hochachtungsvoll und ergebenst
F. W. Donath, Konservator.