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Fräulein Roquette war, nachdem wir einigermaßen eingerichtet waren, wieder abgereist.
Erst nach ihrer Abreise geschah das große Wunder, wonach wir immer erwartungsvoll ausgeschaut hatten. Trotz Wind und Kälte der vorangegangenen Tage erstrahlte an einem Sonntagmorgen der Garten in zauberhafter Blütenpracht. Feiertagsschmuck trug die Natur, und wie festlich war uns zumute, als wir unter den Klängen der Kirchenglocken den Weg zum Gotteshaus einschlugen. Von den grünen Fluren hob sich jubelnd die Lerche in die Luft.
Auf dem Kirchhof standen bei den kahlen Gräbern Männer und Frauen, die uns bei unserm Erscheinen höflich grüßten und mit uns in die Kirche traten.
Die Bevölkerung ist kirchlich, daran ändert auch der »deutsche« Pastor nichts.
Keine Orgel. – Der Küster stimmt den Gesang an, und die Gemeinde schließt sich an. Dänische Lieder, – dänische Melodien, – eine dänische Predigt.
Die Predigt verstand ich nicht, und doch war ich tief bewegt. Die Erinnerung an ganz ähnliche Empfindungen tauchte auf, das war damals in der kleinen englischen Dorfkirche in Harpole gewesen, wo ich mich auch so fremd und losgelöst gefühlt hatte. Damals konnte ich doch die Sprache verstehen, und ich war frei, ich konnte gehen, wenn ich das einsame Leben nicht mochte. Das war jetzt anders! Ich wußte, fünf Jahre war mein Mann verpflichtet, in Nordschleswig zu bleiben. Fünf Jahre gebunden an eine Bevölkerung, die uns nicht wollte, deren Sprache und Sitten mir unbekannt waren. Alles mutete so fremd an. Stand da nicht mein Mann und redete eine Sprache, in der ich ihm nicht folgen konnte? Würde es mir möglich werden, mich durch diese eigenartigen Aufgaben hindurch zu tasten? Ein Stammeln würde meine Ausdrucksweise im günstigsten Falle werden. Würde es irgend ein Gebiet geben, wo die Gemeinde und ich uns finden würden? Nun, hier in der Kirche war das Verbindende, Einigende. Aber selbst damit würde es langsam vorwärts gehen. Auch für die Gemeinde, so schien mir, müßte es schwer sein, mit ihren Sorgen und Nöten zu ihrem Pastor zu gehen, der doch nicht einer aus ihrer Mitte war.
Dumpfe, unklare Angst umlagerte meine Seele.
Mein Blick fiel auf eine grellblau gemalte Nische, in der ein grobgeschnitzter Moses mit den Gesetzestafeln stand. Die Figur war mit weißem Lack überpinselt. Wer mochte sie geschnitzt haben? Gab es wohl noch Leute, die Interesse für dergleichen hatten? Hier war doch ein dunkler Drang nach künstlerischem Ausdruck. Wenn ein solcher Mensch in der Gemeinde lebte, mit dem ließe sich wohl anknüpfen, der würde Phantasie haben; denn sein inneres Schauen suchte durch die Darstellung nach Verständnis mit der Umgebung. Einer, in dem Kunstempfinden sich regte, der, so meinte ich, würde die Politik ausschalten. Religion und Kunst fragten wohl nicht nach »Dänisch und Deutsch«? Ach, nur eine Anknüpfung! Irgend etwas Gemeinsames! Nicht abseits stehen müssen! – Da sprach mein Mann den Segen, mit dänischen Worten aus deutschen Herzen, welcher Zwiespalt! – Würde dieser Segen die Kraft haben, Herde und Hirten innerlich zu verbinden?
Was für ein langer, einsamer Sonntag! Selbst mit unserer engsten Heimat, mit Haus und Garten, waren wir noch nicht vertraut. In der Blütenpracht wanderten wir umher wie Fremde. Über uns strahlende Schönheit, unter uns Verwahrlosung, Unkraut, üppige Brennesseln, und stolzer Heinrich; alles überragend: die feinen, weißen Dolden des Kälberkropfes, die sich wie ein geheimnisvoller, zarter Schleier über die Wildnis breiteten.
Aus dem blütenreichen Garten zog es uns nach dem erhöhten Aussichtspunkt, von wo man weit in die Ferne schaute. Wir spähten aus nach Menschen, der dunkle Punkt, der da den Hügel herab kam, das war einer. Die grelle Sonne beschien das Vorhemd, aber uns ging der fremde Mann nichts an. –
Nun hieß es aber Ernst machen mit dem Lernen. Ich nahm den »Kleinen Dänen« vor; vorn hatte mein Mann mit einem großen Ausrufungszeichen hineingeschrieben: »Beharrlichkeit führt zum Ziel!«
Ich lernte Redensarten, aber ich wollte gern zusammenhängende Geschichten lesen. »Was ich habe,« sagte mein Mann, »das ist für dich zu schwer. Vielleicht später einmal.« Als ich mir eines Tages etwas im Laden holte, da fragte ich den Wirt, ob er nicht ein Buch für mich habe. Sein Gesicht erstrahlte in heller Freude, und lebhaft rief er: »Sie wollen Dänisch lernen?! – Ich habe ja die dänische Volksbibliothek. Hier, sehen Sie!«
Das war, was ich suchte. Die Bücher waren äußerlich in keinem schönen Zustande, fleckig, Blätter fehlten, Stücke waren herausgerissen, was tat's, es blieb noch übergenug für mich nach. Es dauerte nicht lange, da las ich mich ganz in Brand mit den Ingemannschen Romanen. Ich sah im Geiste, wie die schöne Königin Dagmar bei Riepen landete und wie in der Domkirche das Dankfest gefeiert wurde. Ich sah, wie sich der Dannebrog direkt vom Himmel herniedersenkte, zum Zeichen, daß Gott mit den Dänen war. Es kam eine große Freude über mich, daß ich mir dieses geistige Gut aneignete. Der Wirt konnte seine Freude an meinem Eifer haben, denn ich holte mir nach und nach fast alle seine Bücher.
Mit dem Sprechen ging's schwerer, denn die Bauern sprachen Dialekt. Manchmal verlegte ich mich aufs Raten, ich riet aber oft vorbei, das sah ich dann an den erstaunten Gesichtern der Frauen.
Eines Tages war Butterlieferung. Wir erwarteten fast vierhundert Pfund Butter, die von den Frauen gebracht wurde.
Das brachte Leben und Aufregung! Den Tag vorher wurden viele verschiedene Sorten Kuchen gebacken, Kaffee geröstet und gemahlen und Zucker geschlagen. Die Pächtersfrau tat das Backen, das konnte ich nicht.
Am folgenden Tag kam der Wirt auf den Hof gefahren, er brachte eine Anzahl Buttertonnen und Salz mit. Ein großer Tisch zum Sortieren und Kneten der Butter stand in der Küche bereit. Mein Mann wog und schrieb an. Ich hatte mich sprachlich nach besten Kräften vorbereitet und brachte alle meine Weisheit an den Tag. Es waren schöne, stattliche Gestalten mit hübschen Gesichtern darunter. Die meisten sahen geringschätzig, gleichgültig auf mich herab, aber hie und da begegnete mein Blick doch auch einem Augenpaar, das mit Teilnahme und Mitleid auf mir ruhte. Ja, mit Mitleid, denn ich buhlte um ihre Liebe, fühlte ich mich doch so fremd und unsicher zwischen ihnen, und wie sehr braucht eine Frau die andere! Ich jedenfalls. Die Frauen hatten ihre soliden, selbst gesponnenen und gewebten Kleider an. Auf dem Kopfe trugen die jüngeren weiße, getollte Staatshauben mit breiten, buntseidenen Bändern, die sie unter dem Kinn zu einer stattlichen Schleife gebunden hatten. Ganz alte Frauen hatten dagegen eine enganschließende, steifgefütterte Seidenmütze, die mit einer handbreiten, steifgetollten Spitze das faltige Gesicht einrahmte.
Als ich sie alle versorgt hatte, setzte ich mich zu ihnen. Die Zunächstsitzende befühlte mein Kleid und fragte: »Ist das gekauft oder selbst gesponnen?«
Ich lachte und sagte, das sei natürlich gekauft.
Aber ich könnte doch spinnen? – Ich schüttelte den Kopf und sagte: »Nein, spinnen kann ich nicht.«
Nun wurde das Examen von einer anderen aufgenommen, und ich wurde gefragt, ob ich weben, ob ich färben, ob ich Bier brauen, ob ich Lichte ziehen, ob ich backen, ob ich melken könne. Und ich fiel im Examen glänzend durch. Nichts konnte ich! Nicht einmal ordentlich mit ihnen sprechen, denn ich mußte mich immer besinnen, und selbst dann radebrechte ich noch. Achselzuckend sagte eine: »Hun er en lille Stjamp!« Die anderen lachten und nickten, ich aber kämpfte mit den Tränen, ich fühlte, meine Niederlage war bestätigt, obgleich ich mir nicht klar war, was Stjamp bedeutete. – Immer mehr Frauen kamen, die ersten gingen in den Garten und machten den Neuangekommenen Platz am Kaffeetisch. Es war ein anstrengender Tag, und ich atmete auf, als wir endlich allein waren. Ich holte das Wörterbuch. »Was? So eifrig?« rief mein Mann, »was suchst du denn? Kannst mich ja nur fragen.«
Ich schwieg und suchte S. Ich fand nicht, was ich suchte und klappte das Buch zu.
»Nun?« sagte mein Mann.
»Ach,« sagte ich widerwillig, »ich suchte nur ein Wort. – – Was ist denn Stjamp?« platzte ich endlich heraus.
»Stjamp?« sagte mein Mann langsam, »das wirst du wohl nicht finden, das heißt – na – dumme Gans, Dummbart, – Dösbartel. – Haben sie das etwa von dir gesagt?«
Jetzt schluchzte ich los.
Mein Mann schwieg eine Weile, dann sagte er zögernd: »Sie dachten natürlich, du würdest es nicht verstehen, es ist gerade kein Schriftwort.« – Nach einer Pause fuhr er fort: »Nimm es nicht schwerer, als es gemeint ist.«
Ich sah empört auf.
»Du gibst also zu, daß sie es gemeint haben,« sagte ich erregt.
»Aber natürlich! Das haben sie gemeint!«
»Das sagst du so! Du meinst es womöglich auch?!«
»Natürlich,« spottete mein Mann, »deshalb habe ich dich doch genommen. Es ist doch so bequem, eine kleine Gans zur Frau zu haben.«
»Du bist grausam! Du fühlst nicht mit mir!«
Mein Mann nahm seinen Stuhl und zog ihn an meine Seite, dann legte er den Arm um mich und fragte: »Sag' mal, hast du Phantasie?«
»Wieso?«
»Wenn du die hast, dann versetz dich mal ein paar Minuten in die Seele der hiesigen Bauerfrauen. Zu ihrer Pastorin möchten sie aufsehen. Alle die Künste und Fertigkeiten, zu denen sie von Kindheit an erzogen worden, davon besitzest du auch nicht eine. Sie sind tüchtig, und Tüchtigkeit schätzen sie. Ihr Leben und ihr ganzes Interesse dreht sich um diese Dinge. Nicht einmal sprechen kannst du mit ihnen, und dann erwartest du, daß sie Respekt vor dir haben. Wo soll denn der herkommen, wenn du keine ihrer Fertigkeiten kannst?«
»Wären wir doch nur erst hier wieder weg! Wären die fünf Jahre erst um, die du hier bleiben mußt!«
»Habe ich je gesagt, daß wir nach fünf Jahren gehen?«
»Nein, aber dann kannst du doch!«
»Was habe ich dir in den Kleinen Dänen geschrieben? ›Beharrlichkeit führt zum Ziel!‹ Sie kennen die Deutschen nicht, wollen wir ihnen nicht zeigen, daß auch wir tüchtig sein können? Erst mal in der Ausdauer! Sie sollen sehen, daß wir tapfer auf unserm Posten stehen, und daß wir willens sind, ihnen zu helfen, nach unserer Begabung und Kraft. Wir wollen werben, wie Jakob um Rahel warb, vielleicht geht es uns wie ihm, wir erwerben vielleicht in Jahren die Achtung, ob je die Liebe? Es soll aber doch unser Ziel sein! Ob wir's erreichen, das steht bei Gott!«
Wir erwarteten unser erstes Kind. Dieses Ereignis stand mir sehr bevor, und wir erkundigten uns, wen wir zu meinem Beistand rufen könnten. Man sagte uns: im nächsten Dorf wohnt eine Alte und eine Junge. Die Alte ist die Bewährte. Die Junge ist vom Physikus während eines Jahres suspendiert, da ihr mehrere Frauen im Kindbettfieber gestorben sind. Das Jahr ist allerdings schon seit einiger Zeit beendet, aber niemand will sich ihrer Hilfe anvertrauen. Also würde es, mußte es die Alte sein! Nach einiger Zeit meinte mein Mann: »Wollen wir nicht doch die Junge mal kommen lassen?«
»Die Junge?« sagte ich erstaunt, »aber –«
»Ja, ja, ich weiß, aber meinst du nicht, daß sie sich nach dieser schweren Erfahrung doppelt zusammennimmt? Wenn wir vorangehen und Mut zeigen, dann wird sie, wenn es ihr hier gelingt, wieder in Aufnahme kommen, und das möchte man ihr doch gönnen!«
Ich lud Stine zum Kaffee ein, und da machte ich die angenehme Entdeckung, daß sie außer ihrer Kunst in Kiel auch etwas Deutsch gelernt hatte. Wohl oder übel, ich hatte mich mit ihr zurechtzufinden.
Das tägliche Brot machte mir viel zu schaffen. Wiederholt versuchte ich zu backen, aber es wollte mir bei dem Torffeuer nicht gelingen, es blieb glitschig. Da war ich froh, daß wöchentlich einmal ein Mann aus Höxbro kam und mir Weißbrot brachte. Aber auch das hatte allerlei Schwierigkeiten. Kam er im Sonnenbrand über die Heide, so war das Brot in Zwieback verwandelt, kam er im Regen, so war es durchgeweicht, und nach einigen Tagen wuchs ihm ein feiner Bart, den ich erst wegrasieren mußte, ehe ich es auf den Tisch brachte.
Nach einiger Zeit hatten wir Milchlieferung. In Kirkeby war die Sache einfach. Die Mägde brachten mir von den verschiedenen Höfen die Milch ins Haus, und ich konnte meinen Käse in aller Gemütlichkeit machen. Die Verordnung war, wir sollten an einem bestimmten Tage die gesamte Mittagsmilch geliefert bekommen. Im Einnahmeprotokoll stand, daß wir von dieser gelieferten Milch einige achtzig Pfund Käse bekommen würden.
Zur Gemeinde gehörten vier Dörfer. In die übrigen drei Dörfer ging ich mit meinem Mädchen, um auf einem bestimmten Hofe, auf dem vorher Bescheid gesagt war, die Milch den Mägden abzunehmen. Dem Mädchen gab ich in ihren Armkorb Met, Kuchen, Salz, Kümmel und ein Fläschchen mit Kälberlab. Die Mägde wurden auf dem fremden Hofe von mir mit Met und Kuchen bewirtet. Wenn alle Milch da war, setzten wir einen großen Kessel voll über Feuer, fügten etwas von dem aufgelösten Kälberlab dazu, der brachte die Milch zum Gerinnen; der Quark wurde von uns ausgedrückt und in eine mit einem Tuch ausgelegte Form getan. Das Ganze wurde scharf ausgepreßt, schließlich mit einem großen Stein beschwert, und nach acht Tagen konnte der Käse abgeholt werden, da er dann soviel Festigkeit hatte, daß er transportiert werden konnte. Die Bauern waren an dem Tage sehr gastfrei zu uns. Wenn die Arbeit getan war, wurden wir eingeladen, mit ihnen zu essen.
Alles ging gut, bis ich ins letzte Dorf kam. Es war das erstemal, daß die Mägde statt mit vollen Eimern nur mit einem Henkeltopf voll Milch kamen. Ich fragte die Bauerfrau, ob hier die Höfe kleiner seien, da verhältnismäßig hier so wenig Milch käme. Der Bauer hatte meine Frage gehört, und er schrie mich wütend an, schalt mich »deutsches Pack« und sagte, daß wir eine unverschämte Bande seien. Zu bedanken hätten wir uns, daß sie uns, die sie gar nicht haben wollten, Milch, Butter und Korn gäben. Zum Kuckuck sollten wir uns scheren! Ich hätte mich solchem Wutanfall gegenüber nicht einmal in deutscher, viel weniger aber in dänischer Sprache verteidigen oder wehren können. Ich schluckte schweigend an meinen Tränen. Wie gern hätte ich alles im Stich gelassen und wäre davongelaufen, aber ich blieb auf meinem Posten und beendete meine Arbeit, dann schleppte ich mich todtraurig und elend nach Hause.
In der Nacht schickten wir Pächters Knecht Ole zur kleinen Stine.