Charitas Bischoff
Bilder aus meinem Leben
Charitas Bischoff

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Brief von Fräulein Roquette

Kirkeby, Gemeinde Roagger.
Nordschleswig, d. 15. Mai 74.

Liebe Frau Doktor!

Ich stelle mich Ihnen vor mit einem schiefen Gesicht. Ich habe eine so geschwollene Backe, daß ich meine, sie muß bersten. Ein Wunder ist das nicht, sowohl der scharfe Westwind, der über die Heide pfeift, wie die ungemütlichen Zustände hier im Hause bringen so etwas mit sich. Sie glauben gar nicht, was für anstrengende Tage wir hinter uns haben. Charitas war so fertig mit der Welt, daß sie sich heute nachmittag ins Bett gelegt hat, und ich lag am Vormittag. So verlebten wir den ersten Sonntag in Nordschleswig. Außer dem kleinen Dienstmädchen sind wir allein, denn der Pastor ist in der Nachbargemeinde, wo die Einführungsmahlzeit stattfindet, weil der dortige Pastor die hiesige Gemeinde drei Jahre lang mit versorgt hat. Die kirchliche Feier aber war in der hiesigen Kirche. Es wurde Charitas wohl schwer, nicht dabei zu sein, wie ihr Mann in sein neues Amt eingeführt wurde, sie wollte mich aber durchaus nicht allein lassen, »im fremden Lande«, wie sie sagte, zumal, da ich nicht wohl war. Sie werden denken: ›Eine schöne Bande, erst legt sich die eine und dann die andere.‹

Aber ich will versuchen, der Reihe nach zu erzählen.

Nach der endlos langen Fahrt durch eine Gegend, die eigentlich keine Gegend ist, die ein so tief ernstes Gepräge hat, daß bei ihrem Anblick Schwermut ins Gemüt schleicht, sahen wir endlich auf einem sanften Hügel die bleigedeckte gotische Kirche liegen. Der Pastor hatte sie sich neulich schon von innen angesehen, er sagte, sie sei etwa 1630 von den Grauen Brüdern erbaut. Durch den Fahrweg getrennt, liegt, der Kirche gegenüber, das Dorfwirtshaus; kenntlich durch die geräumige Durchfahrt, die den Rahmen bildet, durch den man den Blick über ein unendliches Stück Himmel und Erde hat.

Bei der Kirche bogen wir vom Hauptweg ab und fuhren auf weichem, staubigem Wege eine kleine Strecke westwärts. Ein Hof, von vielen Bäumen gegen den Nordwestwind geschützt, lag vor uns. Der Pastor drehte sich zu uns und sagte bewegt: »Da ist das Pastorat!«

Da waren wir auch schon, stiegen eilig aus und hielten auf dem Hof prüfend Umschau.

Stellen Sie sich einen großen Hofplatz vor, der hufeisenförmig von langen, niedrigen, strohgedeckten Gebäuden umgeben ist. Ein stattlicher Düngerhaufen bildet den Hintergrund. Trotzdem sonst die Vegetation noch sehr weit zurück ist, tritt man hier überall auf üppig blühende Hundeblumen.

Zu unserer Freude sahen wir unseren Möbelwagen auch schon da stehen, und während wir über das Auspacken berieten, kam das junge Pächterpaar aus dem Hause. Wenn hier alle Leute so stattlich und hübsch sind, so werden Bischoffs unter einem schönen Menschenschlag leben. Die Frau ist geradezu eine Schönheit, eine große, schlanke Blondine, mit so ebenmäßigen Zügen, mit einer so feingeschnittenen Nase und einem so zarten Teint, daß ich ganz überrascht war. Unwillkürlich viel mein Blick von der Pächterfrau hinüber zu Charitas. Dieser Kontrast! Charitas stand in ihrem Pelz so klein und hilflos da, während die andere mit strenger, hochmütiger Miene auf sie herabsah. Ich dachte: ›Na, wie wird ihr das wohl hier gehen! Mit der Frau, die sich so abwehrend zu ihr stellt, soll sie unter einem Dach wohnen. Die ist Eingesessene, sie wird Charitas wie einen Eindringling ansehen, und was die ganze Sache so sehr erschwert, das ist die Sprache, die Charitas nicht kann. Der Pastor ist ärgerlich, daß sie nicht fleißiger gelernt hat, nun steht sie verlegen da, versteht nichts, muß sich jedes Wort verdolmetschen lassen, das ist ein schwerfälliger Verkehr, sie kann doch auch nicht immer den Mann am Bande haben. Ich kann ja erst recht nichts verstehen, aber bei mir geht der Kummer darüber nicht tief. Für mich ist diese Zeit eine sehr interessante Episode, ich freue mich schon, sie den Freunden in Kiel, und besonders meinem Bruder Otto, schildern zu können. Ja, Otto wird mich beneiden, wenn der hier wäre, – nun, der würde diese Gegend zu einem Milieu für einen Roman verwenden. Wirklich, manches ist ganz romantisch!

Wir gingen nun alle fünf in die Wohnung. Schön war das nicht, was wir da sahen. Hier muß tapeziert werden, Ofen und Herd muß angeschafft werden. Im übrigen haben hier die Mäuse ihr unbeschränktes Regiment gehabt. Man sollte nicht glauben, daß in drei Jahren ein solcher Verfall eintreten kann.

Durch den Pastor lasse ich nach Bäcker, Schlachter, Doktor und Apotheker fragen. Das gibt's nicht, nicht einmal eine Scheuerfrau, jeder tut selbst, was er gemacht haben will. Wo bekommen wir Öfen, Tapeten, Fleisch, Brot? Alles in der dänischen Stadt Riepen. Na, hier möchte ich nicht haushalten! Um es hier auszuhalten, dazu gehört Jugend und Liebe. Beides ist Gott sei Dank da, aber schwer bleibt's darum doch.

Ach, es war alles so kalt, so schwerfällig und zäh, gar kein freundliches Entgegenkommen! Zum Auspacken, meinten Pächters, sei es für heute zu spät, da setzten wir uns kleinlaut wieder in den Wagen und fuhren ins Wirtshaus, wo wir die Nacht blieben. Der Wirt und seine Frau verstehen und sprechen etwas Deutsch.

Wir trödelten gelangweilt herum und entdeckten, daß beim Wirtshaus auch ein Kramladen ist. Wir sahen uns darin um und wunderten uns, was man alles hier haben kann; außer Petroleum, Seife und derlei guten Dingen waren auch bunte Blumen für Hüte, gepreßter Sammet, Fußbodenlack und Perlenkränze zu haben. Wäre doch auch Brot und Fleisch zu haben!

Am nächsten Morgen wanderten wir hinunter ins Pastorat. Der Fuhrmann war mit Abladen beschäftigt, aber er bat, der Pastor möge Hilfe herbeischaffen. Es kamen Männer, sie steckten prüfend ihren Stock in den Wagen, guckten selbst neugierig hinein, aber als sie gebeten wurden, zu helfen, da brummten sie etwas; der Pastor sagte, sie hätten geäußert, sie wollten nicht abladen, denn sie wünschten keinen deutschen Pastor. Als ich meine Entrüstung darüber aussprach, sagte er: »Sie müssen bedenken, daß wir wohl auf deutschem Grund und Boden, aber zwischen einer dänisch gesinnten Bevölkerung leben werden.«

Aufstellen konnten wir vorläufig nur das Notwendigste, es mußte ja erst gescheuert und tapeziert werden. Das erstere besorgte das kleine, mitgebrachte Dienstmädchen, das glücklicherweise Dänisch kann. Wir fuhren alle drei nach Riepen. Das hätte ich nicht gedacht, daß ich in meinem Leben noch einmal nach Dänemark kommen würde!

Nachdem wir in der Roagger Gemeinde den letzten Bauernhof hinter uns hatten, kamen wir an einen Pfahl mit einem Schilde, darauf stand: »Zollstraße.« Da lagen in kurzem Abstand der deutsche und der dänische Zoll.

Die Fahrt war viel interessanter, als ich gedacht hatte. Zu beiden Seiten des Weges hohe, phantastisch geformte, zerklüftete Dünen. Mitten in dieser Einsamkeit steht ein ganz zerfallenes, elendes Heidewirtshaus, die unheimlichste, abenteuerlichste Spelunke, die man sich vorstellen kann. Es fehlte nur der zerlumpte Zigeuner, der uns Geld oder Leben abforderte. Aber ganz unangefochten kamen wir durch diese nordischen Abruzzen.

Lange, ehe man Riepen erreicht, winkt der herrliche romanische Bau des Riepener Doms. Der Pastor erzählte, daß früher hier die dänischen Könige gekrönt sind. Das Städtchen selbst ist klein, an einer Straßenecke stand, wie uns der Pastor sagte: Graue Brüderstraße. Da haben also die Mönche gewohnt, die diese gotischen Kirchen gebaut haben. Doch allerlei Interessantes! Es amüsierte mich, wenn ich die Schilder an den Häusern lesen konnte, da steht: Karetmager, Snedker, (ich riet auf: »Schneider«, aber der Pastor sagte, das hieße Tischler).

Als wir beratend durch die Straßen gingen, folgten uns Jungen, sie riefen etwas hinter uns her, der Pastor sagte: »Sie rufen: Deutsche! Deutsche! Deutsches Pack!«

In den Läden waren sie aber sehr höflich und entgegenkommend. Was hatten wir aber auch alles zu kaufen. Aber wie umständlich und teuer ist alles. Nun muß doch erst wieder ein Extrawagen her, um Öfen und Herd zu holen, und alles muß durch den Zoll.

Als wir nach Hause kamen, war die brennende Frage: Wohin mit den Würsten? Uns fehlt noch ein Speiseschrank, und die Mäuse sind so ungeniert, daß sie bei hellem Tage herumlaufen. Wie sollen sie denn auch gleich wissen, daß andere Herrscher Besitz ergriffen haben! Bange darf man nicht sein, auf dem Boden ist manchmal plötzlich ein Gepolter, daß man meint, böse Geister treiben da oben ihr Wesen. Es sind nur Marder, Katzen und Mäuse.

Der Pastor, der sehr praktisch ist, kam mit Hammer und Nagelkasten, schlug Nägel in die niedrigen Deckenbalken, und da hängt nun unser Proviant in der Wohnstube unter unseren Augen.

Charitas kochte heute beim Pächter, da unser Herd noch nicht aufgestellt ist, eine Fleischsuppe. Ich gab mich der freudigen Hoffnung hin, bei der Kälte etwas Warmes zu bekommen. Ich hatte mich gerade angezogen, da kam Charitas mit der Suppenterrine, in dem Augenblick stürzt atemlos der Pastor über den Hof.

Er sah ganz sonderbar aus, da er doch noch den Talar anhatte. Charitas wurde vor Schreck ganz blaß, sie setzte die Terrine hin und fragte zitternd: »Was ist denn da passiert?«

»Die Würste! Die Würste!« rief er atemlos, riß sie eilig herunter und warf sie mir in den Schoß.

»Fort damit! Aber schnell! Gleich sind sie hier!«

Unwillkürlich machte ich mich schnell damit aus dem Staube und warf sie im Nebenzimmer auf den Haufen Allerlei, der noch ungeordnet da lag, dann ging ich neugierig wieder in die Stube. Gerade wie ich zur einen Tür hineingehe, öffnet sich die Außentür, und zwei Herren treten ein. Der eine in Uniform mit dem Degen an der Seite, der andere im Talar mit dem breiten, getollten Pastorenkragen. Der Pastor stellte vor: »Herr Landrat von Rosen aus Hadersleben, Herr Propst Andresen aus Bestoft.«

Der Propst ist ein auffallend schöner Mann, dem die Silberlocken ein sehr würdiges Ansehen geben.

Beide Herren sahen sich erstaunt um, und der Landrat meinte: »Hier sieht's noch bös aus, aber es kann ja werden; aller Anfang ist schwer!«

Nach einigen tröstlichen Reden der beiden Fremden gingen alle drei Herren. Und unsere Suppe?! Na, die war unterdessen ja hübsch abgekühlt.

Jetzt höre ich Charitas, wir wollen noch einmal durch den großen Garten gehen. Wenn der unter pflegende Hände kommt, so kann daraus etwas Schönes werden, aber jetzt sieht er aus, als hätte Dornröschen darin geschlafen. Alles ist überwuchert und verwildert, die Wege sind dicht mit Gras bewachsen, die Obstbäume treiben wilde Schößlinge, und die Stämme sind mit Moos und Flechten überwachsen. An den Sträuchern hängen Klumpen Schafwolle, der Pächter hat wohl die Schafe im Garten geweidet. Überall Unkraut, das gibt Arbeit. Ich stelle mir vor, wenn hier erst Kinder herumtollen, für die könnte dieser wilde, große Garten ein Paradies werden. Hinten schließt er mit einem hübschen Wäldchen ab, in dem eine Unmasse Krähen nisten. Gegen Abend ist ein Geschrei, daß ich immer denke, David Copperfield könnte für seinen leeren Krähenhorst gern die Hälfte abhaben. Da sind sie, und wie sie schreien! Viele Grüße aus dem Krähenhorst von Roagger!

Treu Ihre Emilie Roquette.


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