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Donath aus Reichenbach kam. Der Vater hatte eine lange Unterredung mit ihm, er riet ihm nochmals ernstlich zu, bei der Strumpfwirkerei zu bleiben, aber der kleine, stille, bescheidene Mann zeigte nach dieser Seite einen so festen Willen, daß der Vater sich endlich darauf einließ, ihn ein paarmal in der Woche anzulernen im Sammeln und Konservieren von Pflanzen und Insekten. Donath lernte Raupen ausstopfen, Schmetterlinge spannen und Pflanzen einlegen. Zu Hause übte er, was ihm gezeigt war, und ich hörte den Vater zur Mutter sagen, daß Donath viel Geschick und Ausdauer zeige. Für mich selbst hatte sein Kommen nur die eine Bedeutung: solange der Vater mit ihm beschäftigt war, fühlte ich für meine eignen Arbeiten mehr Freiheit.
Aber etwas anderes tauchte auf, was mich auf lange Zeit hinaus durchaus in Anspruch nahm. – Nendel-Ernestine, meine sonst so stille Freundin, kam eines Tages auf dem Marktplatz ganz aufgeregt zu mir und sagte hastig: »Komm nur schnell mit nach dem Schützenhaus, es sind Komödianten angekommen!«
Komödianten?! Ich hatte noch keine gesehen und lief neugierig mit. Auf dem Schützenhof standen bei hochbepackten Wagen fremdartig aussehende Männer, die eifrig mit dem Abladen der Sachen beschäftigt waren. Freilich, das war interessant! Noch viel interessanter war aber das Kind, das jetzt aus der Türe trat, ein Mädchen in unserm Alter. Sie hatte ein hellblaues Kleid an, und um ihren nackten Hals lag eine Kette von großen, buntschillernden Perlen. In den hoch erhobenen Händen hielt sie ein gebogenes spanisches Rohr, aber jetzt senkte sie es und sprang anmutig und leichtfüßig hindurch. Bewundernd hingen meine Blicke an ihr, wie sie sich mit tänzelnden Schritten, immer durch das Rohr springend, uns näherte. Wie die langen, blonden Locken flogen! Jetzt stand sie still und sprach mit den Männern. Sie redete den einen mit »Papa« an. Wir beobachteten sie ehrfurchtsvoll und scheu, sie war gar nicht stolz, kam auf uns zu und fragte freundlich: »Könnt ihr auch so durch ein spanisches Rohr springen?«
Nein, so etwas konnten wir nicht! Wir fühlten uns sehr geehrt durch ihr leutseliges Wesen, und ich wünschte sehnlichst, die Unterhaltung möge weitergesponnen werden, ich fühlte mich aber dem gewandten Kinde gegenüber linkisch und verlegen. Da trat sie zu mir und sagte aufmunternd: »Es geht furchtbar leicht. Komm, versuch' doch mal!« And wieder hüpfte sie durch das Rohr, und dann reichte sie es mir. Wie konnte ich wohl! Ich war barfuß und hatte nur ein dürftiges Röckchen an; all die flotte Kleidung gehörte doch mit dazu, die gab ja den Mut und die Sicherheit. Ich schritt schwerfällig hindurch und gab beschämt das Rohr zurück.
»Woher hast du es?« fragte ich schüchtern.
»Ach,« sagte sie, »so ein dünnes Rohr bekommst du für einen Dreier bei jedem Krämer.«
Und wieder tänzelte sie vor uns her.
Ich faßte mir ein Herz und fragte: »Wie heißt du?«
»Rosa. Rosalie Lagoni.«
Ich konnte mich nicht satt sehen. Ich dichtete ihr in aller Geschwindigkeit alle guten Eigenschaften an, von denen ich wußte, und als wir endlich nach Hause mußten war mein einziger Gedanke: Rosa Lagoni!
»Mutter,« sagte ich erregt, »könntest du mir nicht einen Dreier schenken?«
»Wozu denn?«
»Ich möchte mir so gern ein spanisches Rohr kaufen.«
»Ein – was?!«
»Ein spanisches Rohr.«
»Aber wozu denn das in aller Welt?«
»Ach, ich will durchspringen. Ich will mich üben.«
Und nun erzählte ich ohne Aufhören, was wir auf dem Schützenhof erlebt hatten.
»Immer wieder kommt der Leichtsinn bei dir durch!« sagte die Mutter, »nimm dir doch beim Futtersuchen eine Weidengerte mit, da kannst du grade so gut durchspringen wie durch ein spanisches Rohr. Du mußt immer mit Geld herumwerfen!«
Ich ging aufgeregt zu Bett, und in meinen Träumen sah ich einen blau gekleideten, blondlockigen Engel durch ein Rosengewinde fliegen.
Wir hatten aus dem Haushalt der Großeltern einen mächtig großen, roten Regenschirm aus Kattun, der mir zur Sommerzeit viel Spaß machte. Ein derber Messingring, der an einem langen Bande hing, hielt ihn zusammen. Sein Gestell bestand aus dicken Fischbeinstäben. Ich hatte die Mutter gebeten, ihn mir zu schenken, und wenn ich Raupenfutter suchte, nahm ich ihn gern mit. Einige Tage nach meiner Bekanntschaft mit Rosa, saß ich auf einer Wiese unter dem Schirm. Die Sonne schien, und ich freute mich über den rosigen Schein, der mich umgab.
Da sagte eine muntere Stimm«: »Ach, hast du das aber gut. Was für ein schöner, roter Schirm! Der ist ja wie ein Karussell! Hab' ich dich nicht neulich abend gesehen, als wir eben angekommen waren?«
Ich stand ehrerbietig vor Rosa und sagte bittend: »Magst du dich nicht ein bißchen darunter setzen?«
»Ach,« sagte sie seufzend, »ich habe es nicht so gut wie du, ich soll nach Nossen gehen. Weißt du den Weg dahin?«
»Nach Nossen?« sagte ich selbstbewußt. »Ha, dahin finde ich den Weg im Schlaf, es geht ja immer gradeaus.«
»Ja,« sagte Rosa, »das hat man mir schon gesagt, aber ich gehe nicht gern so weite Wege ganz allein.«
»Da muß ich ganz andre Wege allein gehen, und ich bin nie bange.«
»Als ob ich bange wäre! Aber sehr weite Wege brauche ich gar nicht zu gehen. Wenn es weit fort geht, dann fahre ich, wir haben doch eignes Fuhrwerk! Also darum ist's nicht, aber ich langweile mich, wenn ich allein gehe. Komm, geh mit. Bitte, geh mit!«
»Ich kann nicht, ich soll Raupenfutter holen.«
»Was? – Rau–pen–futter? Das eklige Gewürm wird auch noch gefüttert? Das hat aber doch keine Eile, mögen die Raupen mal warten bis morgen. Die verhungern nicht so bald. Komm, ich mag so gern sprechen unterwegs. Du nicht?«
»O doch! Wenn ich jemanden unterwegs treffe, gehe ich gern mit und erzähle oder laß mir erzählen. Wenn ich aber niemanden habe, dann denk' ich mir jemanden aus, der neben mir geht, und mit dem spreche ich den ganzen Weg entlang. Ich spreche laut und bin dann zwei Menschen.«
»Wer ist denn der andere?«
»Meist meine Mutter, aber oft auch eine Freundin, gewöhnlich die Nendel-Ernestine.«
»Was sprecht ihr denn?«
»Ach, sehr viel. Wenn ich mit meiner Freundin gehe, erzähl' ich ihr, was ich vorhabe.«
»Was hast du denn vor?«
»In letzter Zeit erzählt' ich ihr, daß ich mir einen Garten herrichten will.«
»Ach, das erzähl' mal heute mir! Komm! Wenn ich auch nicht die Nendel-Ernestine bin, so können wir uns doch auch unterhalten. Ich bin doch immer noch mehr als eine ausgedachte Freundin.«
»Dann muß ich erst nach Hause gehen und fragen, und ein Kleid muß ich anziehen.«
»Nein, nein, das wird zu spät. Ein Kleid brauchst du nicht. Du ziehst meinen Mantel über dein Röckchen, und dann hast du doch den schönen, großen Schirm!«
Ich sah bedenklich auf meine nackten Füße, aber Rosa sagte: »Das tut gar nichts, das tun viele.«
»Ach, ich tu's ja sonst immer, aber ich dachte, du möchtest so nicht mit mir gehen!«
»O doch! Ich geh' gern mit dir, wie du auch bist. Du erzählst mir recht viel, ich will dafür auch deine Freundin sein.«
»0, willst du wirklich! Wie gut du bist!«
Und Rosa war gut, sie legte ihre Ledertasche ins Gras und hing mir den roten Mantel um, hakte ihn zu, gab mir den Schirm, faßte meine freie Hand, und so zogen wir los. In mir erhoben sich laute Stimmen, die das harmlose Erzählen nicht recht aufkommen ließen. Freude über die neue Freundin und Angst vor dem Vater stritten miteinander. Ich mochte es nicht ausdenken, was mit mir geschah, wenn ich nicht mit dem Raupenfutter kam! Andrerseits zog Rosa so stark, daß es mir nicht möglich war, ihr ihre Bitte abzuschlagen. War es denn nicht grade das, was ich mir sehnlichst wünschte, lange, lange Zeit mit Rosa zusammen zu sein. Und sie war gar nicht stolz, sie ging mit mir, wie ich auch aussah. Unterwegs wollte ich es so gern noch einmal hören, daß ich ihre Freundin sein sollte, da sagte sie mit viel Wohlwollen: »Verlaß dich darauf! Ich bin und bleibe ewig deine beste Freundin, und ich verspreche dir, ich werde dir etwas Wunderschönes schenken, was dir viel Freude macht?«
»Wirklich? – Mir? – Was denn?«
»Ein Billett zu einer schönen Vorstellung. Ich warte, bis etwas ganz Besonderes gegeben wird.«
Ich fragte und bettelte, sie solle mir erzählen, was das sei, aber sie lachte, ja sie gab mir einen Kuß, aber sie sagte mir nichts, sie wich geschickt aus und erinnerte mich, daß ich ihr doch lieber von meinem Garten erzählen solle. Ich dachte ein wenig nach, dann sagte ich: »Nun, ich habe grade noch keinen Garten, aber ich werde wohl einen bekommen.«
»Von deinem Vater?«
»Nein, wir haben keinen Garten.«
»Von wem denn?«
»Ach, – eigentlich von niemanden.«
»Das versteh' ich nicht! Woher nimmst du ihn denn?«
»Hinter unserm Hause ist ein großes Stück Land, grade so groß wie das Haus. Auf diesen Berg schütten alle Leute ihren Kehricht und ihre Scherben hin. Da habe ich der Nendel-Ernestine gesagt, wir wollen jede eine Kartoffelhacke nehmen, alles Häßliche fort tragen und das Land umhacken und einen Garten daraus machen, wie mein Onkel in Bukarest einen hatte. Wir wollen Melonen und Wein hineinpflanzen und eine Laube ziehen, und viele schöne Blumen wollen wir haben, und ich bitte die Mutter, daß sie mir eine Gitarre kauft, dann sitze ich, wenn erst alles fertig ist, in der Laube mit der Mutter und der Nendel-Ernestine und singe ihnen schöne Lieder vor.«
»Wenn das Haus euch gehört, kann dein Vater dir auch doch gern den alten Scherbenberg schenken.«
»Aber das Haus gehört Clausens, das gehört nicht uns.«
»So,« sagte Rosa trocken, »weißt du, dann versteh' ich die Sache mit dem Garten nicht, dann erzähl' mir lieber etwas Wirkliches.«
»Das soll doch aber wirklich werden!« eiferte ich ungeduldig, »es ist doch schon alles mit Ernestine beschlossen.«
»Ja, was sagt die denn?«
»Sie sagt: ›Wenn du meinst, machen wir uns einen Garten, ich besorg' die Hacken.‹ Und siehst du, Rosa, wenn dieser Garten erst mal fertig ist, dann laden wir dich ein, Ernestine und ich. Kann er nicht schön werden?«
Wir hatten das nächste Dorf erreicht und Rosa sagte etwas wegwerfend: »Ach, weißt du, was ich verspreche, das kann ich halten, das heißt, wenn Papa und Mama es erlauben. Ein Haus haben wir nicht, wir kriegen auch nie einen Garten, aber Freibilletts haben wir, und ich verspreche dir, du kommst eher zu uns ins Theater, als ich in deinen Garten. Das ist ja – ! Na, du kriegst ebensowenig einen Garten wie wir je einen kriegen. Das denkst du dir ja alles nur so aus, und Papa würde sagen: ›Dein Garten liegt im Mond.‹«
Ich war plötzlich sehr niedergeschlagen. Rosa glaubte nicht an meinen Garten, und ich glaubte so fest daran, ich sah ihn ja ganz deutlich vor mir. Die weinbewachsene Laube stand ja in der einen Ecke, und da saß die Mutter und Ernestine, etwas niedriger als die beiden saß ich mit der Gitarre. Ich wußte schon alle Lieder, die ich singen wollte, und daraus sollte nichts werden, meinte Rosa? Kühle Schatten fielen auf meinen Weg, und ich wurde schweigsam und nachdenklich. Aber da traten wir in einen der Bauernhöfe. In der Stube trafen wir Mutter und Tochter, die uns erstaunt betrachteten.
»Was wollt denn ihr?« fragten sie.
Rosa trat näher, sie öffnete ihre Tasche und sagte mit großer Zungengewandtheit: »Bitte, sehen Sie sich doch einmal diese Sachen an, sehen Sie: Armbänder, Broschen, Uhrketten, alles aus Haaren angefertigt. Meine Mama macht diese Sachen. Sie macht auch schöne Buketts, die Sie unter Glas und Rahmen setzen können, wenn Sie etwa Haar von verstorbenen Verwandten haben.«
»O, die ist Schauspielerin, Zettelträgerin und nebenbei macht sie diese schönen Haararbeiten. Und hier ist auch ein Zettel für die nächste Vorstellung. Bitte im Schützenhaus in Siebenlehn. Erster Platz 5 Neugroschen, zweiter Platz 2 1/2 und Galerie einen Neugroschen. Unsere Truppe bietet alles: Trauer-, Lust- und Singspiele. Erste Kräfte! Schöne Kulissen, mein Papa malt sie selbst.«
»So,« sagte die Bäuerin kalt und machte eine abwehrende Handbewegung: »Laß nur dein vieles Reden sein! Man kriegt ja Kopfschmerzen. Das rappelt die nun jeden Tag her,« sagte sie verdrossen zur Tochter. »Wir brauchen nichts, und in die alberne Komödie gehn wir auch nicht. Geht nur!«
Wir gingen, und nun war auch Rosa still und nachdenklich. Das tat mir doch leid, und ich suchte sie zu trösten. Ihr hübscher Mund zog sich herb zusammen, und sie sagte scharf: »Ach, die verstehen nichts von Kunst! Papa sagt das immer.«
Ich lebte mit Rosa in einer ganz andern Welt. Sie brauchte so viele Ausdrücke, von deren Bedeutung ich keine Ahnung hatte. Was waren Kulissen? Theater? – Komödie?
Wir waren in Nossen und gingen hinunter an die Mulde, hier kehrten wir in der Mittelmühle ein. Die Tochter, ein hübsches, gut gekleidetes Mädchen, ließ uns in die Stube. Es ging uns hier viel besser als auf dem Dorfe. Das junge Mädchen rief die Mutter her. bei, und ich hörte, daß die Tochter Lina hieß. Die Blicke der beiden ruhten mit Wohlgefallen auf Rosa, und als die wieder ihre gewandte Rede hielt, lachten sie belustigt und fragten allerlei. Sie sahen sich die Haararbeiten an und drückten lebhaftes Staunen aus, wie man nur so etwas machen könne. Ihr Blick fiel ab und zu auch auf mich und auf meinen roten Regenschirm. Sie waren längst nicht so freundlich zu mir, wie zu Rosa, und ich hatte plötzlich das Gefühl, daß ich ihnen zu schlecht gekleidet war, und nun sah ich mich mit ihren Augen und schämte mich. Aber ich durfte mit von dem Schinkenbrot essen und aus Rosas Becher die kühle Milch trinken. Wir gingen auf dem Rückweg noch in verschiedene Häuser. Manche bestellten eine Kleinigkeit, fast alle aber lasen mit Interesse den Zettel, den Rosa überall abgab. Wie sie reden konnte! Und wieviel wußte sie, wovon ich keine Ahnung hatte. Es war doch großartig, trotz einiger kleiner Täuschungen und Unverständlichkeiten, daß das schöne, kluge Mädchen meine Freundin war. Vor dem Forsthof gab ich ihr das Mäntelchen zurück. Mir war, als ob ich mit der schützenden Hülle eine Art Halt verloren hätte. Ich hatte große Angst, als ich mit leeren Händen die Stube betrat.
»Sag' mal, wo in aller Welt bist denn du den ganzen Nachmittag gewesen?« fragte die Mutter streng.
»Ach,« sagte ich etwas verlegen, »ich bin mit meiner Freundin in Nossen gewesen.«
»In Nossen?« fragte die Mutter und sah mich durchdringend an, »wie kommst du denn darauf, so ohne Grund nach Nossen zu gehen, wo es hier doch soviel zu tun gibt? – Nun?«
»Ich war mit meiner Freundin da.«
»N–ein!« sagte ich mit abweisender Handgebärde, »doch mit der neuen Freundin, mit Rosa Lagoni! Du weißt, ich hab' dir doch von ihr erzählt. Sie ist so klug und so schön! Du solltest sie nur mal sehen.«
»Na, – sachte, sachte! Man vergißt nicht seine alten Freundinnen um einer neuen willen.«
Nun drehte der Vater sich um und sah auf meine leeren Hände, »Und wo bist du mit dem Raupenfutter geblieben?« fragte er streng.
»Ach,« sagte ich zögernd und verlegen, »ich dachte, die könnten mal warten bis morgen, ich bin heute so müde.«
»So? Das dachtest du? Wollen wir doch auch mal mit dir einen Tag mit Essen überschlagen. Hast du gar kein Gewissen? Hast du gar keine Unruhe darum gehabt?«
Streng wies der Vater nach der Tür und sagte zornig: »Mit deiner neuen Freundin müssen wir wohl einen Dämpfer aussetzen. Sofort versorgst du die Raupen!«
Als ich mit dem frischen Futter kam, sah ich zu meiner Beschämung, wie nur die kahlen Stengel noch in den Glashäfen waren, manche von den Raupen waren an die äußerste Spitze der Stengel gekrochen, sie hielten sich balancierend nur mit den hinteren Beinchen fest, den Oberkörper reckten sie haltlos suchend in die leere Luft. Sie hungerten, und ich war schuld. Mein Gewissen war hell wach, und ich gelobte mir reuevoll, sie sollten nie wieder haltlos nach Nahrung suchen.
Bald nach unserer gemeinsamen Wanderung kam Rosa eines Tages mit wichtiger Miene zu mir. Sie gab mir mit großer Geschäftigkeit und viel Wohlwollen eine kleine, steife Karte, darauf stand: Galerie. Ich bekam aber auch einen großen Zettel, darauf stand: Hamlet, Prinz von Dänemark, oder die Komödie in der Komödie. Das übrige lauter Namen, und unten die Preise der Plätze. Ich sah mir den Zettel nachdenklich an, das sah ja aus, wie ein Buchtitel. War es denn eine Geschichte? Ich fragte Rosa, die schüttelte die langen Locken und lachte.
»Du hast mich schon neulich so gefragt,« sagte sie, »ich sag' dir aber kein Wort, das mußt du sehen, ich hol' dich heute abend ab.«
Als ich den Eltern mein Geschenk zeigte, überlegten sie, aber endlich sagte der Vater: »Na, meinetwegen.«
Rosa holte mich, und unter ihrem Schutz betrat ich den gefüllten Saal. Der Ratsdiener Schwenke stand an der Tür und nahm mir die Karte ab. Er sah mich mit seinem martialischen Schnauzbart grimmig an, und ich war halb darauf gefaßt, daß er mir mit schnarrender Stimme zurufen würde: »Marsch, heem mit eich!«, womit er uns immer auseinander jagte, wenn wir auf dem Marktplatz saßen; aber heute hatte er gar keine Zeit, immer mehr Leute kamen und reichten ihm schweigend die Karten. Uns wies er nach hinten, Rosa aber sagte zu mir: »Bewahre, wir gehen nicht auf die Galerie; bleib du nur bei mir, wir stellen uns hier ganz vorn zur Seite der Musikanten.« Die da saßen waren lauter Bekannte, der Leineweber Schubert, der Schuster Putzger und so die ganze Reihe entlang. Ich sah mich interessiert und erwartungsvoll um. Gerade vor uns war eine rote Wand, auf deren Mitte groß und schön das sächsische Wappen prangte. Unter den Klängen der schönen Musik sah ich, wie der Wirt mit seinem Sohn geschäftig Stühle hin und her trug. Hinter mir saßen auch lauter Bekannte, ganz vorn die Reichen, ganz hinten sah ich Kinder. Was denn? War ich hergekommen, um das zu sehen? Ich war getäuscht, Rosa sah es mir an, sie kniff meinen Arm und lachte. Da klingelte es, ich fuhr erschrocken herum, und o Wunder, die rote Wand war weg, und mit einem lauten Ausruf des Staunens sah ich vor mir ein verschneites Schloß. Männer in wunderbarer Kleidung sprachen miteinander, ich konnte aber so schnell nicht den Sinn fassen. Aber was war das? Ein Gespenst, ein weißes Gespenst schwebte heran. Ich zitterte, aber die da oben, die Fremden in der Ritterrüstung, die erzählten einander auch, daß sie zitterten. Sie reden den Geist an, aber er verschwindet in einer der kleinen Seitengassen. Da steht er, – ich seh' ihn ganz deutlich, wie sonderbar, daß die Ritter ihn nicht sehen, sie wollen ja mit ihm sprechen und laut ruf ich hinauf und strecke den Finger aus: »Da steht der Geist!«
Die Leute lachen, ich finde gar nichts zu lachen, und da oben stutzen sie einen Augenblick und sehen herunter zu mir, Rosa aber stößt mich lachend an und sagt leise: »Willst du wohl gleich mal still sein? Hier dürfen nur die da oben sprechen!«
Ach, mit welcher Anteilnahme verfolgte ich, was vorging! Wunderbar war alles, das Wunderbarste aber, daß da oben noch einmal eine Komödie war. Als zum letztenmal die rote Wand herunterging und alles dem Ausgang zuströmte, da wollte ich nicht fort, und Rosa lachte und schalt: was ich denn dächte! Die Geschichte hätte doch ein Ende. Jede Geschichte hätte doch ihren Schluß.
»Erzählen die jeden Abend eine andere Geschichte?« fragte ich atemlos.
Rosa nickte lachend und sagte gönnerhaft: »Wart' nur, ich nehm' dich schon mal wieder mit. Hat es dir denn gefallen?«
»Ach, Rosa, ich möchte immer, immer im Theater sein!«
Die stillen Arbeiten unter den strengen Augen des Vaters wurden mir in dieser Zeit schwer. Am liebsten wäre ich immer bei Rosa und abends im Theater gewesen. –
Eines Tages trat sie zu mir und sagte: »Komm mal mit, die Frau Direktor will dich sehen.«
»Mich?« fragte ich erstaunt.
Was konnte sie von mir wollen? Klopfenden Herzens ging ich mit Rosa hinauf. Wie überrascht war ich! Ich hatte gemeint, die Frau Direktor sei jung und schön und habe gesunde, rote Backen. Sie war ja welk und grau, und sie hatte keine Locken, nur häßliche Wickel standen ihr wie unnatürliche Auswüchse um den Kopf herum. Sie hatte einen gestickten Unterrock und eine weite Jacke an. Ich sah sie so erstaunt an, daß sie jetzt wirklich errötete. Sie sah mich prüfend an und sagte zu Rosa: »Du kannst wohl deiner Mutter helfen, Zettel austragen.« Rosa entfernte sich zögernd, und ich wäre gern mitgegangen, aber die Frau Direktor winkte, ich solle bleiben. Als Rosa fort war, fragt« sie: »Kannst du deklamieren?«
Ja, das konnte ich, ich deklamierte manchmal, wenn ich mit der Mutter botanisieren ging.
»Was kannst du denn?« fragte sie.
»In Myrtills zerfallner Hütte.«
»Nun, es ist mir einerlei, was es ist. Du brauchst auch nicht das ganze Gedicht zu deklamieren, nur ein paar Verse, aber die so gut, wie du kannst.«
Ich sagte ein paar Verse mit viel Gefühl auf, da winkte sie Schweigen, gab mir ein Stückchen Schokolade und entließ mich.
Wie erstaunt war ich, als ich eines Tages die Frau Direktor in unsrer Stube fand, als ich aus der Schule kam. Was wollte denn die bei uns? Heute hatte sie wieder rote Backen und lange Locken. Sie war sehr freundlich zu mir, gab mir die Hand und sagte lächelnd: »Nun bitt doch deine Eltern, daß du mal mit spielen darfst!«
Ich – mit–spielen? Würde ich denn das können? – O, wenn ich doch dürfte!
Frau Direktor wandte sich erregt an die Eltern, besonders an den Vater, und sagte eindringlich: »Bitte, erlauben Sie es doch dem Kinde! Ich bitte inständig! Sie würden uns eine große Wohltat erzeigen, denn wir bringen an solchen Abenden, an denen wir ein bekanntes Kind aus dem Ort haben, unsere Einnahmen bedeutend höher als sonst!«
Der Vater warf einen fragenden Blick auf die Mutter und sagte nach einigem Nachdenken: »Nun, wenn Sie meinen, daß sie es kann? Wenn wir Ihnen damit helfen können, will ich es wohl erlauben.
Die Frau Direktor dankte sehr wortreich, sie atmete erleichtert auf und wandte sich nun an mich. Mir war ganz feierlich zumute. Wenn nur die Eltern ihr Wort nicht zurücknehmen möchten! Gierig streckte ich meine Hand aus nach dem Schriftstück, das mir die Frau Direktor entgegenhielt.
»Sieh mal!« sagte sie, »achte auf das unterstrichene Wort, es ist das Stichwort. Das Stück heißt: Der Schmied von Marienberg oder die Bettlerin. Laß es dir mal von Rosa erzählen. Es finden vorher auch Proben statt, du wirst dazu aus der Schule geholt. Dadurch redet sich nämlich die Sache im Städtchen herum,« wandte sie sich mit wichtiger Miene an den Vater, der zog die Augenbrauen hoch, und ich fürchtete schon, die Sache könnte eine unliebsame Wendung nehmen, als die Frau Direktor sich mit einem letzten Blick auf unsere hohen Pflanzengestelle knicksend und dankend empfahl. Ich hielt die Rolle fest in den Händen und brannte darauf sie zu lesen, aber es kam mir jetzt vor allen Dingen darauf an, bei den Eltern keine Verstimmung hervorzurufen, darum unterdrückte ich meine Ungeduld, bis ich Zeit hatte in die Holzkammer zu schlüpfen, um das zu lesen, was mir die Frau Direktor gegeben hatte; aber ich war ratlos, ich konnte keinen Sinn hinein bekommen.
Am nächsten Tage ging ich zu Rosa, die nickte lachend, als ich sie um Hilfe bat und sagte: »Gewiß, ich komm' mit dir und erzähl' dir wenigstens soviel, daß du daraus klug wirst.«
Wir wanderten an den Rand des Zellwaldes, hier setzten wir uns unter eine hohe Tanne, und Rosa sagte: »Das Stück kenne ich genau, besonders deine Rolle, denn die muß ich immer spielen, wenn wir kein Kind in dem Orte finden, wo wir gerade sind.«
»Aber,« sagte ich schüchtern, »ich möchte dir doch nicht die Rolle wegnehmen, du willst sie doch gewiß gern selbst spielen, da du sie so gut kennst.«
Rosa schob meine Hand mit der Rolle zurück und sagte: »Nein, nein, das darf nun gar nicht geändert werden, die Frau Direktor hat es doch so angeordnet. Ich bin auch nicht dahinter her, ich kann sie noch mehr wie genug spielen. Auf den Dörfern finden wir kein Kind, das spielen kann. Hast du dir denn deine Rolle schon einmal durchgelesen?«
»Ja,« sagte ich, »sie fängt an: Wo mag nur der kleine Tollkopf stecken?«
»Nein!« sagte Rosa, »das hast du nun gar nicht verstanden! Das ist ja das Stichwort, das sagt ja die alte Naznern, die ist deine Großmutter; wenn sie das sagt, dann mußt du schnell heraus kommen und sagen: ›Hier bin ich, lieber Papa!‹ Siehst du, mein Papa ist an dem Abend dein Papa!«
Das fand ich sehr drollig, und wir lachten beide herzlich, als wir uns das vorstellten. Dann fuhr Rosa fort: »Also mein Papa und die Frau Direktorin sind deine Eltern, sie heißen Bergers und haben einen Eisenhammer in Marienberg; sie sind furchtbar reich, und du wirst ganz gräßlich verwöhnt! Wenn du auf die Bühne kommst, ist dein Geburtstag, und da ist die ganze Stube voller Geschenke. Du hast ein wunderschönes, weißes Spitzenkleid an, gerade wie eine Prinzessin!«
»O, Rosa!« rief ich in höchster Erregung, »ist das wahr? Bekomme ich das wirklich alles geschenkt?«
Rosa klatschte in die Hände und rief lachend: »Ja, du bekommst wirklich alles geschenkt, alles, – bis das Stück aus ist, nein – halt – nicht einmal so lange, denn siehst du, es geht dir schlecht, gerade an deinem Geburtstage wirst du von Seiltänzern geraubt, und bei ihnen bekommst du Schläge und schlechtes Essen und mußt Kunststücke machen, daß du meinst, du brichst dir den Hals.«
»Ach, aber, Rosa!« sagte ich entsetzt, »das kann ich doch gar nicht, wenn ich auf ein Seil sollte, würde ich mich zu Tode fallen.«
Rosa lachte wieder und sagte: »Sei doch nicht so albern! Du sollst ja nur erzählen, daß du das mußt! Das wissen wir alleine, daß du nicht Kunststücke auf dem Seil ausführen kannst.«
»Muß ich denn immer bei den schrecklichen Seiltänzern bleiben?«
»Nein, dein Papa und deine Großmama sind verzweifelt, sie suchen dich überall –«
»Warum sucht denn meine Mama nicht mit?«
»O, zu der kommst du gerade mit den Seiltänzern, die ist auch fort vom Eisenhammer, sie ist vom Blitz geblendet und sitzt als blinde Bettlerin in dem Dorfwirtshaus. Du erzählst ihr, daß du geraubt bist, und gerade wie der Patini, der Seiltänzer, dich ruft, da kommt dein Papa und deine Großmama, und da finden sie dich und deine Mama, und nun wirst du wieder reich, und die Verzieherei kann wieder weitergehen!«
Ich war lange still und sah auf meine Rolle, dann sagte ich seufzend: »Das ist ja schrecklich, was ich an dem Abend alles durchmachen muß! Es ist nur gut, daß ich doch zuletzt wieder nach Hause komme, und daß ich wieder einen Vater und eine Mutter habe!« Hatte ich doch schon so oft erlebt, wie schwer eine Trennung von den Eltern zu ertragen war.
»Du bist ja ein närrisches Ding. So etwas nimmt man doch nicht ernst! Die ganze Sache dauert zwei Stunden, dann bist du wieder Dietrichs Charitas. Siehst du, das ist das Gute und Schlimme bei der Komödie, es dauert immer alles nur zwei Stunden, dann ist man wieder, was man wirklich ist. So, nun seufz' nicht, und stöhn' nicht, sondern lern' deine Rolle, und wenn du sie kannst, dann sag' sie mir auf.«
Das war meine Vorbereitung für den wichtigen Abend an dem »Der Schmied von Marienberg oder die Bettlerin« gegeben wurde.
Die Frau Direktor hatte sich nicht getäuscht, das Theater war an dem Abend, wo der Schmied von Marienberg gegeben wurde, dicht besetzt. Sie kleidete mich selbst an. Wirklich, wie Rosa gesagt hatte, wie eine Prinzeß wurde ich herausgeputzt. Ein duftiges, weißes Spitzenkleid hatte ich an, um den Hals legte sie mir eine schillernde Perlenkette. Ich bekam leichte, weiße Schuhe an, mein dunkles Haar fiel aufgelöst auf die Schultern. Eine traumhafte Erinnerung an Bukarest fuhr mir flüchtig durch den Sinn, als ich wartend hinter der Bühne stand. Mir klopfte das Herz zum Zerspringen. Ich konnte meine Rolle so gut, aber würde ich vor Aufregung die Worte hervorbringen können? Jetzt kam es! die alte Naznern rief mit einem Blick nach den Kulissen: »Wo mag nur der kleine Tollkopf stecken?«
Da stand ich, erhöht, beleuchtet, dicht vor mir im Souffleurkasten der alte Nazner. Wie er mich ansah, und jetzt flüsterte er: »Hier –«
Nein, nichts durfte ich hören und sehen, ich lief, o so leichtfüßig, auf Lagoni zu und rief lebhaft: »Hier bin ich, lieber Papa!«
Herr Lagoni schloß mich in die Arme und sagte zärtlich: »Gott sei Dank, es war nur ein Traum!«
»O, ein köstlicher Traum!« sagte ich, »man hatte mir soviel schöne Sachen zum Geburtstag geschenkt, daß die ganze Stube davon voll war. Ich stand vor dir, siehst du, gerade wie jetzt, – mit einemmal öffnet sich die Tür – ich kehre mich um und sehe eine schöne, junge Dame in einem weißen Kleide, die die Arme nach mir ausstreckt und zu mir sagt: ›Marie! – Ich habe dich nicht vergessen! – O, mein Kind!‹ – Und das war Mama! – Aber sieh doch, Papa! Papa! – Sieh die junge Dame dort!«
Ich war für diesen Akt fertig und konnte nun flüchtig einen Blick auf die vielen Geschenke werfen, aber ich sah auch hinunter, da sah ich eine erdrückende Menge von Menschen, die jetzt lebhaft klatschten und »Bravo« riefen, und von ganz hinten, von der Galerie, hörte ich rufen: »Du, Charitas! – Ich bin auch hier, kannst du mich sehen?«
So schwer es mir wurde, ich mußte mich blind und taub stellen, hatte mir doch die Frau Direktor vorher sehr eindringlich gesagt, was auch von unten her gerufen würde, ich hätte zu tun, als ginge mich das alles nichts an.
In einem der folgenden Akte hatte ich als Seiltänzerkind zu erscheinen. Ich hatte ein kunterbuntes Kleidchen an und stand in einem Wirtshausgarten vor einer blinden Frau, die zu mir sagte: »Mußt du schon arbeiten? In deinem Alter? Dann hast du wohl keine Mutter mehr? Was für Arbeit mußt du denn verrichten?«
Ich antwortete: »Ich mache Kunststücke. Man zwingt mich, auf so hohe Dinge zu steigen, die so hoch sind, daß sie unter mir schwanken. Es geht dann alles mit mir rund herum, mir sausen die Ohren, ich sehe nichts mehr, und Patini ruft mir zu: ›Komm, Kolibri!‹ Ich lasse mich fallen, – die Leute schreien: ›Sie wird das Genick brechen!‹ Aber Patini ist stark, er fängt mich mit den Armen auf, und es ist mir trotz meiner Angst nichts passiert.«
Die Blinde sagt«: »Dein Vater kann so herzlos sein?«
»Ach, Patini ist nicht mein Vater!«
»Wie? Man hat dich also deinem Vater geraubt?«
»Ja, aber sagen Sie es niemand!«
»Wo denn?«
»In Marienberg, mein wirklicher Vater ist der Schmied von Marienberg.«
Die Blinde stieß einen Schrei aus und umklammerte mich zärtlich, in dem Augenblick kam Lagoni mit der alten Naznern. Als sie mich in den Armen der Blinden sahen, war große Freude. Alle wir Verlorenen hatten einander nach mancherlei Schicksalswirren endlich wieder gefunden, und die Naznern sagte in größter Erregung zu Lagoni: »Da – ist – sie – Paul!«
Lagoni schloß mich zärtlich in die Arme und rief ebenfalls in höchster Erregung: »Marie! – Marie! Durch welches Wunder habe ich dich wieder?!«
Da sagte die Wirtin, die dazu getreten war, bei der sowohl die Blinde, wie die Seiltänzer wohnten: »Durch diese mutige Frau, die das Kind den Seiltänzern entriß.«
Und ich rief erregt: »Papa! Diese Frau ist meine Mutter!«
»O, Margarete!« rief Lagoni, »du gibst mir meine Tochter wieder! O, ich verzeihe dir nicht nur, nein – ich segne dich, Margarete!«
Mich regte dieser rührende Schluß so auf, daß ich krampfhaft weinte. Der Vorhang fiel, aber man hörte, daß da unten im Publikum große Aufregung war. Es wurde stürmisch geklatscht und überlaut »Bravo« gerufen.
Der Vorhang wurde wiederholt in die Höhe gezogen, die Schauspieler verneigten sich, und ich nickte unter Tränen lächelnd hinunter.
Nun nahm mich die Frau Direktor mit in ihre Wohnung, zog mir meine eignen Sachen wieder an, und dann sagte sie gütig: »Ich danke dir, liebe, kleine Charitas, im Namen der ganzen Truppe. Du hast tapfer geholfen, daß wir heute abend eine gute Einnahme gehabt haben. Hier sind zwei Neugroschen, und sollten wir dich wieder brauchen, so hilfst du uns gewiß gern wieder!«
Ich fühlte mich lief beschämt und gerührt. Ich hatte ja einen so glücklichen Abend verlebt, dafür sollte ich auch noch so reich belohnt werden? Anstrengung war es doch gar nicht gewesen, nur Freude. – Wie lange lebte ich noch in dem Stück, es nahm mich ganz gefangen, ich hätte mit keinem Blumenstreumädchen zum Königschießen tauschen mögen. Die zwei Neugroschen durfte ich behalten, ich legte sie in das rote Glas, das in der angenagelten Schiebeliste stand, ich sah es manchmal stolz an und flüsterte: »Selbst verdient!«
Solange die Schauspieler im Städtchen waren, drehte sich mein Interesse ausschließlich um Rosa und um das Theater, aber das nahm eines Tages ein Ende. Die Wagen wurden gepackt, und mit heißen Tränen meinerseits nahm ich Abschied von Rosa. Ich bat sie, mir doch zu schreiben, und sie versprach es mit tausend Versicherungen. Mir war so leer und so öde zumute. Ich wußte mich zuerst gar nicht zurechtzufinden. Ich freute mich gar nicht auf meine freie Zeit. Aber endlich nahm ich wieder einen Anlauf und ging zu Nendel-Ernestine. Wir mußten doch wieder an den Schutthaufen und unsern Garten zurechthacken. Ach, wie lange war es her, seit ich bei Ernestine gewesen war! Ich ging nicht so gern wie früher zu ihr, ich mußte sie ja ordentlich erst wieder kennen lernen, sie war mir ganz fremd geworden.
»Ernestine,« sagte ich, »wollen wir die Hacken nehmen und auf unsern Scherbenberg gehen? Wir haben solange nicht da gearbeitet.«
Ich sagte es schüchtern, verlegen, sie war mir wirklich innerlich ganz abhanden gekommen. Sie wurde sehr rot, sah mich mit bösem Blick von der Seite an und sagte erregt: »Du! – Ja, du bist mir die Rechte! Geh doch zu deiner Rosa, und laß die doch hacken und die Scherbeln und den Kehricht in den Straßengraben schleppen! Nu kommst de wieder zu mir? Nu bin ich wohl wieder gut genug? Hä, jetzt brauch' ich dich ooch nich. Wer hat denn dich zu den Komödianten gebracht? Ich! Wer hat sich aber nachher ni wieder um mich gekümmert? Du! – Du! – Geh nor! Ich will ooch ni wieder mit dir ins Raupenfutter. Ha, denkst wohl wunder, was de bist, weil de im weißen Kleed Komödie spielen kannst? Ich tat mich in Grund und Boden schämen! Ha, den fremden Mann, den heeßte ›Baba‹! Hm, was de wohl kannst! Gar nischt kannste. Nich emal e simples Bubbenkleedchen kannste machen ohne mich. Du hast's noch nie weiter gebracht als bis zu en Leibbändchen, und wenn sich ni andre deiner derbarmten, da lag deine Puppe egal splitternackt rum. Hm, meine Mutter und alle Leite sagen's egal, daß de nischt kannst als Bliemchen zwischen Babier quetschen. Aus dir werd nischt! Nee, geh du nor lieber glei zu den Komödianten. So falsch wie de bist! Ob de dich ooch nor e–emal um mich bekümmerst hast. Egal warschte hinter den langen Locken her. Nu da geh doch, un kumm gar ni wieder zu mir!«
Ich war wie betäubt. Weinend schlich ich mich ln die Holzkammer, setzte mich an die grüne Truhe, lehnte meinen Kopf dagegen und schluchzte, daß mich der Bock stieß. Also so schlecht war ich! Es war also immer nicht wahr, wenn ich gerade dachte, ich hätte etwas ausgerichtet. Damals mit dem Gedicht für Schuster Reimann war's auch so gewesen. Gerade fühlte ich mich so gehoben, auch durch den Kuchen, und da war der Vater böse und sagte: ich bilde mir was ein, und nun wieder! Wie leicht und glücklich hatte ich mich an dem Theaterabend gefühlt. Hatte ich denn nicht zwei Neugroschen verdient, und die Frau Direktor hatte doch gesagt, durch mich wäre die Einnahme verbessert, und hatten denn nicht die Leute »Bravo« gerufen? Waren das dieselben Leute, die nun sagten, ich tauge nichts? Ach, wie verlassen fühlte ich mich.
Da kam die Mutter. Sie blieb erstaunt einen Augenblick stehen, dann trat sie zu mir, zog mir die Hände vom Gesicht und fragte: »Na, was fehlt denn dir?«
Ich erzählte ihr alles.
Sie sagte: »Kannst du dich wundern? Warst du denn nicht ganz weg in das Schauspielerkind? Weißt du, wie dir's im Leben gehen wird?« Ich sah sie fragend an, und sie fuhr nachdenklich fort: »Du hast eine so große Sehnsucht in dir, damit weißt du nicht wohin, taucht nun irgendwo etwas oder jemand Neues auf, dann stürzest du darauf los und vergißt darüber alles andere. Etwas wirst du bei dem Neuen auch wohl manchmal finden, und das macht dich dann so überglücklich, daß du alles, was du von den alten Bekannten hattest, vergißt. Die aber vergessen nicht, daß sie dir auch etwas gewesen sind, und sie zahlen's dir heim. Ich kann nur wieder fragen: kannst du dich wundern? Es wird dir noch oft so gehen, denn du wirst noch mancher ›Rosa‹ begegnen, und – das weiß ich aus Erfahrung – Nendel-Ernestinen, die kein Verständnis für dein Sehnen haben, die gibt es auch überall, und sie werden dir leider noch oft das Leben schwer machen. Du wirst schwer etwas dran ändern können, es liegt dir im Blut.« Dann lächelte sie schelmisch und sagt«: »Na, und was sie dir über das Leibbändchen gesagt hat, das stimmt doch. Du kannst doch wirklich kein Puppenkleid machen!«
»Ist es denn schlecht, daß ich Theater gespielt habe?«
»Unsinn! Dann hätten wir's wohl nicht zugegeben! Aber den Rat geb' ich dir doch: mach' es mit der Nendel-Ernestine wieder gut. Rosa ist weit weg, aber die Ernestine bleibt hier, und du mußt lernen mit denen zurechtzukommen, zwischen denen du lebst.«
Die Mutter küßte mich und eilte hinunter, ich aber hatte Zeit, über alles nachzudenken, was sie mir gesagt hatte.
Einige Wochen nach dem Abschied der Schauspieler kam der Postbote. Es war schon lange nicht mehr das Schneider-Agneschen, es war Ginzelmann, er hatte eine kanariengelbe Uniform an. Er fragte nach mir. Ich war vor Freude so erschrocken, daß mir war, als müßte mein Herz still stehen. Er gab mir einen großen, grauen Brief, das Kuvert war selbst verfertigt und mit einem großen Siegel versehen. Die Adresse war einfach genug: »An Charitas in Siebenlehn.« Der erste Brief in meinem Leben! Wie beglückt hielt ich ihn in Händen. Das Herz einer liebenden Braut konnte nicht glücklicher schlagen, als das meine in diesem Augenblick. Ich brach das Siegel und las, was in steifer, ungelenker Handschrift da stand:
»Meine teure Freundin!
Da ich Dir versprochen habe. Dir zu schreiben, so ergreife ich die Feder und sage Dir, daß es uns gut geht. Hier sind schon die Birnen und Äpfel reif. Bei Euch auch? Denke Dir, Frau Direktor wird wohl Wernern heiraten. Was sagst Du nur dazu? Jetzt weiß ich nichts mehr. Ich muß noch immer mit den Haarsachen herumgehen, ich wollte Du wärest dabei, ich wollte Dir auch immer meinen Mantel borgen. Ich habe Dir aus dem Stammbuch meiner Mama den allerschönsten Vers abgeschrieben. Heb ihn Dir auf zum ewigen Angedenken an Deinallerbeste Freundin
Rosalie Lagoni.
Vergiß mein nicht, wenn lockere, kühle Erde
Dies Herz einst deckt, das zärtlich für dich schlug.
Denk, daß es dort vollkommen lieben werde
Als du voll Schwachheit, ich's vielleicht voll Fehler trug.
Denk, daß ich's sei, wenn mein Herz zu deinem Herzen spricht:
Vergiß mein nicht, vergiß mein nicht!
Kalsbrücke bei Freiberg.
Schauspielertruppe von Frau Direktor Susemiehl.
Schreib mir ja bald wieder, sonst ziehen wir weiter!« –
Ich ging an einem der nächsten Tage in die Holzkammer und beantwortete den Brief.
»Heißgeliebte Rosa!
Ach, so weit fort bist Du! Meine Gedanken sind immer bei Dir, und wie glücklich wäre ich, wenn ich wieder mit Dir wandern dürfte. Ach, ich habe jetzt gar keine Freundin mehr, denn die Nendel-Ernestine, die hat mich so furchtbar gescholten! Ich weiß noch nicht, wann wir wieder gut miteinander werden. Und dann habe ich etwas sehr Trauriges erlebt. Ich hab' Dir doch von meinem Garten erzählt. Ich habe keinen Garten mehr, denn denke Dir nur, der Ratsdiener ist bei uns gewesen, der schreckliche Schwenke! Er hatte ordentlich seine Uniform an, das tat er um mich recht zu erschrecken.
Er sagte, ich dürfe den Berg nicht eben machen, der solle bleiben, wie er sei. Ich dürfe auch die Scherben nicht in den Straßengraben tragen, und ich hätte Erde herunter gearbeitet, nun würde der Fußsteig zum Zellwald zu schmal, und wenn ich dabei erwischt würde, daß ich auf dem Berge arbeitete, so würde er mich ins Loch stecken! Du kannst Dir denken, wie erschrocken ich war! Als er weg war, war mein Vater furchtbar böse, er sagte, das wäre doch arg, daß ich, so jung wie ich noch wäre, schon mit der Polizei zu tun habe, man müsse sich ja vor den Leuten schämen. Die Mutter war auch böse, aber auf den Ratsdiener. Sie sagte: wie er mich so in Angst jagen könne, ich habe gar nichts Böses getan, und es tue ihr weh, daß sie mir kein Stückchen Erde zum umarbeiten geben könne, sie wisse, wie glücklich ein Kind sei, wenn es in der Erde graben und sich ein paar Blumen ziehen dürfe. Nun hatte ich keine Angst mehr, aber ich habe auch gar keine Freude mehr! Ich habe keinen Garten mehr und werde in Ewigkeit keinen haben. Ach, wie schön war die Zeit, als Ihr noch hier waret! Ich verbleibe in aufrichtiger Liebe
Deine Freundin
Charitas Dietrich.«