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Der syrische Priester erwachte in seiner Ecke auf dem Hausdache von einem Traume, daß eine Myriade von Gesichtern, gierig, lauernd und furchtbar, in sein eigenes blickten, und in Schweiß gebadet und nach Atem ringend setzte er sich auf. Einen Augenblick dachte er wirklich, seine letzte Stunde habe geschlagen, und es umgebe ihn bereits die geistige Welt. Dann, als er mit sich kämpfte, kehrten seine Sinne zurück, und er erhob sich, in langen Zügen die Nachtluft einsaugend.
Der Himmel über ihm war schwarz und leer; kein Schimmer von Licht war daran zu sehen, obwohl der Mond sicher bereits aufgegangen war. Er hatte ihn vor vier Stunden gesehen, eine rote Sichel, die sich über dem Tabor erhob. Über der Ebene, die er vom Dache aus überblickte, sah man nichts. Auf wenige Meter hin lag über dem brüchigen Boden die gekrümmte Linie eines Lichtstrahles, der aus den halbgeschlossenen Läden drang; darüber hinaus – nichts. Gegen Norden – nichts; im Westen ein bleicher, gelblicher Schimmer über den Hausdächern Nazareths; nach Osten hin – nichts. Er hätte, abgesehen von jenem Lichtstreifen und dem grauen Schimmer, den das Auge nicht klar zu fassen imstande war, meinen mögen, sich auf einer Turmspitze zu befinden.
Auf dem Dache aber war es doch wenigstens möglich, Umrisse zu erkennen, denn die Falltüre über der Stiege war offen gelassen worden, und von irgendwo aus der Tiefe des Hauses stahl sich der schwache Widerschein von Licht herauf.
Ein weißes Bündel lag dort in der Ecke; es mochte wohl das Kissen des Benediktinerabtes sein. Er hatte ihn sich dort hinlegen sehen vor – waren es vier Stunden oder vier Jahrhunderte? Ein grauer Schatten lag dort an der Mauer entlang hingestreckt – wohl der General der Minderbrüder; da und dort zu beiden Seiten noch einige andere unregelmäßige Umrisse, die das Grau der Umfassungsmauer unterbrachen.
Sehr leise, denn er kannte die Launen des Schlafes, schritt er über das Pflaster des Daches nach der entgegengesetzten Seite hinüber und einem inneren Drange folgend, sich zu versichern, daß er sich noch in einer Umgebung von Fleisch und Blut befand, blickte er hinab. Ja, in der Tat, er befand sich noch auf Erden, denn dort war ein wirkliches, klar erkennbares Licht, das zwischen den abfallenden Felsentrümmern brannte und daneben, zierlich wie eine Miniatur, das Haupt und die Schultern eines Mannes, der schrieb. Und im Umkreise des Lichtes waren andere Gestalten und helle, formlose Flecken, auf denen Männer lagen. Einige Stangen, aufgerichtet in der Absicht, ein Zelt zu erbauen, ein kleiner Haufen von Gepäckstücken mit einer groben Wolldecke darüber, und über den Lichtschein hinaus verschwanden weitere Umrisse und Schatten in der undurchdringlichen Finsternis.
Nun bewegte der schreibende Mann sein Haupt, und ein monströser Schatten schoß über den Boden; ein Bellen, wie von einem erstickenden Hunde brach plötzlich dicht hinter dem Priester aus, und als er sich umwandte, setzte sich stöhnend eine Gestalt aufrecht und gähnte sich wach. Eine weitere bewegte sich bei diesem Geräusche, und als mit einem Seufzer die erstere wieder schwer gegen die Mauer sank, kehrte der Priester zu seinem Platze zurück, wieder zweifelhaft geworden an der Wirklichkeit dessen, was er sah, und das von keinem Hauche unterbrochene Schweigen trat wieder ein.
Er erwachte wieder aus traumlosem Schlafe, doch diesmal lag ein äußerer Grund vor. Als er sich aus seinem Winkel erhob, traf seine Augen etwas wie ein unerträglicher Glanz, der sich, als er näher zusah, in ein Kerzenlicht, einen weißen Ärmel und höher hinauf in ein ebensolches Gesicht auflöste. Er begriff und erhob sich taumelnd; es war der Bote, der gekommen war, ihn abzuholen, wie verabredet worden war.
Als er den Raum entlang schritt und nochmals um sich blickte, schien es, als ob die Dämmerung anbreche, denn jener entsetzliche Himmel über ihm wurde endlich sichtbar. Ein ungeheures Gewölbe, rauchfarbig und undurchsichtig, schien sich zu dem gespensterhaften Horizont an beiden Seiten herniederzusenken, dort, wo die fernen Hügel sich in scharfen Umrissen wie aus Papier geschnitten erhoben. Der Karmel lag vor ihm, wenigstens schien es noch so – der Kopf und Nacken eines Stieres, weit vorgeschoben und in einen steil ausgehenden Winkel abfallend; und darüber wölbte sich der glimmende Himmel. Keine Wolke, nichts unterbrach die riesenhafte, gleichmäßig fahle Kuppel, unter deren Mittelpunkt dies Dach gesetzt schien. Im Begriffe, die Treppe hinabzusteigen, fiel sein Blick auf die über die Umfassungsmauer emporsteigende, langgestreckte und jetzt in ein trübes Dämmerlicht gehüllte Ebene Jezrael. Es war alles so unreal wie das phantastische Gemälde eines Malers, der nie klares Sonnenlicht geschaut. Und das Schweigen war ein vollkommenes, tiefes.
Er durchschritt die tanzenden Schatten und folgte der weißgekleideten Gestalt, deren Haupt unter der weißen Kapuze verschwand, die Treppe hinab und durch den schmalen Gang, wobei er einmal gegen die Füße eines Menschen stieß, der mit lose hingeworfenen Gliedern wie ein müder Hund dalag; die Füße zogen sich mechanisch zurück, und ein kurzes Stöhnen brach aus dem Schatten hervor. Dann schritt er an dem zur Seite tretenden Diener vorüber und trat ein.
Hier waren ein halbes Dutzend Männer versammelt; schweigend, alle in Weiß gekleidet, standen sie getrennt umher und beugten das Knie, als gleichzeitig der Papst durch die gegenüberliegende Türe eintrat, erhoben sich wieder und verharrten in erwartungsvollem Ernste. Der Priester war hinter den Stuhl seines Herrn getreten und ließ, während er dort wartete, sein Auge unter den Versammelten umherwandern. Es waren zwei darunter, die er von der letzten Nacht her kannte – der brünette Kardinal Ruspoli und der hagere australische Erzbischof – außer Kardinal Corkran, der vor seinem Stuhle am Tische des Papstes stand und einige Papiere vor sich liegen hatte.
Silvester setzte sich und lud mit einer einfachen Handbewegung die anderen ein, ein Gleiches zu tun. Dann begann er sofort in jenem ruhigen, müden Tone, den seine Untergebenen so gut kannten.
»Eminenzen – ich glaube, wir sind vollzählig. Wir brauchen damit keine Zeit mehr verlieren … Kardinal Corkran hat einige Mitteilungen zu machen –« Er wandte sich ein wenig zur Seite. »Father, setzen Sie sich, bitte. Dies wird einige Zeit in Anspruch nehmen.«
Der Priester schritt zu dem steinernen Fenstersitz hinüber, von wo aus er die Züge des Papstes im Lichte der beiden Kerzen, die nun auf dem Tische zwischen diesem und dem Kardinal-Sekretär standen, beobachten konnte. Dann, von seinen Papieren aufblickend, begann er:
»Heiligkeit, es wird gut sein, etwas weiter auszuholen. Ew. Eminenzen kennen die Einzelheiten doch nicht vollkommen …«
»Am Freitag der vergangenen Woche erhielt ich in Damaskus von mehreren Prälaten und aus verschiedenen Teilen der Welt Anfragen bezüglich sofortiger Maßnahmen gegenüber der neuen Verfolgungspolitik. Zuerst konnte ich nichts Bestimmtes sagen, denn es war erst nach zwanzig Uhr, daß mich Kardinal Ruspoli in Turin von den Tatsachen unterrichtete. Kardinal Malpas bestätigte jene Mitteilung wenige Minuten später, um dreiundzwanzig Uhr auch der Kardinal-Erzbischof von Peking. Kurz vor Samstag mittag ging mir die endgültige Bestätigung von meinen Vertrauensleuten in London zu. Ich war zuerst überrascht, daß Kardinal Dolgorovsky nichts berichtete, denn nahezu gleichzeitig mit der Turiner Depesche erhielt ich eine andere von einem Priester des Ordens Christi des Gekreuzigten in Moskau, der ich natürlich keine Beachtung schenkte. (Es ist bei uns Regel, Eminenzen, unautorisierte Mitteilungen so zu behandeln.) Se. Heiligkeit beauftragte mich jedoch, Erkundigungen einzuziehen, und ich erfuhr von Pater Petrovski und anderen, daß auf den Regierungsplakaten die Nachricht um zwanzig Uhr, nach unserer Zeit, bekanntgegeben worden war. Es mußte daher auffallen, daß der Kardinal nichts bemerkt hatte; würde er dies getan haben, so wäre es natürlich seine Pflicht gewesen, uns unmittelbar davon Mitteilung zu machen.
»Seit diesem Zeitpunkte stellten sich jedoch die folgenden Tatsachen heraus. Es steht über jeden Zweifel fest, daß Kardinal Dolgorovsky im Verlaufe des Abends einen Besuch erhielt. Sein eigener Kaplan, der, wie Ew. Eminenzen vielleicht bekannt ist, in Rußland für die Kirche sehr viel gearbeitet hat, teilt uns dies privat mit. Und dennoch bleibt der Kardinal zur Erklärung seines Stillschweigens dabei, er sei während jener Stunden allein gewesen und habe Befehl erteilt gehabt, ohne dringendsten Grund niemanden vorzulassen. Dies bestätigte natürlich die Vermutung Sr. Heiligkeit, doch erhielt ich Befehl, zu handeln, als ob nichts vorgefallen sei und den Kardinal zu beauftragen, sich hier mit den übrigen Mitgliedern des heiligen Kollegiums einzufinden. Darauf empfing ich die Antwort, Se. Eminenz würde anwesend sein. Gestern jedoch, wenige Minuten vor Mittag, ging mir eine weitere Mitteilung zu: Sr. Eminenz sei ein leichter Unfall zugestoßen, er hoffe aber noch, sich rechtzeitig zu den Beratungen einfinden zu können. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.«
Todesstille folgte den Worten.
Dann wandte sich der Papst nach dem syrischen Priester.
»Father«, sagte er, »Sie waren es, der den Auftrag Sr. Eminenz empfing. Haben Sie dem Gesagten etwas hinzuzufügen?«
»Nein, Heiligkeit.«
Er wandte sich noch weiter zur Seite.
»Mein Sohn«, sagte er, »berichte Uns öffentlich, was du Uns bereits privat berichtet hast.«
Ein kleiner, helläugiger Mann trat aus dem Schatten hervor.
»Heiligkeit, ich war es, der die Botschaft an Kardinal Dolgorovsky überbrachte. Er weigerte sich anfangs, mich zu empfangen. Als ich vorgelassen wurde und den Befehl ausrichtete, schwieg er; dann lächelte er und sagte mir, ich solle die Antwort überbringen, er würde gehorchen.«
Schweigend saß der Papst.
Da erhob sich plötzlich die hochragende Gestalt des Australiers.
»Heiligkeit«, begann er, »ich war einst sehr befreundet mit diesem Manne, es geschah teils durch meine Vermittlung, daß er Aufnahme in die katholische Kirche suchte. Dies war vor mindestens vierzehn Jahren, damals, als die Schicksale der Kirche eine Wendung zum Besseren zu nehmen schienen. Unsere freundschaftlichen Beziehungen hörten vor zwei Jahren auf, und ich darf wohl sagen, daß es mir, nach dem, was ich von ihm gehört habe, nicht schwer fällt, zu glauben –«
Als seine Stimme vor Leidenschaft zitterte und er stockte, erhob Silvester die Hand und sprach:
»Wir wünschen keine Beschuldigungen. Selbst die offenkundige Tatsache hat jetzt weiter keinen Wert mehr, denn was geschehen mußte, ist geschehen. Was Uns selbst betrifft, so hegen Wir hinsichtlich der Natur der Sache keinen Zweifel … Dies ist der Mann, dem Christus durch unsere Hände den Bissen reichte mit den Worten: Quod facis, fac citius. Cum ergo accepisset ille bucellam, exivit continuo. Erat autem nox.«
Wieder herrschte Schweigen, und in diese Pause drang ein langgezogener, halblauter Seufzer von draußen herein. Er kam von einem der Schläfer, der sich auf die andere Seite gelegt, denn der Gang war bedeckt mit erschöpften Menschen – es klang, wie das Seufzen einer Seele, die vom Lichte in die Finsternis hinabsinkt.
Dann ergriff Silvester wieder das Wort. Und während er sprach, begann er wie mechanisch ein langes, mit Reihen von Namen bedecktes Schriftstück, welches vor ihm lag, durch die Finger gleiten zu lassen.
»Eminenzen, es ist die dritte Tagesstunde. In zwei Stunden werden Wir in Ihrer Gegenwart die heilige Messe lesen und die heilige Kommunion austeilen. Während dieser zwei Stunden werden Sie allen hier Versammelten das mitteilen, was Sie gehört haben. Ferner erteilen Wir einem jeden der Anwesenden Jurisdiktion ohne Einschränkung von Zeit und Ort; Wir gewähren einen vollkommenen Ablaß allen jenen, die an diesem Tage beichten und kommunizieren. Father« – er wandte sich an den Syrer – »Father, Sie werden jetzt das Allerheiligste in der Kapelle aussetzen und darnach in das Dorf gehen, um die Bewohner zu verständigen, daß, wenn sie ihr Leben retten wollen, sie gut daran tun würden, sich sofort auf den Weg zu machen – sofort, verstehen Sie!«
Der Syrer erwachte aus seiner Betäubung.
»Heiligkeit«, stammelte er, die Hand ausstreckend, »die Listen, die Listen!« Er hatte gesehen, was sie waren.
Doch Silvester lächelte nur, während er die Fetzen davon auf den Tisch streute. Dann stand er auf.
»Sorge dich nicht, mein Sohn … Wir werden ihrer nicht mehr benötigen …«
»Ein letztes Wort, Eminenzen … Wenn jemand hier in Zweifel oder Furcht ist, ich habe noch etwas zu sagen.«
Mit einer außerordentlichen Bedachtsamkeit hielt er inne und ließ die Augen über die in Spannung ihm zugewandten Gesichter wandern.
»Ich hatte eine Vision Gottes«, sagte er sanft, »mein Glaube ist in Schauen übergegangen.«
Ermattet schleppte sich eine Stunde später der Priester durch die heiße Luft; von dämmrigem Licht umgeben, kam er den Pfad aus dem Dorfe herauf, gefolgt in einer Entfernung von etwa zwanzig Metern von einem halben Dutzend schweigender Männer, deren Neugier größer war als ihre Leichtgläubigkeit. Einige andere hatte er verwirrt an den Türen ihrer kleinen Lehmhäuser zurückgelassen und wohl an die hundert Familien gesehen, die, mit ihrem Hausrat beladen, den steinigen Pfad, der nach Khaifa führte, hinabdrängten. Einige hatten Verwünschungen gegen ihn ausgestoßen, ihn sogar bedroht, andere ihn nur angestarrt, wieder andere ihn verhöhnt. Die Fanatischen sagten, die Christen hätten Gottes Zorn auf den Ort herabgezogen und dadurch die Finsternis verschuldet; die Sonne sei im Sterben, denn diese Hunde seien zu schlimm, als daß sie auf dieselben herniederschauen und weiterbestehen könne. Noch andere schienen nichts Auffallendes in dem Zustande des Wetters zu bemerken …
Das Firmament hatte sich seit einer Stunde nicht im mindesten verändert, außer daß vielleicht ein paar Blitze aufgezuckt hatten, während die Sonne hinter dem undurchdringlichen bräunlichen Dache höher stieg. Hügel, Gras, die Gesichter der Menschen, alles hatte für das Auge des Priesters das Aussehen des Unrealen, das Aussehen, als wäre es mit Augen geschaut, die schlaftrunken zwischen mit Blei beschwerten Lidern sich bewegten. Selbst den anderen physischen Sinnen gegenüber bestand diese Unrealität, und er erinnerte sich seines Traumes, froh, daß wenigstens dieser Schrecken von ihm genommen war. Aber das Schweigen schien jetzt mehr als nur eine Verneinung des Lautes zu sein, es war etwas für sich, das sich behauptete, etwas Positives, etwas Vorhandenes unberührt und ungestört von dem Geräusche der Schritte, dem dünnen Gewinsel der Hunde und dem Murmeln der Stimmen. Es war, als habe sich die Stille der Ewigkeit herabgesenkt und von allem Tun der Erde Besitz ergriffen, es war, wie wenn diese Welt in einer letzten entschlossenen, laut- und atemlosen Anstrengung sich anspannte, um ihr Sein zu bewahren. Was Silvester soeben gesagt hat, begann sich auch an diesem Manne zu vollziehen. Die Berührung der unbekleideten Füße des Priesters mit dem staubigen Boden und dem warmen Gerölle erschien jetzt als etwas ganz Verschiedenes von dem Bewußtsein, das für gewöhnlich die sinnlichen Dinge als realer und näher betrachtet als die geistigen. Die Sache besaß noch eine Realität, nahm noch Raum ein, doch sie war von einer subjektiven Natur, eher das Resultat innerer als äußerer Kräfte. Auch er selbst kam sich ganz verändert vor, als nur wenig mehr denn eine Seele ohne ihre leibliche Hülle, welche, geistig vollkommen rege und wach und ihre gleichmäßige Ruhe bewahrend, nur durch eine schwache Faser noch mit der Welt, mit der sie immerhin noch in Beziehungen stand, verbunden ist. Er wußte, daß die entsetzliche Hitze vorhanden war; einmal sogar barst vor seinen Augen ein Stück des Fußpfades und zischte wie Wasser, das heißes Eisen berührt, als er darüber hinwegschritt. Er konnte die Hitze an seiner Stirn und an den Händen fühlen, sein ganzer Körper war in Schweiß gebadet. Und dennoch betrachtete er dies von einem außerhalb seiner selbst liegenden Standpunkte, etwa wie ein mit Neuritis behafteter Mann das Gefühl hatte, als befände der Schmerz sich nicht mehr in seiner Hand, sondern in dem darunter liegenden Kissen. So war es auch mit allem, worauf sein Auge fiel und was sein Ohr hörte, so mit dem schwachen, bitteren Geschmacke auf seinen Lippen. Furcht und selbst Hoffnung waren von ihm gewichen – er betrachtete sich, die Welt und sogar die ihn umwehende furchtbare Gegenwart des Geistes als Tatsachen, mit denen er nur wenig zu tun hatte. Sein Interesse war kaum in Anspruch genommen, noch viel weniger litt er. Dort lag der Tabor vor ihm – wenigstens, was einst der Tabor gewesen, nun weiter nichts mehr als ein mächtiges, schwärzliches, kuppelartiges Etwas, das sich in die Netzhaut seines Auges eindrückte und seinem positiven Wahrnehmungsvermögen die Existenz und Gestalt desselben bekundete, wenngleich diese Existenz nicht besser als die eines sich auflösenden Phantoms schien.
Der sich ihm beim Öffnen der Türe zur Kapelle bietende Anblick wirkte daher als ganz natürlich – oder wenigstens nicht unnatürlicher als jeder andere; regungslos auf den Knien hingestreckte Gestalten bedeckten den Boden. Da lagen sie, alle einander gleich in den weißen Burnussen, die er vergangene Nacht verteilt hatte. Die Stirne zwischen den Armen vergraben, wie während des Absingens der Allerheiligen-Litanei bei der Priesterweihe, lag auch die Gestalt, die er so wohl kannte und die ihm so teuer war, teurer als die ganze Welt, die Schultern und das weiße Haar leicht sich über die Umgebung erhebend, auf der einzigen Altarstufe dort. Auf dem nackten Altare selbst brannten die sechs hohen Kerzen und in der Mitte auf dem ärmlichen kleinen Throne stand die Monstranz aus weißem Metall mit ihrem weißen Mittelpunkte.
Dann fiel auch er nieder und lag hingestreckt …
Er wußte nicht, wie lange es war, ehe das Wandern und Beobachten des Bewußtseins, das Wechseln schwacher Vorstellungen, das Zittern der einzelnen Gedanken sich legte und aufhörte, wie etwa ein Teich langsam sich beruhigt, nachdem der hineingeworfene Stein versunken. Aber endlich kam sie jene erhabene Ruhe, die nur dann möglich, wenn die Sinne physisch wach sind, jene erhabene Ruhe, mit der Gott, vielleicht ein einziges Mal in der Zeit eines ganzen Lebens das Streben und Vertrauen der Seele belohnt – jener Punkt vollkommenen Ruhens im Herzen der Quelle alles Seins, womit er eines Tages auf ewig seine Kinder belohnen wird. Es war kein Gedanke in ihm, der diese Erfahrung klar ausgesprochen, sie in ihre Bestandteile zerlegt oder diesen oder jenen Zug daran in ekstatischer Freude hervorgehoben hätte. Die Zeit der Selbstbetrachtung war nun vorüber. Es genügte, daß die Erfahrung vorhanden war, wenn auch sein Denken nicht einmal so weit sich betätigte, daß er sich dies gesagt hätte. Er hatte jene Sphäre, in der die Seele nach innen schaut, jene Sphäre auch, von der aus sie auf eine objektive Glorie blickt, mit dem ausschließlichen Mittelpunkte, in dem sie ihre Ruhe findet, vertauscht – und das erste Anzeichen, daß Zeit vergangen war, bestand für ihn in dem Gemurmel von klar und deutlich verständlichen Worten, wenn es auch wie aus einer Entfernung war, etwa wie ein Schlaftrunkener eine von außen kommende Mitteilung wahrnimmt, und es hörte sich an wie durch einen Schleier, den nichts als nur eben die allerfeinsten Wellen zu durchdringen imstande waren.
» Spiritus Domini replevit orbem terrarum. Der Geist des Herrn erfüllte den Erdkreis, Alleluja; und er, der das All zusammenhält, vernimmt jeden Laut, Alleluja, Alleluja. Exsurgat Deus« (und die Stimme stieg etwas an). »Es erhebe sich Gott, der seine Feinde zerstreuen wird und, die ihn hassen, vor seinem Angesichte fliehen.
Gloria Patri …«
Er erhob, wenn auch nicht ohne Mühe, sein Haupt. Einer übernatürlichen Erscheinung gleich stand dort eine Gestalt in ein rotes Gewand gehüllt, mehr schwebend als stehend, die dünnen Hände ausgestreckt, ein weißes Käppchen auf dem weißen Haar und umgeben von dem ruhigen Glanze der Kerzen; eine andere Gestalt, in Weiß gekleidet, kniete auf der Stufe …
Kyrie eleison … Gloria in excelsis Deo … Dies alles zog wie ein Schattengebilde, nicht etwa bewegungs- und lautlos vorüber; er aber gewahrte dennoch nur das Licht, dessen Glanz alles übertraf. Er hörte Deus qui in hodierna die …, aber seine passiven Sinne versagten jede Denktätigkeit, keine Regung von Verständnis erfolgte bis zu den Worten: Cum complerentur dies Pentecostes …
»Als der Tag des Pfingstfestes gekommen war, waren alle einmütig an demselben Orte. Da entstand plötzlich vom Himmel herab ein Brausen, gleich dem eines daherfahrenden, gewaltigen Windes und erfüllte das ganze Haus, wo sie saßen …«
Dann erinnerte er sich und begriff … Pfingsten war angebrochen! Und mit der Erinnerung kehrte, wenn auch nur schwach, die Denkfähigkeit wieder. Wo waren der Wind und die Blitze und das Erdbeben und die geheime Stimme? Doch die Welt schwieg, starr ihre letzten Kräfte aufbietend, sich zu behaupten; kein Zittern verriet, daß Gott noch lebte, kein nahender Lichtschein, auch kein Bersten des grauenerregenden, Meer und Land überspannenden Glutgewölbes enthüllte, daß er dort brannte in Ewigkeit, transzendent und herrschend; lautlose Stille umgab ihn, und während er all dies erwog, enthüllte sich ihm neues Verständnis. Er erkannte, daß jene Welt, deren fürchterliche Parodie er in der vergangenen Nacht im Traume geschaut, etwas anderes war als das, was er gefürchtet hatte; sie war süß, nicht schreckhaft; freundlich, nicht feindlich, klar, nicht erstickend, und bedeutete nicht Verbannung, sondern die Heimat. Etwas war hier, aber nicht jene gierigen, lüsternen Wesen, die ihn in vergangener Nacht angegafft hatten … Er barg sein Haupt wieder in den Händen, zufrieden jetzt und beschämt und versank neuerdings in die Tiefen klaren, inneren Friedens …
Eine ganze Weile blieb ihm unbewußt, was er tat oder dachte, oder was dort, so nahe vor ihm, auf der niederen Stufe vorging. Nur einmal ward dies Meer von Glas durchfurcht von einem Kräuseln, einer Welle von Feuer und Ton, wie ein aufsteigender Stern eine Linie Lichtes über den schlummernden See hinwirft, oder von einer schwingenden Saite ein Zittern durch die Stille der Nacht hinströmt – und wie in einem Spiegel erkannte er für einen Augenblick, daß eine niedrige Natur gleichzeitig zur Existenz und Vereinigung mit der göttlichen Natur gebracht wurde … Und dann trat Ruhe ein, jene große, unendliche, alles umfassende Ruhe und das Gefühl absoluter Wirklichkeit, und kniend fand er sich an der Altarstufe wieder und wußte, daß das, was allein in Wahrheit existierte, auf Erden sich ihm näherte mit der Schnelligkeit des Gedankens und der Glut göttlicher Liebe …
Während die Messe sich ihrem Ende näherte und seine passive, glückerfüllte Seele sich aufrichtete, um die letzte Gabe Gottes in Empfang zu nehmen, erscholl plötzlich ein Schrei, Getümmel drang vom Gange herein, und ein Mensch trat unter die Türe und stammelte etwas arabisch.
Selbst der Lärm und das plötzliche Eintreten des Mannes erreichten nicht, daß seine Seele die erschlafften Fasern, die sie noch durch jede Fiber seines Körpers an die Sinnenwelt banden, ausspannte. Er hörte den Tumult und das laute Schreien im Gange, sah die entsetzten Augen und in seltsamem Gegensatze dazu die beiden ekstatischen Gesichter jener Fürsten, welche sich umwandten, um zu sehen. Selbst innerhalb des stillen, bereits vom Geiste Gottes erfüllten Raumes, der zwei Wesen, den menschgewordenen Gott und den noch nicht verklärten Menschen innig vereinte, ging ein gewisser innerlicher, geistiger Prozeß vor sich. Und doch erschien alles so getrennt von ihm, wie eine erleuchtete Bühne und die dort sich vollziehende Handlung sich von dem Zuschauer abschließen. In der nunmehr bis zu einer Spiegelung verflüchtigten materiellen Welt folgten Ereignisse auf Ereignisse; für seine jetzt auf Wirklichkeit ruhende und die Tatsachen erkennende Seele aber wären diese Dinge nur ein ihn nicht berührendes Schauspiel …
Er wandte sich wieder zum Altare, und dort, von hellem Lichte umflossen, war, wie er wohl wußte, daß es sein würde, alles Friede; der Zelebrant – wie durch flüssiges Glas gesehen – betete halblaut das Geheimnis des fleischgewordenen Wortes an und sank, wieder der Mitte zuschreitend, auf seine Knie.
Und wiederum war es dem Priester klar; denn der Gedanke war nicht weiter mehr ein Prozeß des Verstandes, er war eher der Abglanz eines Geistes. Alles wußte er jetzt, und durch einen unbesiegbaren Drang veranlaßt, begann sein Mund laute Worte zu singen, die, während er sie sang, zum erstenmal sich ihm erschlossen und gleich ausgehenden Blumen ihr Geheimnis der Sonne verkündeten.
O Salutaris hostia
Quae coeli pandis ostium …
O segenspendend Opferlamm,
Des Himmels Pforten öffnest du.
Sie alle sangen jetzt; selbst der mohammedanische Katechumen, der vorhin noch hereingestürzt war, sang mit den übrigen, den hageren Kopf hoch erhoben und die Arme auf der Brust gekreuzt; die kleine Kapelle erdröhnte von den vierzig Stimmen, und die weite Welt hielt bebend den Atem an und lauschte …
Weiter singend, sah der Priester, wie von Geisterhand gehoben, das Velum sich um des Papstes Schultern legen; dann eine Bewegung, ein Sicherheben von Gestalten – Schatten nur inmitten der Substanz
… Uni trinoque Domino …
Dem einen und dreiein'gen Gott
– und der Papst stand aufrecht, ein weißer Mittelpunkt von Licht umstrahlt, die seidenen Falten, welche auch die Hände umhüllten, fielen strahlenförmig von den Schultern, das tiefgesenkte Haupt barg sich unter den Silberstrahlen der Monstranz und dem, was sie umschloß …
Qui vitam sine termino
Nobis donet in patria …
Der uns ein Leben ohne Ende
Im Vaterlande schenken mög' …
… Sie bewegten sich jetzt, und mit ihnen schwankte, soweit er dessen gewahr wurde, die Welt des Lebens. Er eilte nach dem Gange, zwischen den bleichen, dem Wahnsinn nahen Zuschauern, die unter Zähneklappern das Schauspiel anstarrten und nun endlich zum Schweigen gebracht waren durch den Donner des Pange lingua und den Strahlenglanz jener, die zum ewigen Leben eingingen … An der Ecke wandte er sich einen Augenblick um – die sechs bleichen Flammen, die wie Hellebardenspitzen einen König umgaben, bewegten sich voran und in ihrer Mitte die Silberstrahlen und das weiße Herz Gottes … Dann war er draußen und das Schlachtheer stand vor ihm, zum Angriff bereit …
Jener Himmel, zu dem er vor einer Stunde aufgeblickt, war aus der von Licht erhellten Finsternis in den mit Finsternis bedeckten Tag übergegangen – aus erleuchteter Nacht in zornerfüllten Tag – und sein Licht war rot …
Vom Tabor zur Linken bis zum Karmel zur Rechten und über den Hügeln, zwanzig Meilen entfernt, erstreckte sich ein riesiges Gewölbe; eine einzige Röte ohne irgend welche Abstufungen verband Zenit und Horizont, alles war ein gleichmäßiges, tiefes, rotes Glimmen, wie glühendes Eisen, eine Färbung, wie Menschen sie gesehen, wenn nach dem Regen die Sonne sank, während die Wolken, jeden Moment an Durchsichtigkeit zunehmend, die Pracht fortpflanzten, die sie nicht zu halten vermochten. Auch hier stand die Sonne, bleich wie jene Hostie, wie eine zerbrechliche Oblate stand sie über dem Berg der Verklärung, und dort, weit unten im Westen, wo die Menschen einst umsonst Baal angerufen hatten, hing die bleiche Mondsichel. Und doch war all dies nichts mehr als buntes Licht, das gebrochen über Steinbildern liegt …
… In supremae nocte coenae
In der Nacht beim letzten Mahle,
sang es in Myriaden Stimmen,
Recumbens cum fratribus
Observata lege plene
Cibis in legalibus,
Cibum turbae duodenae
Se dat suis manibus …
Wo er mit der Jüngerschar
Nach der Vorschrift des Gesetzes
Bei dem Opferlamme war,
Gab mit eigner Hand den Seinen
Er sich selbst zur Speise dar.
Er sah auch, gleich Stäubchen im Lichte, jenen Ring seltsamer fischförmiger Gebilde, weiß wie Milch, außer wo die rötliche Glut deren Rücken beleuchtete, mit weißen Schwingen, schwebenden Faltern gleich, angefangen von der winzigen Gestalt fern im Süden bis zu dem kaum mehr fünfhundert Meter entfernten Monstrum, und während er hinaufsah, singend und schauend zugleich, sah er, daß der Kreis sich enger zog, und er erkannte, daß auch diese noch nichts ahnten.
… Verbum caro, panem verum
Verbo carnem efficit …
Durch das Wort
Wird Brot zum Fleische.
… Näher und näher kamen sie, bis jetzt sogar zu seinen Füßen der Schatten eines der ungeheuren Vögel über den Boden glitt, fahl und verschwommen, während zwischen der bleichen Sonne und ihm selbst die riesige Gestalt hindurchschwebte, die eben noch über dem Hügel gehangen. Dann zog sie sich zurück und wartete …
… Et si sensus deficit,
Ad firmandum cor sincerum
Sola fides sufficit …
Sieht es auch der Sinn nicht ein,
Es genügt dem reinen Herzen
Fester Glaube schon allein.
… Er trat zurück und inmitten seiner Mitbrüder einher, schreitend, vermeinte er die Klänge der Harfen und das Dröhnen himmlischer Pauken zu vernehmen, und durch den Raum bewegten sich jetzt ohne das leiseste Flackern die sechs Flammen und in ihrer Mitte die silberumstrahlte Glorie und das fleckenlose Weiß des menschgewordenen Gottes …
… Mit lautem Krachen setzte der Donner wieder ein, in stets erneuter Wiederkehr jene furchtbare Gegenwart – der Throne und der Mächte – laut verkündend, welche sich zur Welt wie die Substanz zum Schatten verhalten und doch unter dem Gesichtspunkte und im Bereiche bar absoluten Gottheit wieder nichts als Schatten sind … Der Donner brach los und machte die Erde erzittern, die jetzt der Auflösung nahe, in ihrem Todeskampf sich krümmte und wand …
Tantum ergo Sacramentum,
Veneremur cernui:
Et antiquam documentum
Novo cedat ritui …
Darum laßt uns tief verehren
Ein so großes Sakrament!
Dieser Bund wird ewig währen,
Und der Alte hat ein End'.
Ja! Er war es, auf den jetzt Gott noch wartete – er, der hoch oben unter jenem bebenden Schatten thronte, den die Kuppel, der armselige Mittelpunkt ungeahnten Glanzes, warf, kam in seinem schnellen Streitwagen, blind gegen alles, mit Ausnahme dessen, worauf er so lange sein Auge geworfen, blind dafür, daß seine Welt um ihn her in Trümmer ging, während sein Schatten, einer fahlen Wolke gleich, über die gespenstige Ebene huschte, auf der einst Israel gekämpft und Sennacherib frohlockte; über jene Ebene, die nun in noch tieferen Farben erglühte, als selbst der Himmel, und in überirdischem Lichte aufflammend, von Glorie zu Glorie sich erhob. Noch hielt sich die Streitmacht zurück, jetzt aber, in Bestätigung der göttlichen Offenbarung, rückte sie heran, und zum letzten Male sangen die Stimmen …
Praestet fides supplementum
Sensuum defectui …
Unser Glaube soll uns lehren,
Was dem Sinne ist verwehrt.
… Und jetzt kam er heran, rascher und rascher, der Erbe alles Zeitlichen, der Verbannte der Ewigkeit, des Endes kläglicher Rebellenfürst, das Geschöpf in Auflehnung gegen seinen Gott, blinder denn die erbleichende Sonne und die schwankende Erde; und während er kam und eben jetzt aus dem letzten materiellen Stadium sich zur Transparenz eines Geistergebildes entwickelte, wirbelte in seinem Gefolge der schwebende Kreis, Geistervögeln gleich, die um ein Gespensterschiff die Wache hatten. Er kam, und die Erde, von neuem berstend und ihm huldigend, bebte und wankte im letzten Kampfe geteilter Unterwürfigkeit …
… Er kam, und schon fegt der Schatten über die Ebene hin und verschwindet und die bleichen, netzartigen Schwingen holen zum Stillstand aus, die mächtige Glocke erklingt und der langgezogene melodische Akkord verhallt – ein Flüstern kaum im dröhnenden Donner ewiger Lobpreisung …
… Genitori, Genitoque
Laus et iubilatio:
Salus, honor, virtus quoque
Sit et benedictio:
Procedenti ab utroque
Compar sit laudatio …
Gott dem Vater und dem Sohne
Lob sei, Preis und Herrlichkeit;
Mit dem Geist im höchsten Throne
Eine Macht und Wesenheit:
Singt im lauten Jubeltone
Göttlicher Dreieinigkeit …
und abermals
PROCEDENTI AB UTROQUE
COMPAR SIT LAUDATIO …
Und dann verschwand die Welt und ihre Pracht.
* * *