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Mit schwerem Herzen packte ich in der Osterzeit meinen Koffer und nahm weinend Abschied von dem guten Fräulein Trabert. Wir schieden mit der festen Versicherung meinerseits, daß ich nach beendeter Prüfung in Wolfenbüttel wieder hierher zurückkommen würde. Wie oft war geplant worden, daß ich, sobald ich selbst über mich verfügen könne, Fräulein Traberts Nachfolgerin werden solle.
»Denk nur, welche Ehre für dich! Der Eisenacher Kindergarten ist der erste in ganz Deutschland!« sagte Fräulein Trabert.
Dieses schöne Ziel tröstete mich einigermaßen über den schweren Abschied. –
Am Nachmittag traf ich auf dem Wolfenbütteler Bahnhof ein. Nach einigem Suchen fand sich ein etwa zwölf Jahre alter Junge, der mir die Hutschachtel trug und mir als Führer ins Institut diente. Durch die stille Stadt führte er mich vorbei an ruhigen Gärten, bis er nach etwa zwanzig Minuten vor einem langgestreckten, einstöckigen Hause halt machte. »Hier ist es!« sagte er, gab mir die Hutschachtel und zeigte auf die Pforte. Der Junge war fort, auf den steinernen Stufen stand mein Handgepäck. Ich hatte keine Eile die Tür zu öffnen, noch war ich frei! War ich erst über diese Schwelle getreten, dann gehörte ich einer anderen Welt an. Wie würde es mir hier ergehen? Seufzend ließ ich meinen Blick von dem weinumrankten Haus durch den großen Garten schweifen, der im Hintergrunde durch einen herrlichen Wald abgegrenzt wurde. Dann öffnete ich zaghaft. Ich stand in einer geräumigen Halle, Tische waren hufeisenförmig zusammengestellt und junge Mädchen mit weißen Achselschürzen gingen geschäftig ab und zu und ordneten die Tafel. Ich hatte den Blick in ein angrenzendes Zimmer und sah, daß auch hier an langen Tafeln gedeckt war. Es wäre mir nun sehr lieb gewesen, wenn eins der jungen Mädchen mich gesehen hätte, aber alle waren so in ihre Arbeit vertieft, daß selbst mein wiederholtes Räuspern nichts half. Hilflos sah ich mich um, da fiel mein Blick auf einen Klingelzug, daran stand: Bitte klingeln! Ich zog und ein leiser, schüchterner Ton zitterte durch den Raum. Nun sah eins der jungen Mädchen herüber zu mir und fragte, was ich wünsche.
»Ich möchte zu Fräulein Breymann,« sagte ich leise.
Nun standen alle still und sahen zu mir herüber. Die eine rief: »Henriette ist im Mittelzimmer!«
Sie trat auf mich zu, nahm mir Hutschachtel und Schirm ab und forderte mich auf, ihr zu folgen. Oben öffnete sie eine Tür, die in ein niedriges aber sehr behagliches Zimmer führte. An dem mit Büchern belegten Tisch stand eine imposante Erscheinung, die mir bei meinem Gruß ihr kluges, geistvolles Gesicht zukehrte. Ein erstaunter, fragender Blick aus klaren, blauen Augen ruhte hoheitsvoll auf meiner kleinen, unbeholfenen Gestalt. Ein peinlicher Augenblick, dann fragte die Dame: »Was wünschen Sie?«
Was ich wünschte?! Ich überlegte, dann sagte ich: »Ich möchte zu Fräulein Breymann.«
»Das bin ich! – Und wer sind Sie?«
»Ich, – ich – bin Charitas Dietrich.«
Nun kam die Dame auf mich zu und fragte, ob ich mich angemeldet hätte.
»Ja,« sagte ich, »war der Brief nicht angekommen?«
»Ich werde meine Schwestern fragen, es muß ja ein Versehen passiert sein, sonst hätte dich jemand abgeholt. Wir nennen einander hier alle ›du‹. Ich heiße Henriette, mit mir arbeiten an der Anstalt noch mein Bruder Karl und meine Schwestern Anna, Marie, Albertine und Hedwig. Du wirst sie nachher alle kennen lernen. Jetzt aber komm, ich will dir im Schlafsaal deine Zelle zeigen.«
Zitternd vor Aufregung folgte ich der königlichen Erscheinung. Wie merkwürdig erschien mir der Schlafsaal mit den vielen abgeteilten Zellen. Henriette schlug einen Vorhang zurück, da saß vor uns ein junges Mädchen und drehte sich vorm Spiegel ihre Locken über einen Lockenstock. Henriette stellte vor: »Annette, dies ist Charitas Dietrich.«
Nun wurde mir meine Zelle gezeigt. Ich machte mich zurecht, und als es jetzt laut und lange klingelte, eilten wir hinunter. Ach, so viele neue Gesichter! Mein Platz war neben Mademoiselle, und ich fühlte mich im höchsten Grade ungemütlich, als ich merkte, daß an diesem Tische nur Französisch gesprochen wurde. Wie sicher sich die jungen Mädchen benahmen. Ob ich wohl je im Leben ein so zuversichtliches, festes Auftreten bekommen würde? Ich litt sehr an Heimweh und sehnte mich in den kleinen Kreis zu Fräulein Trabert zurück.
Am nächsten Vormittag wurde ich zu Henriette gerufen. Sie saß am Schreibtisch, zeigte auf den Stuhl in ihrer Nähe und unterzog mich einem Examen.
»Morgen,« so sagte sie, »wirst du deinen Stundenplan bekommen. Willst du das Ziel erreichen, Lehrerin zu werden, so mußt du sehr ernst arbeiten. Wir sorgen für Ruhe und Regelmäßigkeit. Die Nachtstunden werden nicht zum Arbeiten verwandt, da wird geschlafen. Die nötige Erholung wird euch auch gewährt. Jeden Sommer wird ein Ausflug in den Harz unternommen, gelegentlich werden auch Feste gefeiert. Ihr Neuen habt es diesmal gut getroffen, mein Bruder Karl reist heute zu seiner Hochzeit, in acht Tagen kommt er mit seiner Frau Luischen und da werdet ihr zum Empfang des jungen Paares etwas aufführen. Ist dein weißes Kleid in Ordnung? Sonst gib es nur gleich zur Wäsche. Hast du Goldkäferschuhe?«
Ich gestand, daß ich weder ein weißes Kleid noch Goldkäferschuhe besaß.
»O,« sagte Henriette, »dann geh nur gleich zu Anna, die bestellt dann den Schuster und die Schneiderin hierher. Wende dich überhaupt mit allen äußeren Fragen immer an Anna. Wegen der Aufführung mußt du dich aber an Marie wenden.«
Ich war entlassen, und da ich sah, daß die jungen Mädchen draußen waren, ging ich auch hinaus. Dicht bei der Laube standen mehrere beieinander. Sie waren in lebhafter Unterhaltung und ich hörte, wie die eine sagte: »Wenn nur Herr Heider heute genug Silberpapier mitbringt!«
»Wir haben's ihm doch gesagt.«
»Ja, aber wir brauchen furchtbar viel! Denkt an all die Fische, Netze, Köcher, Pfeile und Sicheln. Mit euch Neuen wird's eine schöne Krebsarbeit werden,« wandte sich jetzt eine an mich.
Ich sah sie verständnislos an, da rief eine: »Bist du schon mal bei einer Aufführung beteiligt gewesen?«
»Meinst du bei einer Theateraufführung? Ja, gewiß! Ich habe einmal als Kind im ›Schmied von Marienberg‹ mitgespielt.«
»Nein,« rief jetzt ein junges Mädchen, das sie Toni nannten, »eine Theateraufführung ist es diesmal nicht. Wir haben selbst etwas gedichtet und der Musikdirektor in Wolfenbüttel hat es komponiert, wir singen und tanzen einen Reigen dazu. Kannst du singen?«
»O, ich singe so gern!« rief ich lebhaft.
»Nun, das ist gut!« sagten sie.
Dann fragte Toni: »Kannst du auch tanzen?«
»Nein, ich habe noch nie getanzt.«
»Noch nie getanzt? Wie sonderbar! Hoffentlich machst du Marie nicht zu viel Mühe.«
Ich zuckte die Achseln. »Aber,« sagte ich, »was habt ihr denn gedichtet?«
»O, das müssen wir dir erzählen. Wir haben unsere Umgebung personifiziert. Wir sind umgeben von Wald, Wasser, Gärten und Feldern. Dementsprechend kommen Jägerinnen, Fischerinnen, Gärtnerinnen, Schnitterinnen. Die verschiedenen Gruppen bringen tanzend und singend dem neuvermählten Paare ihre Gaben dar. Denkst du's dir nicht wunderhübsch?«
Ich sah bewundernd zu ihnen auf und sagte unsicher: »Was ihr hier alles könnt! Ich kann mir ja noch keinen Begriff davon machen, da ich noch nie einen Reigen gesehen habe. Mich selbst laßt aber doch ja draußen, ich möchte euch doch kein Hindernis sein, oder euch gar die Sache verderben. Laßt mich nur zusehen.« »Das möchtest du wohl! Nein, das gibt's nicht, alle müssen mittun! Singen kannst du, wie du meinst, na – und Tanzen, das liegt einem doch in den Gliedern. Du mußt aber für die Übungen einen Turnanzug haben, hast du schon einen?«
»Nein, ich habe nie geturnt.«
»Dann komm nur gleich mit, wir wollen dir einen anprobieren, den kannst du ja benutzen bis der deinige fertig ist.«
Wir gingen hinein und nach einigen Minuten hatten sie mich umgekleidet. Mir war in den Pumphosen und dem kurzen Röckchen sehr unbehaglich zumute. Ein ähnliches Gefühl hatte ich schon einmal gehabt, das war damals bei Götzes, als ich im Hemdchen zu Schuster Talkenbergers gemußt hatte. Linkisch und verschämt sah ich an mir herunter.
»Nun stell' dich doch bloß nicht so an!« rief Toni zurechtweisend.
Es klingelte.
»So,« sagte Toni hastig, »nun hab' ich mich noch gar nicht umgezogen, aber das geht schnell, ich geh' oben in die Badestube. Da kommen sie, stell' dich da an die Wand, ich bin in ein paar Minuten wieder hier.«
Und nun füllte sich die Turnhalle, alle hatten sie dieselben Turnanzüge an wie ich, sogar Marie. Jetzt wurden wir Neuen im Singen geprüft. As ich dran kam, nickte Marie und sagte: »Das geht.« Dann wurden wir in Gruppen geteilt und die Schrittübungen für den Reigen begannen. Wiegegang sollten wir üben. Marie saß am Klavier, aber ihre Blicke kontrollierten unsere Füße. Sie zählte, taktierte, dazwischen stand sie auf und machte uns vor, was wir tun sollten, aber trotz aller Mühe wollten mir die Füße nicht gehorchen.
»Ist das auf den Zehen schweben? Du hältst ja nie Takt! Nimm dich doch zusammen, es ist doch keine Hexerei! So, noch mal! Eins – zwei – jetzt schweben! Die Arme haben gar nichts damit zu tun! Du brauchst dich nicht festzuhalten, du fällst nicht! Bist du aber ungeschickt! Du hältst uns ja so auf! Geh zurück, dich muß ich nachher allein vornehmen.«
Alle sahen nach mir hin und lachten. Wenn ich doch nur davon bleiben dürfte! –
Am Nachmittag während einer Pause rief mich Marie, und sagte, ich möge mich schnell umziehen, sie wolle mit mir üben. Als wir allein in der Turnhalle waren, faßte ich mir ein Herz und bat, ob ich nicht draußen vor bleiben könnte.
Marie sagte: »Nein, das darfst du nicht! Es gehört mit zu deiner Erziehung, daß du die Herrschaft über deine Glieder gewinnst. Das ist dir nicht bequem, aber wir sind nicht da, um es bequem zu haben. Tanzen wirst du nie lernen, das ist auch weiter kein Unglück, aber wenn du mit Kindern verkehren willst, ist eine gewisse Anmut in der Bewegung Bedingung, also vorwärts!«
Am Nachmittag zogen wir wieder in die Turnhalle und Herr Heider kam. Herr Heider war der Buchbinder aus Schöppenstedt, der einmal in der Woche Unterricht im Pappen und Büchereinbinden gab. Heute wurde nur für die Aufführung gearbeitet, es wurde zugeschnitten, gepappt und geleimt. Herr Heider hätte sich vierteilen können, soviel wurde er immer gerufen und um Rat gefragt. Ich erwies mich auch hierbei, da ich ängstlich war, ungeschickt und linkisch und einmal hörte ich, wie am andern Tische gesagt wurde: »Die Neue kann aber auch gar nichts!« Ich fühlte, daß ich gemeint war, denn den andern ging es viel besser, da dachte ich mit heimlichem Seufzen: ›Wenn doch erst der Tag zu Ende wäre!‹ In der Nacht träumte ich von weißen Kleidern, Goldkäferschuhen, gepappten Silberfischen, und dazwischen hörte ich Mariens Stimme: »Schweben! Schweben mußt du!«
Den Tag vorm Fest holte August, der Gärtner, Unmengen von Grün und wir alle saßen in der Turnhalle und wanden Girlanden, dazu sangen wir unsere Festlieder.
Da sagte Gretchen: »Nun hört mal auf mit Singen, man muß sich doch frisch für morgen erhalten. Ich schlage vor, eine von uns erzählt eine Geschichte. Wir Alten haben gedichtet, nun mag mal eine von den Neuen auch etwas tun! Charitas kannst du uns keine Geschichte erzählen?«
Ich sträubte mich, das half mir aber nichts.
Da fing ich stockend Jane Eyre an.
Zuerst hörte auch niemand hin, sie riefen einander zu, sie wollten Bindfaden, – eine Schere, – mehr Grün, – aber endlich kam Ruhe und mit der Zeit wurde ich etwas sicherer und endlich merkte ich, daß sie zuhörten.
Als ich fertig war, sagte Gretchen: »Weißt du noch mehr solche Geschichten? Du mußt uns mal wieder eine erzählen.«
Am folgenden Tage standen wir erwartungsvoll in unserm schönsten Staat in der Turnhalle. Endlich kam das junge Paar. Auf den großen Sesseln nahmen sie Platz. Die junge Frau war zart, sie war blaß, ihre braunen Augen ruhten freundlich auf der geputzten Schar. Nun gab Marie das Zeichen und begeistert sangen wir:
»Euch grüßen die Lieder,
Euch duftet das Grün,
Euch kleidet der Himmel sich blau.
Schon zieren ja Rosen mit wonnigem Glühn
Dich selber, dich selber, du liebliche Frau.«
Und an diese Begrüßungsstrophen schlossen sich die verschiedenen Gruppen, die dann ihre Tribute dem jungen Paar zu Füßen legten.
Nach dem Fest ging die ernste Arbeit an, und da lernten wir die Geschwister Breymann in ihrer verschiedenen Veranlagung, in ihrem Fleiß und ihrer hohen Begabung kennen, so daß die Zeiten gemeinsamer Arbeit die schönsten waren, schöner als die Feste, da sich in den Unterrichtsstunden erst der ganze Reichtum erschloß, der uns zugute kam. Wie verstand es Henriette, uns zu begeistern, aber sie verstand auch zu organisieren, sie stellte die Persönlichkeiten an die geeignete Stelle, sie steckte hohe Ziele, aber sie half auch sie verfolgen.
Während der vier Jahre, die ich in ernster Arbeit – im letzten Jahr war ich Lehrerin an der Schloßschule in Wolfenbüttel – verbrachte, standen wir auch an Särgen. Marie und Hedwig wurden mitten aus ihrer Wirksamkeit in die ewige Heimat gerufen.
Ich aber folgte einem Vorschlag von Frau Doktor Meyer und ging von hier aus auf zwei Jahre nach London.
Von London kam ich, dreiundzwanzig Jahr alt, nach Deutschland zurück, und zwar in das Haus von Doktor Meyers nach Kiel.