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Viertes Kapitel

1.

Eine Woche später erwachte Mabel gegen Morgen, und für einige Augenblicke vergaß sie ganz, wo sie war. Sie rief sogar laut Olivers Namen und starrte, sich wundernd, wie sie hierherkam, den ungewohnten Raum an. Dann erinnerte sie sich und schwieg …

Es war der achte Tag, seit sie in dieses Heim gekommen war; ihre Probezeit war zu Ende und heute war sie vollkommen frei, das auszuführen, was sie hierher geführt hatte. Am Samstage der vergangenen Woche hatte sie vor der Behörde ihr Privatexamen abgelegt, wobei unter den gewöhnlichen Bedingungen der Geheimhaltung ihr Name, ihr Alter und ihre Herkunft, sowie auch die Gründe festgestellt wurden, die sie Euthanasia anzuwenden veranlaßten. Und alles war gut abgelaufen. Sie hatte Manchester gewählt, da es ihr hinreichend entfernt und ausgedehnt genug erschien, um sie vor jeder Belästigung durch Oliver zu bewahren, und ihr Geheimnis war vollkommen aufrechterhalten worden. Nichts ließ vermuten, daß ihr Gatte auch nur das Geringste von ihren Absichten kannte, denn in solchen Fällen war nun einmal die Polizei verpflichtet, den Flüchtigen beizustehen. Der Individualismus war wenigstens so weit anerkannt, daß den des Lebens Müden das Recht gewahrt blieb, dasselbe zu verlassen. Abgesehen davon, daß jede andere Methode für sie unmöglich war, so wußte sie doch kaum, weshalb sie gerade diese gewählt hatte. Das Messer erforderte Sorgfalt und Entschlossenheit; Feuerwaffen waren undenkbar und Gift unter den neuen, strengen Vorschriften schwer zu beschaffen. Außerdem wünschte sie, ihre eigenen Absichten zu prüfen und sich zu vergewissern, daß es außer diesem keinen anderen Weg gab …

Nun, sie fühlte sich so sicher, wie nur je. Der Gedanke war ihr zuerst gekommen in jenem elenden, an Wahnsinn grenzenden Zustande angesichts des Ausbruches der Gewalt am letzten Tage des alten Jahres. Dann aber war er wieder gewichen und verdrängt worden durch den Hinweis darauf, daß der Mensch noch zum Rückfalle neige.

Darauf war er nochmals aufgetaucht, ein kaltes, zwingendes Phantom, bei hellem Tageslicht hervorgerufen durch Felsenburghs Erklärung. Er hatte sich dann wieder eingestellt und war von ihr im Auge behalten worden, während sie gegen alle Hoffnung hoffte, daß die Erklärung doch nicht zur Ausführung gebracht werde, gegen deren Schrecken sich ihr Inneres aufbäumte. Doch war er nie allzu fern, und als endlich die angekündigte Politik bindendes Gesetz wurde, hatte sie ihn entschlossen zu dem ihrigen gemacht. Das war vor acht Tagen gewesen und seit der Zeit hatte sie auch nicht einen unschlüssigen Moment gehabt.

Diese acht Tage, die das Gesetz vorschrieb, waren vollkommen friedlich vergangen. Sie hatte sich genügend Geld mitgenommen, um in eines jener Privatheime einzutreten, die hinreichenden Luxus boten, um solche, die an ein mit allen Bequemlichkeiten ausgestattetes Leben gewohnt waren, vor Ablenkung zu bewahren; die Wärterinnen waren angenehm und sympathisch, und sie konnte sich über nichts beklagen.

Bis zu einem gewissen Grade hatte sie natürlich unter der eintretenden Reaktion gelitten. Die zweite Nacht nach ihrer Ankunft war schrecklich gewesen, als sie, von tiefer Finsternis umgeben, in ihrem Bette lag und ihr ganzes Gefühlsleben mit dem Entschluß, den ihr Wille diktierte, rang und sich gegen diesen auflehnte. Es hatte nach den Dingen des sozialen Lebens verlangt – nach einer Garantie für Nahrung und Sorglosigkeit und nach menschlichem Verkehr; es hatte sich gewunden und aufgebäumt in Angst vor der unbekannten Nacht, der es so unaufhaltsam entgegentrieb und es fand in seinem Todeskampfe nur Beruhigung in dem leisen Hinweise einer tieferen Stimme, die ihr zuraunte, daß der Tod nicht das Ende von allem sei. Mit dem anbrechenden Tage, dem Lichte, war ihr auch die Ruhe wiedergekehrt; der Wille hatte wieder die Herrschaft ergriffen und mit der entstandenen Hoffnung auf eine Fortdauer der Existenz rücksichtslos aufgeräumt. Später hatte sie nochmals einige Stunden gelitten, diesmal von einer konkreteren Furcht; es war die Erinnerung zurückgekehrt an jene erschütternden Enthüllungen, die vor zehn Jahren England aufs tiefste bewegt und die Stellung dieser Heime unter die Aufsicht der Regierung zur Folge hatten – jene Beweise, daß Jahre hindurch in den großen Vivisektionslaboratorien menschliche Wesen behandelt worden waren – Personen, die mit den gleichen Absichten, wie sie, sich in privaten Euthanasiahäusern aus der Welt geschafft hatten, und denen ein Gas verabreicht worden war, das anstatt den Tod nur Scheintod hervorrief …

Auf physischer Seite war nur das eine unangenehm, die unerträgliche Hitze der Tage und Nächte. Es schien, behaupteten die Gelehrten, daß eine ganz unerwartete Hitzwelle sich gebildet habe; es existierten ein Dutzend Theorien, die alle sich gegenseitig ausschlossen. Es war ein demütigendes Bewußtsein, dachte sie, daß die Menschen, die die Welt unter ihre Aufsicht genommen haben wollten, sich so gänzlich getäuscht haben sollten. Die Witterungserscheinungen waren natürlich von Erdereignissen begleitet; einige Erdbeben von auffallender Heftigkeit waren zu verzeichnen, ein Wirbelsturm hatte nicht weniger als fünfundzwanzig Städte in Amerika verheert, ein paar Inseln waren versunken, und der trügerische Vesuv schien an einem Ausbruche zu arbeiten. Aber niemand kannte den wirklichen Grund.

Es gab nur eine einzige Angelegenheit, nach der sie sich erkundigt hatte, nämlich die Wirkung des neuen Dekretes; doch die Wärterin schien nicht viel darüber zu wissen. An einigen Orten sollte ein Aufruhr entstanden sein, aber das Gesetz war bisher nur wenig zur Anwendung gebracht worden; übrigens war eine Woche eine kurze Zeit, wenn das Dekret auch sofort in Wirkung trat, und die Behörden hatten erst mit der vorgeschriebenen schriftlichen Aufnahme der Bevölkerung begonnen.

Als sie diesen Morgen erwacht war, und die gemalte Decke und ab und zu den kleinen, ruhigen Raum anstarrte, schien es ihr, als sei die Hitze heute schlimmer denn je. Eine Minute glaubte sie, verschlafen zu haben; aber als sie ihre Uhr repetieren ließ, sah sie, daß es erst wenige Minuten nach vier Uhr war. Je nun, sie würde es nicht mehr lange zu ertragen haben; sie dachte, so gegen acht Uhr würde es Zeit sein, ein Ende zu machen. Sie hatte noch einen Brief an Oliver zu schreiben und ein paar letzte Anordnungen zu treffen.

Was die moralische Seite ihres Tuns betraf – das Verhältnis, das ihre Handlung zu dem gemeinsamen Leben der Menschen herstellte – so hatte sie darüber nicht den mindesten Zweifel. Es war ihre Anschauung, wie die der gesamten Humanitär denkenden Welt, daß es sich, ebenso wie leiblicher Schmerz gelegentlich diese Beendung des Lebens rechtfertigte, genau so bei geistigem Schmerz verhalte. Es gab eine gewisse Stufe des Elendes, auf der sowohl für die Welt, wie für das Individuum selbst dessen Existenz aufhörte, notwendig zu sein, und zu tun, was sie tat, war in diesem Falle nur ein Akt der Wohltätigkeit.

Wohl ein dutzendmal in dieser Woche hatte sie ihre Unterhaltung mit Mr. Francis überdacht. Daß sie ihn aufgesucht hatte, war kaum mehr als instinktiv geschehen; sie wünschte nur zu hören, was die Gegenseite zu sagen hatte – ob das Christentum etwas Lächerliches sei, wie man sie immer gelehrt. Dies schien nicht der Fall zu sein, es war nur schrecklich pathetisch, ein lieblicher Traum, weiter nichts – ein auserlesenes Stück Poesie. Daran zu glauben wäre himmlisch gewesen, aber sie konnte es nicht. Nein – ein transzendenter Gott war undenkbar, wie eine Unermeßlichkeit des Menschen. Und was die Inkarnation betraf – nun, nun …!

Viel hatte sie jedoch an Felsenburgh gedacht und sie war erstaunt über das, was sie fühlte. Sicher, kein Mann von allen, die sie je gesehen, war je imstande gewesen, einen so umfassenden Eindruck hervorzurufen, und es schien in der Tat sehr wahrscheinlich, daß er war, was er zu sein behauptete, die Verkörperung des Idealmenschen – das erste vollkommene Produkt der Menschheit. Aber die Logik seines Standpunktes war zu viel für sie. Wohl sah sie jetzt ein, daß er vollkommen logisch vorging – daß er nicht inkonsequent war, wenn er die Zerstörung Roms beklagte und doch eine Woche später jene Ankündigung erließ. Womit er nicht einverstanden war, das war das Wüten der Leidenschaft von Mensch gegen Mensch – Reich gegen Reich und Sekte gegen Sekte – denn dies war Selbstmord der Rasse. Er verwarf auch die Leidenschaft selbst – aber nicht judizielles Einschreiten. Dies neue Dekret war darum logisch, wie er selbst, es war ein judizieller Akt von seiten der geeinten Welt gegen eine winzige Minderheit, welche die Prinzipien des Lebens und Glaubens bedrohte; und es sollte mit äußerster Schonung zur Ausführung gebracht werden.

Ja, es war alles logisch und vernünftig. Und eben, weil es dies war, konnte sie es nicht ertragen … Aber, ah! welch großartiger Mann doch dieser Felsenburgh war! Es bereitete schon Freude, auch nur seine Ansprachen und seine Persönlichkeit sich ins Gedächtnis zurückzurufen. Wie gern hätte sie ihn nochmals gesehen! Aber es hatte keinen Zweck. Besser, sie schloß so ruhig wie möglich mit dem Leben ab. Die Welt würde auch ohne sie voranschreiten. Sie war eben der Dinge vollständig überdrüssig.

Sie schlummerte leise ein, und es schienen ihr kaum fünf Minuten vergangen zu sein, als sie erwachte und in das angenehme, lächelnde Gesicht der Wärterin mit dem weißen Häubchen blickte, die sich über sie beugte.

»Es ist nahe an sechs Uhr, meine Liebe – die Zeit, die Sie mir angaben. Ich kam, um wegen des Frühstücks zu sehen.«

Mabel holte nochmals tief Atem, dann setzte sie sich plötzlich auf und warf die Decke zurück.

2.

Es schlug ein Viertel nach sechs auf der kleinen Uhr auf dem Wandbrette, als sie die Feder weglegte. Dann nahm sie die engbeschriebenen Blätter zur Hand, lehnte sich tief in den Stuhl zurück und begann zu lesen.

 

»Heim des Friedens

Nr. 3 A. Manchester. West.

Mein Lieber, es tut mir sehr leid, aber ich bin rückfällig geworden. Ich kann wirklich nicht mehr weiterleben, und so bin ich im Begriffe, auf dem einzigen Wege, der mir blieb und von dem ich zu Dir einst sprach, die Welt zu verlassen. Ich habe sehr ruhige und glückliche Tage hier verlebt, man war sehr gütig und aufmerksam gegen mich. Du siehst wohl aus dem Kopfe dieses Blattes, was ich meine …

Nun, Du bist mir immer sehr teuer gewesen und bist es auch noch bis zu diesem Augenblick. Du hast daher ein Recht, meine Gründe, soweit ich sie selbst kenne, zu erfahren. Es ist mir sehr schwer, mich selbst zu verstehen, doch scheint es mir, daß ich nicht die nötige Stärke zum Leben besitze. Solange letzteres mir gefiel und genügend Anregung bot, war alles ganz gut – besonders als er kam. Aber ich glaube, ich hatte es anders erwartet; ich verstand nicht, wie ich es jetzt verstehe, daß es dazu kommen mußte – wie vollkommen logisch und richtig das alles ist. Ich hätte es ertragen können bei dem Gedanken, daß die Triebfeder des Ganzen Leidenschaft sei, aber es ist ruhig berechnender Vorsatz. Ich übersah, daß auch der Friede seine Gesetze erfordere und dieselben zu schützen verpflichtet sei. Und sei es, wie es wolle, jener Friede ist nicht der, den ich suche. Er bedeutet empfänglich zu sein für alles Böse.

Hier liegt nun die Schwierigkeit. Ich weiß, wie vollkommen Du Dich mit dieser neuen Lage der Dinge in Übereinstimmung befindest; ich begreife, daß dies so ist, denn Du bist so viel stärker und logischer als ich. Aber wenn Du ein Weib hast, so sollen ihre Anschauungen die gleichen sein wie die Deinen, und bei mir sind sie es nicht mehr; wenigstens mein Herz bekennt sich nicht mehr dazu, obwohl ich sehe, daß Du recht hast … Verstehst Du, mich, Liebster?

Könnten wir ein Kind unser eigen nennen, es wäre etwas anderes. Seinetwegen würde ich vielleicht gerne weiter gelebt haben. Aber Humanität, wie immer – Oh! Oliver, ich kann nicht – ich kann nicht!

Ich weiß, ich habe unrecht, und Du bist im Recht, aber das ist es eben, ich kann mich nicht anders machen und darum bin ich ganz sicher, daß ich fort muß.

Und nun will ich Dir noch dies eine sagen, daß ich nicht im mindesten Furcht habe. Ich kann nie begreifen, wie man sich davor fürchten kann – ausgenommen, man ist Christ. Ich würde eine schreckliche Furcht empfinden, wenn ich einer wäre. Aber Du weißt, wir beide wissen, daß jenseits nichts mehr ist. Es ist das Leben, wovor ich mich fürchte, nicht der Tod. Es wäre natürlich anders, wenn irgendwelcher Schmerz damit verbunden wäre; aber die Ärzte sagen mir, daß ein solcher gänzlich ausgeschlossen ist. Man schläft einfach ein. Die Nerven sind noch vor dem Gehirn tot. Ich werde alles selbst vornehmen und will dabei niemanden im Zimmer haben. In wenigen Minuten wird mir die Wärterin hier – Schwester Anna, die mir eine liebe Freundin geworden ist – das Ding bringen und mich dann allein lassen.

Was das, was nachher geschieht, betrifft, so ist es mir vollkommen gleichgültig. Tue, bitte, nach Deinem Belieben. Die Verbrennung wird morgen mittags erfolgen, so daß Du also, wenn Du willst, noch rechtzeitig hier sein kannst. Oder Du kannst Deine Weisungen schicken, und man wird Dir die Urne zusenden. Ich weiß, wie lieb es Dir war, Deiner Mutter Urne im Garten zu haben; vielleicht wirst Du also auch die meine gern besitzen. Bitte, handle ganz, wie es Dir beliebt, auch in bezug auf alle meine Sachen. Natürlich gehören dieselben Dir.

Nun, Liebster, will ich noch dies eine sagen – es tut mir wirklich sehr leid, so lästig und töricht gewesen zu sein. Ich denke, ich habe wirklich all Deine Beweise geglaubt, aber ich wollte sie nicht glauben. Siehst Du jetzt, weshalb ich so unerträglich geworden war? …

Oliver, mein Liebling, Du bist so außerordentlich gut gegen mich gewesen … Ja, ich weiß es, ich weine, aber ich bin wirklich sehr glücklich. Es ist ein so liebliches Enden. Ich wollte, ich hätte Dir die Angst um mich während dieser letzten Woche ersparen können, aber es war unmöglich – ich wußte, Du würdest mich davon abgebracht haben, wenn Du mich gefunden hättest, und das wäre noch schlimmer gewesen. Es tut mir auch leid, daß ich Dir jene Lüge sagte; es war wirklich die erste, die Du je von mir gehört.

Nun, ich glaube, ich habe nichts weiter mehr zu sagen. Oliver, mein Lieber, lebe wohl. Ich grüße Dich herzlichst.

Mabel.«

 

Sie saß noch still, nachdem sie das Geschriebene durchgelesen hatte, und ihre Augen waren noch von Tränen feucht. Und doch beruhte alles auf vollkommener Wahrheit. Sie fühlte sich weit glücklicher, als sie es gewesen wäre, wenn sie noch die Aussicht auf Umkehr gehabt hätte. Das Leben war ihr gänzlich inhaltslos, der Tod so augenscheinlich ein Entkommen; ihre Seele verlangte danach, wie der Leib nach dem Schlafe.

Sie adressierte mit vollkommen sicherer Hand den Brief, legte ihn auf den Tisch, lehnte sich wiederum zurück und ließ ihren Blick über das gänzlich unberührte Frühstück gleiten. Dann fiel ihr plötzlich ihre Unterredung mit Mr. Francis ein, und durch eine merkwürdige Ideenverknüpfung kehrte die Erinnerung an den Sturz des Flugschiffes in Brighton, das Eingreifen des Priesters und die Euthanasiabehälter wieder …

Als Schwester Anna wenige Minuten später eintrat, war sie erstaunt über das, was sie erblickte. Mabel kauerte vor dem Fenster, die Hände auf dem Fensterbrette und starrte mit dem Ausdrucke unverkennbaren Schreckens nach dem Himmel.

Schwester Anna durchschritt rasch das Zimmer und setzte im Vorbeigehen etwas auf den Tisch. Dann berührte sie die junge Frau an der Schulter.

»Meine Liebe, was gibt es?«

Ein langer, schluchzender Atemzug erfolgte, und Mabel, aufstehend, wandte sich um und erfaßte die Wärterin mit der einen zitternden Hand, während sie mit der anderen hinauszeigte.

»Dort«, sagte sie, »dort – sehen Sie!«

»Nun, meine Liebe, was gibt es? Ich sehe nichts. Es ist ein wenig dunkel.«

»Dunkel?« erwiderte die andere, »Sie nennen das dunkel! Nein, nein, es ist schwarz – schwarz!«

Die Wärterin zog sie sanft auf den Stuhl zurück und vom Fenster ab. Sie erkannte, daß es sich nur um nervöse Furcht handle, nichts weiter. Aber Mabel entwand sich ihr und kehrte neuerdings zum Fenster zurück.

»Sie nennen das ein wenig dunkel?« fragte sie. »Nein, sehen Sie, Schwester, sehen Sie!«

Und doch war nichts Außergewöhnliches zu sehen. Drüben erhob sich die belaubte Krone einer Ulme, dahinter, jenseits des Hofes, die geschlossenen Fensterläden und das Dach, und darüber der Morgenhimmel, ein wenig drückend zwar und dunstig, wie vor einem Gewitter, aber nichts mehr.

»Nun, was gibt es, meine Liebe, was sehen Sie?«

»Wie, wie … aber sehen Sie, sehen Sie doch – dort, hören Sie es?«

Ein schwaches, fernes Rollen, wie von einem schweren Wagen herrührend, ertönte – so leise, daß man an eine Täuschung des Gehöres zu glauben versucht war. Trotzdem preßte sie ihre Hände an die Ohren, und ihre Züge trugen den vollendeten Ausdruck bleichen Schreckens. Die Wärterin legte ihren Arm um sie.

»Meine Liebe«, sagte sie, »Sie sind nicht bei Sinnen. Es ist nichts als ein wenig Donner. Setzen Sie sich ruhig nieder.«

Sie konnte den Körper des jungen Weibes unter ihren Händen beben fühlen, fand aber keinen Widerstand, als sie ihn auf den Stuhl niederzog.

»Licht, Licht!« stöhnte Mabel.

»Wollen Sie mir jetzt versprechen, ruhig zu sitzen?«

Sie nickte, und die Wärterin begab sich, ihr zärtlich zulächelnd, auf die andere Seite des Zimmers; es war ihr Derartiges schon mehr als einmal vorgekommen. Sie schaltete um, und einen Augenblick später erfüllte herrliches Sonnenlicht den Raum. Als sie sich umwandte, sah sie, daß Mabel sich im Stuhl herumgedreht hatte und mit verschlungenen Händen noch auf den Himmel dort über den Dächern starrte. Doch war sie sichtbar ruhiger geworden. Die Wärterin kam zurück und legte ihr die Hand auf die Schulter.

»Sie sind überreizt, meine Liebe … Sie müssen mir nun glauben. Sie haben keine Ursache, sich vor irgend etwas zu fürchten. Es ist nichts als nervöse Erregung … Soll ich die Jalousie herablassen?«

Mabel wandte den Kopf … »Ja.« Das Licht hatte ihr wieder ihre Sicherheit gegeben. Ihr Gesicht war noch weiß und zeigte Bestürzung, doch ihre Augen verrieten bereits Ruhe, obgleich sie mehr als einmal sich wieder dem Fenster zuwandten, während sie sprach.

»Schwester«, sagte sie in gelassenerem Tone, »bitte, sehen Sie noch einmal nach und sagen Sie mir, ob Sie nichts sehen. Wenn Sie sagen, es ist nichts, will ich glauben, daß mein Verstand anfängt, in Unordnung zu geraten. Nein, lassen Sie die Vorhänge offen.«

Nein, es war wirklich nichts. Der Himmel war ein wenig dunkel, etwa, wie wenn ein Dunst davorliege, ein leichter Wolkenschleier, und das Licht war nahezu unbeeinflußt davon, kurz, eine Stimmung, wie sie manchmal einem Frühlingssturm vorangeht. Sie sagte dies offen und bestimmt.

Mabels Züge nahmen noch an Ruhe zu.

»Sehr gut, Schwester … Dann –«

Sie wandte sich dem kleinen Tische zu, auf welchem das stand, was Schwester Anna hereingebracht.

»Bitte, zeigen Sie es mir.«

Die Wärterin zögerte noch.

»Sind Sie sicher, meine Liebe, daß Sie sich nicht zu sehr fürchten? Brauchen Sie noch etwas?«

»Ich habe nichts weiter zu sagen«, sagte Mabel entschlossen. »Bitte, zeigen Sie es mir.«

Schwester Anna wandte sich schnell dem Tische zu.

Auf demselben stand ein weiß emailliertes und zierlich mit Blumen bemaltes Kästchen. Aus diesem trat ein weißer, biegsamer Schlauch mit einem breiten Mundstück hervor, das mit zwei mit Leder überzogenen Stahlklammern versehen war. An der dem Stuhl zugewandten Seite des Kästchens befand sich ein Porzellangriff.

»Also, meine Liebe«, begann die Wärterin ruhig, wobei sie bemerkte, wie Mabels Augen sich abermals nach dem Fenster und wieder zurück wandten – »also, meine Liebe, Sie setzen sich so, wie Sie jetzt sitzen. Den Kopf, bitte, ganz zurückgelehnt. Wenn Sie bereit sind, legen Sie dies an Ihren Mund und schließen die Klammern um Ihren Hinterkopf … So … es funktioniert ganz leicht. Dann drehen Sie diesen Griff in dieser Richtung soweit als möglich. Das ist alles.«

Mabel nickte. Sie hatte ihre Selbstbeherrschung wieder gewonnen und verstand alles zur Genüge, obgleich, während sie sprach, ihre Blicke nochmals nach dem Fenster hinirrten.

»Das ist alles«, sagte sie. »Und dann?«

Zweifelnden Auges blickte die Wärterin sie einen Moment an.

»Ich verstehe vollkommen«, sagte Mabel. »Und dann?«

»Sonst nichts weiter. Atmen Sie nur ganz natürlich. Sie werden sich unmittelbar darauf schläfrig fühlen, dann schließen Sie die Augen, und weiter nichts.«

Mabel legte den Schlauch auf den Tisch und erhob sich. Sie hatte ihre frühere Sicherheit wieder erlangt.

»Küssen sie mich, Schwester.«

An der Türe angelangt, nickte und lächelte ihr die Wärterin noch einmal zu. Doch Mabel bemerkte es kaum; wieder starrte sie nach dem Fenster.

»In einer halben Stunde werde ich wieder kommen«, sagte Schwester Anna. Dann fiel ihr Auge auf etwas Weißes auf dem Tische. »Ah! der Brief«, sagte sie.

»Ja«, sagte die junge Frau wie geistesabwesend. »Nehmen Sie ihn.«

Die Wärterin nahm ihn, warf einen Blick erst auf die Adresse und dann auf Mabel. Sie zögerte noch.

»In einer halben Stunde«, wiederholte sie. »Es eilt gar nicht. In weniger als fünf Minuten ist es vorüber … Leben Sie wohl, meine Liebe.«

Aber Mabel starrte noch durch das Fenster und gab keine Antwort.

3.

Mabel stand vollkommen regungslos, bis sie das Schließen der Türe und das Abziehen des Schlüssels vernommen. Dann trat sie abermals ans Fenster und klammerte sich an dem Gesimse fest.

Sie konnte von dort aus den Hof unten mit dem Rasenplatz und einigen Bäumen in dessen Mitte überblicken, auf die zum Teil der helle Lichtschein fiel, der nun ihrem Fenster entströmte und ferner über den Dächern eine ungeheure rötlich-schwarze Decke. Der Kontrast ließ das Grausige nur um so mehr hervortreten. Die Erde, so schien es, war noch für Licht empfänglich, der Himmel nicht mehr. Anscheinend war auch eine auffallende Stille eingetreten. Das Haus war ja für gewöhnlich still genug um diese Stunde, und die Bewohner desselben sicher nicht in der Stimmung, Lärm zu machen. Jetzt aber war es mehr als ruhig; es herrschte Totenstille, eine Stille, wie sie einer plötzlichen atmosphärischen Entladung voranzugehen pflegt. Aber die Augenblicke vergingen und kein derartiger Ausbruch erfolgte; nur einmal noch ertönte ein feierliches Rollen, mächtig, ergreifend, und dem Ohre Mabels klang es, wie wenn das Murmeln ungezählter, geisterhafter und Beifall spendender Stimmen es begleite. Dann trat wieder die frühere Stille ein.

Sie hatte nunmehr begonnen zu verstehen. Die Finsternis und der grollende Donner waren nicht für jedes Auge und für jedes Ohr. Die Wärterin hatte weder Außergewöhnliches gesehen noch gehört, und auch die übrige Menschheit sah und hörte nichts. Für diese war es nichts weiter als der Vorbote eines heranziehenden Gewitters.

Mabel lag es ferne, zwischen subjektiv und objektiv zu unterscheiden. Für sie war es bedeutungslos, ob, was sie sah und hörte, in ihrem Gehirne entsprang, oder von irgend einer ihr bisher entgangenen Fähigkeit wahrgenommen wurde. Sie kam sich vor, als stehe sie bereits außerhalb der ihr bisher bekannten Welt. Diese schien von ihr zurückzuweichen, oder vielmehr, während sie blieb, wo sie immer gewesen, schien sie sich zu verflüssigen, sich umzuformen, in irgendeine andere Art von Existenz überzugehen. Das Seltsame schien nicht seltsamer als alles andere – als jenes … jenes bemalte Kästchen auf dem Tische.

Dann, fast ohne zu wissen, was sie sagte, den Blick ruhig auf jenen entsetzlichen Himmel gerichtet, begann sie zu sprechen …

»O Gott! Wenn du wirklich dort bist – wirklich dort bist –«

Ihre Stimme stockte ein wenig, und sie griff nach dem Gesimse, um sich festzuhalten. Sie wunderte sich einigermaßen, weshalb sie so sprach, es war weder Intellekt noch innere Bewegung, was sie dazu veranlaßte. Doch fuhr sie fort … »O Gott, ich weiß, du bist nicht dort – natürlich, du bist nicht dort. Aber wenn du dort wärest, so weiß ich, was ich dir sagen würde. Ich würde dir sagen, wie verzagt und müde ich bin. Nein – nein, ich brauchte es dir nicht zu sagen. Du wüßtest es ja selbst. Doch ich würde dir sagen, daß mir alles das sehr leid tut. Oh! du würdest auch das wissen. Ich brauchte dir gar nichts zu sagen. O Gott! ich weiß nicht, was ich dir sagen würde. Ich würde dich bitten, nach Oliver zu sehen, natürlich, und nach all deinen armen Christen. Oh! Sie werden eine so schlimme Zeit haben … Gott, Gott – du würdest mich verstehen, nicht wahr?« …

Wiederum erhob sich jener schwere, rollende Donner und das feierliche Summen von Myriaden von Stimmen; es schien, wenigstens kam es ihr so vor, um ein Geringes näher … Sie hatte nie eine Vorliebe für Gewitterstürme oder eine schreiende Menge gehabt, sie verursachten ihr stets Kopfweh.

»Nun also«, sagte sie, »lebe wohl, Welt –«

Dann war sie in ihrem Stuhle. Das Mundstück – ja; hier war es …

Sie war wütend über das Zittern ihrer Hände; zweimal entschlüpften ihr die Klammern infolge der glänzend glatten Haarfülle … Dann saßen sie fest … und wie von einem kühlen Luftzuge belebt, kehrte ihre Fassung wieder …

Sie fand, sie konnte ganz leicht atmen, ohne jeden Widerstand – das beruhigte sie; es würde sich also nicht um Erstickung handeln … Sie streckte die Linke aus und berührte den Griff, wobei ihr weniger dessen plötzliche Kühle, als vielmehr die unerträgliche Hitze auffiel, in die nahezu urplötzlich der ganze Raum getaucht war. Sie konnte das Blut in den Schläfen hämmern hören und vernahm ein vielstimmiges Schreien … Noch einmal ließ sie den Griff los und warf mit beiden Händen das weite, weiße Tuch, das sie diesen Morgen sich übergeworfen hatte, ab … Ja, es war leichter so; sie konnte freier atmen. Dann suchten ihre Finger wieder nach dem Griff und erfaßte ihn neuerdings, aber der Schweiß strömte von ihren Fingern und im ersten Augenblick war sie nicht imstande, den Hebel zu drehen; dann gab er plötzlich nach …

Für einen Moment wirkte der süßliche, fade Geruch wie ein Schlag, denn sie wußte, es war der Hauch des Todes. Dann behauptete sich der feste Wille, der sie bis hierher geführt hatte, und sie legte die Hände leicht in den Schoß, während sie tief und ohne Schwierigkeit atmete.

Sie hatte beim Drehen des Griffes die Augen geschlossen, nun öffnete sie dieselben wieder, begierig den Anblick der dahinschwindenden Welt zu verfolgen. Schon vor einer Woche hatte sie sich dies vorgenommen, und wollte sich jetzt wenigstens nichts von diesem einzigartigen, letzten Schauspiel entgehen lassen.

Zuerst schien es, als ginge keinerlei Veränderung vor. Dort draußen war die belaubte Krone der Ulme, dahinter das Bleidach und darüber immer noch der schreckenerregende Himmel. Sie bemerkte, wie eine Taube, deren Weiß von dem schwarzen Hintergrunde abstach, sich erhob, um gleich darauf ihrem Blicke zu entschwinden …

… Dann ereignete sich folgendes … Alle ihre Glieder durchdrang plötzlich die Empfindung ekstatischen Lichtes; sie versuchte die Hand zu erheben und gewahrte, daß dies unmöglich war; sie gehörte ihr nicht mehr an. Sie versuchte ihre Augen von jenem breiten Streifen rötlich-schwarzen Himmels wegzuwenden – und bemerkte, daß auch dies nicht ging. Nun begriff sie, daß der Wille bereits den Zusammenhang mit dem Körper verloren hatte; daß die sich auflösende Welt bereits auf eine unendliche Entfernung sich zurückgezogen hatte – es war, wie sie es erwartet hatte. Was ihr aber merkwürdig vorkam, war, daß ihr Geist nicht aufhörte, tätig zu sein. Wohl hatte die Welt, die sie gekannt, sich der Herrschaft ihres Bewußtseins entzogen, ebenso wie es der Körper mit Ausnahme des Gehörsinnes, der noch seltsam wach sich zeigte, getan hatte; doch bestand noch hinreichend Erinnerungsvermögen, um das Bewußtsein zu ermöglichen, daß es eine solche Welt gab – daß noch andere Personen existierten, daß die Menschen ihren Verrichtungen nachgingen, unbekannt mit dem, was vor sich ging; aber Gesichtszüge, Namen, Orte waren ihr schon entschwunden. In der Tat, sie war sich ihrer selbst bewußt in einer Weise, wie nie zuvor; es schien, als sei sie endlich eingedrungen in ein verborgenes Gebiet ihres Wesens, in das sie bisher wie durch ein trübes Glas geblickt hatte. Dies war sehr eigentümlich und kam ihr doch zugleich so vertraut vor; sie war anscheinend zu einem Mittelpunkte vorgedrungen, um dessen Grenzen ihr ganzes bisheriges Leben sich herumbewegt hatte, und es war mehr, als nur ein unscheinbarer Punkt, es war ein klar abgegrenzter Raum … Im selben Augenblicke wußte sie, daß auch das Gehör versagte …

Und nun geschah etwas höchst Merkwürdiges – und doch wieder kam es ihr vor, als hätte sie es von jeher gewußt, wenn auch ihr Verstand es nie in klaren Worten ausgesprochen hatte. Es war dies.

Die Hülle löste sich mit einem Tone des Brechens, und ein unbegrenzter Raum umgab sie – unbegrenzt, verschieden von allem anderen, voll von Leben und Bewegung; voll von Leben, wie ein atmender Körper, dessen Pulsschlag alle einzelnen Teile durchdringt – fühlbar und überwältigend – es war einer und doch waren es viele; er war immateriell und doch absolut real – real in einem Sinne, wie sie ihn sich von Realität nie hätte träumen lassen …

Doch selbst dieses war ihr so vertraut, wie ein Ort, den wir in Träumen oft besucht haben; und dann, ohne Ankündigung schwebte etwas, einem Klange oder Lichte gleich, etwas, das sie sofort als ohnegleichen erkannte, heran …

Dann sah sie und verstand.


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