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Als Percy Franklin, in einer Höhe von 500 Fuß durch die Dämmerung des Sommerabends dahingleitend, sich Rom näherte, schien es ihm, als nähere er sich den Pforten des Paradieses selbst, oder noch bester, er fühlte sich wie ein Kind, das ins Vaterhaus kam. Denn was er vor zehn Stunden in London verlassen hatte, war, so dachte er, ein nur zu getreues Abbild eines Höllenquartiers höherer Ordnung. Es war eine Welt, aus der Gott sich selbst zurückgezogen zu haben schien, um sie in der Tat in einem Zustand unbeschränkten Wohlbehagens zu lassen – einem Zustande ohne Hoffnung oder Glaube, dem jedoch, obwohl das Leben seinen Lauf weiternahm, das, was zu wirklichem Wohlbefinden wesentlich war, fehlte. Nicht etwa, daß es an Spannung und Erwartung mangelte, – nein, London stand auf dem Höhepunkte der Erregung. Da gab es Aufregungen aller Art: Felsenburgh sollte zurückkommen; er war zurück; er war gar nicht abwesend gewesen. Er sollte Präsident des Rates, Minister, Tribun werden, ausgestattet mit allen Befugnissen eines demokratischen Regenten und persönlicher Unverletzlichkeit, ja selbst König, – wenn nicht Kaiser des Westens. Die ganze Verfassung war umzuformen, eine vollständig neue Ordnung der einzelnen Teile hatte zu erfolgen, und doch, was nach des Priesters Meinung dem Leben erst den wahren Wert verlieh, das fehlte …
In Paris hatte er, während das Flugschiff auf der großen Station von Montmartre, einstmals bekannt als Basilika vom heiligsten Herzen, wartete, den Lärm der Menge in ihrem Liebesdelirium mit dem Leben gehört und die Banner im Winde flattern sehen. Als er über den Vorstädten dahinschwebte, hatte er die langen Reihen der einlaufenden Züge beobachtet, welche in dem hellen Scheine der elektrischen Leuchtgloben schillernden Schlangen glichen und das Landvolk zu dem Nationalkonzil herantrugen, das die Gesetzgeber, versessen auf eine möglichst dramatische Aktion, zur Entscheidung über die große Frage einberufen hatten.
Als die kühle Alpenluft das Fahrzeug zu umfluten begann, war er eingeschlafen und hatte nur ab und zu einen flüchtigen Blick auf die feierlich stummen, in Mondlicht getauchten Gipfel dort unten, die schwarzen Tiefen der Abgründe, die schimmernden Schildern gleichenden Seen, den schwachen Schein Interlakens und die Städte des Rhonetales erhascht. Mailand und Turin waren ruhig, denn Italien war auf anderer Grundlage organisiert als Frankreich, und Florenz war kaum noch erwacht. Und jetzt flog ein paar hundert Meter unter ihm die Campagna dahin, eine graugrüne Decke, runzelig und wellenförmig. Bald mußte Rom in Sicht kommen.
Den Schlaf abschüttelnd, nahm er sein Brevier zur Hand, aber als er die Worte las, waren seine Gedanken nicht bei der Sache, und nachdem er die Prim gebetet, schloß er das Buch wieder, setzte sich bequemer zurecht. Er befand sich allein in seinem Abteil; die drei Herren, die in Paris eingestiegen, waren nur bis Turin mitgefahren. – –
Percy hatte sich erheblich erleichtert gefühlt, als vor drei Tagen vom Kardinalprotektor die Nachricht gekommen war, er möge die Vorbereitungen zu einer langen Abwesenheit von England treffen und dann sofort nach Rom kommen. Er begriff, daß die kirchlichen Behörden endlich ernstlich beunruhigt waren.
Er vergegenwärtigte sich die beiden letzten Tage und erwog bei sich den Bericht, den er darüber zu erstatten haben würde. Seit seinem letzten Briefe, den er vor drei Tagen abgesandt, hatten in der Diözese Westminster allein sieben bemerkenswerte Apostasien sich ereignet, von zwei Priestern und fünf hervorragenden Laien. Überall sprach man von Revolte; er hatte ein in Vorbereitung befindliches Dokument, eine »Petition« gesehen, welche das Recht der Dispens von aller kirchlichen Kleidung forderte und von über hundert Priestern aus England und Wales unterzeichnet war. Dieselben wiesen darauf hin, daß die Verfolgung heranziehe und aus dem Volke selbst hervorbrechen werde, und daß die Regierung es mit dem versprochenen Schutze nicht aufrichtig meine. Sie gaben zu verstehen, daß selbst unter den Bestgesinnten die Treue zur Religion auf dem Punkte angelangt sei, wo sie nicht mehr standhalten könne und bei allen anderen bereits zusammengebrochen sei.
Christentum und Gottesglaube verschwanden gemeinsam aus der Welt, gleich einem Morgennebel, der vor der ausgehenden Sonne zerfließt. Und seine Ratschläge hiezu? – Ja, diese hatte Percy klar vor Augen, und mit einem Anflug von Verzweiflung erwog er sie nochmals in seinen Gedanken.
Was ihn selbst betraf, so wußte er kaum, ob er das noch glaubte, was er bekannte. Die Regungen seines Gemütes schienen durch den Anblick des weißen Flugschiffes und das Schweigen der Menge an jenem Abende vor drei Wochen auf immer erloschen zu sein. Es war alles so entsetzlich real und positiv gewesen; die zarten Aspirationen und Hoffnungen der Seele erschienen so schattenhaft im Vergleiche zu jener glühenden, herzerschütternden Leidenschaft des Volkes. Nie hatte er Ähnliches gesehen; keine Gemeinde hatte, unter dem Zauber des mächtigsten Predigers der Neuzeit, sich jemals auch nur zu dem zehnten Teil solcher Inbrunst hinreißen lassen, wie diese irreligiöse Menge in der Morgenkühle der Straßen Londons das Erscheinen ihres Erlösers begrüßt hatte. Und was den Mann selbst betraf – Percy konnte sich nicht erklären, was über ihn gekommen war, als er, den Namen Jesus murmelnd, jene regungslose Gestalt in Schwarz anstarrte, mit diesen Zügen und Haaren, die so sehr seinen eigenen glichen. Er wußte nur, daß eine Hand sein Herz umklammert hielt – eine warme, nicht eine kalte Hand –, die, wie es schien, jedes religiöse Gefühl und Bewußtsein herauspreßte. Mit einer Anstrengung, deren Erinnerung allein schon genügte, ihn krank zu machen, hatte er sich von jenem inneren Akt des sich Aufgebens zurückgehalten, der allen denen, die ein inneres Leben gepflegt haben und wissen, was Mißerfolg bedeutet, so wohlbekannt ist. Eine Zitadelle stand noch, die noch nicht ihre Tore geöffnet hatte, – alles übrige war gefallen. Sein Gemüt war erstürmt, der Verstand zum Schweigen gebracht, die Erinnerung an die Gnade verdunkelt, ein geistiger Ekel hatte eine Seele angekränkelt, doch die geheime Feste des Willens hatte, wie in einem letzten Kampfe, die Pforten gehalten und sich geweigert, Felsenburgh zum König auszurufen.
Zitternd vor Erregung entrang sich Percys Brust ein tiefer Atemzug, denn weit in der Ferne hatte sein Herz mehr noch als sein Auge einen Dom entdeckt, eine bläuliche Wölbung auf grünem Teppich ruhend, und sein Brüten unterbrechend, sagte er sich, daß dies Rom sei.
Rasch erhob er sich, verließ sein Abteil und schritt den Mittelgang entlang, ab und zu einen Blick durch die Glastüren rechts und links auf die Mitreisenden werfend, die teils noch schliefen, teils die Aussicht betrachteten oder lasen. Er sah durch die Glasscheibe der vorderen Türe und mit regem Interesse beobachtete er einige Minuten die nahezu unbewegliche Gestalt des Steuermannes. Regungslos stand er dort, die Hände an der stählernen Kurbel, die die mächtigen Schwingen lenkte, das Auge auf den Windmesser gerichtet, der auf einem Zifferblatt die Stärke sowohl als auch die Richtung der Luftströmungen anzeigte; dann und wann eine leichte Handbewegung, und die ungeheuren Flügel gehorchten, bald das Luftschiff hebend, bald es sinken lassend.
Er seufzte, wandte sich und kehrte in sein Abteil zurück.
Ein staunenerregendes Bild begann sich vor ihm zu entfalten, das wohl seltsam, nicht aber schön genannt werden konnte, und mehr einer Landkarte in Relief als der Wirklichkeit gleichsah. Nach rechts hin in der Ferne lag, soviel er durch die Glastüren sehen konnte, unter dem lichten Horizont die graue Linie des Meeres, bald steigend, bald fallend, entsprechend den Bewegungen des kaum merkbar gegen den Westwind ankämpfenden Fahrzeuges; die einzige fühlbare Bewegung war das schwache Pochen der großen Schraube am Hinterteile des Luftschiffes. Zur Linken dehnte sich, soweit das Auge reichte, das dort unten vorübereilende Land hin, auf das die starren Schwingen ab und zu einen flüchtigen Blick gestatteten. Auf allen Seiten, über und unter ihm, durchmaß sein Auge einen weiten Luftraum, der über seinem Haupte in tiefem Lapislazuli erstrahlte und gegen den Horizont hin in den Ton des hellen Türkis überging. Das einzige Geräusch, an welches er sich übrigens schon längst gewöhnt hatte, und besten er daher nicht einmal mehr gewahr wurde, war das ununterbrochene Rauschen der Luft, nunmehr schon bedeutend schwächer, da die Fahrgeschwindigkeit nachzulassen begann und nach und nach bis zu vierzig Meilen in der Stunde sank. Eine Glocke ertönte, und im selben Augenblick hatte er das Gefühl eines leichten Schwindels, als das Fahrzeug in mächtigem Schwunge sich senkte, so daß er ein wenig taumelte, als er seine Reisedecke zusammenraffte. Dann schien es ihm, als habe die Bewegung aufgehört; er erblickte Türme, eine Reihe Dächer und weiter unten einen Weg und wiederum Dächer und einige Flecken Grün dazwischen. Ein zweites Glockenzeichen, dem ein langgezogenes, wohltönendes Signal folgte. Ringsum konnte er Fußtritte vernehmen, ein Wächter in Uniform eilte den Glaskorridor entlang, wieder hatte er das Gefühl des Schwindels, und dann, als er von neuem von seinem Gepäck aufblickte, zeigte sich der Dom, nunmehr grau und bestimmt in seinen Umrissen, beinahe in Augenhöhe, und in seinem ungeheuren Umfange sich von dem heiteren Himmel abhebend. Ein letztes Glockenzeichen, und eine schwache Erschütterung folgte, als sich das Schiff auf dem Stahlnetz des Docks niederließ. Gesichter erschienen an den Fenstern und schwankten hin und her, und Percy schritt mit seinem Gepäck dem Ausgange zu.
Er hatte noch das unsichere Gefühl des Schwankens, als er eine Stunde später in einem der entlegenen Gemächer des Vatikans allein bei einer Tasse Kaffee saß; aber trotz aller geistigen Ermüdung erfüllte ihn doch ein Gefühl freudiger Erregung bei dem Bewußtsein, wo er sich nun befand. Es war so seltsam, in einer der dürftigen, kleinen Droschken zu fahren, wie er sich deren noch aus jener Zeit erinnerte, als er, eben geweiht, vor zehn Jahren Rom verlassen hatte. Während die Welt vorangeschritten, war Rom stillgestanden; es hatte jetzt, wo das gesamte geistliche Gewicht des Erdkreises auf seinen Schultern lag, an anderes zu denken als an physikalische Verbesserungen. Alles schien unverändert geblieben zu sein – oder war vielmehr in den Zustand zurückgekehrt, in dem es sich vor 150 Jahren befunden hatte. Geschichtsbücher erzählten, wie alle die Verbesserungen aus der Zeit der italienischen Regierung nach und nach außer Gebrauch gekommen waren, sobald die Stadt vor achtzig Jahren ihre Unabhängigkeit erlangt hatte. Die Trams waren eingegangen, Flugfahrzeugen war der Zutritt innerhalb der Mauern verboten, die neuen Gebäude, die man bestehen ließ, waren für kirchliche Zwecke in Anspruch genommen: der Quirinal wurde das Verwaltungsgebäude des »roten Papstes«; in den Gesandtschaften hatte man gewaltige Seminare untergebracht; der Vatikan selbst war, mit Ausnahme des obersten Stockwerkes, zur Wohnung des heiligen Kollegiums geworden, das, gleich Sternen ihre Sonne, seinen Oberhirten, den Papst, umgab.
Percy hatte selbst auf der Fahrt herein von der Luftschiffstation, außerhalb der Porta del Popolo, den Anblick des Straßenlebens genossen: diese alten ländlichen Trachten, die blau und rot bemalten Weinkarren, die ungefegten Rinnsteine, die an Stricken über den Straßen flatternde nasse Wäsche, die Maultiere und Pferde – wie sonderbar dies alles auch war, für ihn war es doch eine angenehme Abwechslung. Es schien ihn daran zu erinnern, daß der Mensch menschlich war und nicht göttlich, wie die übrige Welt verkündete, – menschlich und darum nachlässig und individualistisch, menschlich, und darum erfüllt mit anderen Interessen als jenen der Eile, Reinlichkeit und Genauigkeit.
Der Raum, an dessen mit Jalousien versehenem Fenster – denn die Sonne brannte schon heiß – er eben saß, machte den Eindruck, als habe er um mehr als anderthalb Jahrhunderte sich zurückverwandelt. Der Damast und das Gold von ehedem, das er zu finden erwartet hatte, waren nicht mehr, und so atmete das Ganze tiefen Ernst. Ein breiter Tisch aus Kiefernholz durchlief, umgeben von geradlehnigen, hölzernen Armstühlen, das Zimmer in seiner Länge; der Boden bestand aus roten Ziegeln und war mit Läufern bedeckt, die weißgetünchten Wände trugen nur ein paar alte Gemälde, und ein großes Kruzifix mit zwei Kerzen stand auf einem kleinen Altare neben dem Ausgang. Sonst war nur noch, zwischen zwei Fenstern stehend, ein Schreibtisch zu sehen, und auf demselben eine Schreibmaschine. Dies fiel ihm auf und störte ein wenig seinen Geschmacksinn.
Er trank den letzten Tropfen Kaffee aus der breitrandigen weißen Tasse und lehnte sich in seinen Stuhl zurück.
Schon war seine Last leichter geworden, und er war erstaunt über die Schnelligkeit, mit der dies gekommen. Das Leben nahm sich hier einfacher aus, der inneren Welt wurde hier mehr Rechnung getragen, sie war nicht nur ein Gegenstand für Kontroversen. Sie war da, gebietend und objektiv, und durch sie schimmerten, dem Auge der Seele erkennbar, die alten Gestalten, die der Wust irdischer Dinge verdeckt gehalten hatte. Man fühlte sich hier förmlich im Schatten Gottes. Es war nicht mehr möglich, sich zu vergegenwärtigen, daß die Heiligen über uns wachten und ihre Fürbitte einlegten, daß Maria ihren Thron einnahm, daß die weiße Hostie auf dem Altare Jesus Christus sei. Percy hatte seinen Frieden noch nicht wiedererlangt – war er doch erst kaum eine Stunde in Rom – und die an Gnaden so reiche Umgebung konnte kaum mehr bewirken, als was sie bereits bewirkt hatte. Aber er fühlte sich erleichtert, nicht mehr so zum Verzweifeln geängstigt, kindlicher, zufriedener, sich auf die Autorität zu stützen, welche, ohne Widerrede zu gestatten, forderte und aufrechterhielt, daß die Welt in Wirklichkeit, auf innere und äußere Beweise gestützt, so und nicht anders und zu diesem und keinem anderen Zwecke erschaffen sei. Und doch hatte er sich all der Annehmlichkeiten, die sie ihm bot und die ihm nun zuwider waren, bedient; genau vor zwölf Stunden hatte er London verlassen, und nun saß er hier an einem Orte, der entweder eines der stagnierenden Altwasser des Lebens oder die Hauptströmung selbst war; darüber war er sich noch nicht klar.
Schritte ertönten draußen, eine Türklinke bewegte sich, und der Kardinalprotektor trat ein.
Percy hatte ihn seit vier Jahren nicht gesehen und erkannte ihn im ersten Augenblick fast nicht wieder.
Er war ein sehr alter Mann, schwach und gebeugt, das Gesicht mit Runzeln bedeckt und umrahmt von sehr dünnem, weißem Haar, auf welchem das kleine Purpurkäppchen saß; er trug seinen schwarzen Benediktinerhabit mit einem einfachen Abtkreuze auf der Brust und tastete sich, auf einen schwarzen Stock gestützt, unsicher voran. Das einzige Anzeichen von noch vorhandener Kraft lag in den lebhaften, unter gesenkten Lidern verborgenen Augen. Lächelnd streckte er die Hand aus, und Percy, sich noch rechtzeitig erinnernd, daß er im Vatikan sei, beugte sich nieder, um den Amethyst zu küssen.
»Willkommen in Rom, Father«, begann der Greis mit unerwartet frischer Stimme. »Man sagte mir, Sie seien seit einer halben Stunde hier; ich dachte, ich wollte Ihnen Zeit lassen, sich zu waschen und Ihren Kaffee zu trinken.«
Percy murmelte einige Worte.
»Ja, Sie sind müde, ohne Zweifel«, sagte der Kardinal, indem er einen Stuhl heranzog.
»Eigentlich nicht, Eminenz. Ich schlief ausgezeichnet.«
Der Kardinal wies ihm mit einer kurzen Handbewegung einen Stuhl an.
»Aber ich habe ein paar Worte mit Ihnen zu sprechen. Der Heilige Vater wünscht Sie um elf Uhr zu sehen.«
Percy war ein wenig betroffen.
»Wir machen heutzutage nicht mehr viele Umstände, Father … Wir haben keine Zeit zu vergeuden. Sie wissen wohl, daß Sie jetzt in Rom zu bleiben haben?«
»Ich habe mich darauf eingerichtet, Eminenz.«
»Sehr gut … Wir freuen uns, Sie hier zu haben, Father Franklin. Ihre Bemerkungen haben sehr großen Eindruck auf den Heiligen Vater gemacht. Sie haben in einer sehr merkwürdigen Weise die Dinge vorhergesehen.«
Percy errötete vor Freude. Es war so ziemlich die erste Anerkennung, die er empfangen. Kardinal Martin fuhr fort:
»Ich darf sagen, daß wir Sie für unseren wertvollsten Korrespondenten halten – jedenfalls in England. Dies ist der Grund zu Ihrer Beförderung. Sie haben uns in Zukunft hier beizustehen – als eine Art Berater; Tatsachen berichten kann jedermann, aber nicht jeder ist imstande, sie zu verstehen … Sie sehen sehr jung aus, Father. Wie alt sind Sie?«
»Ich bin dreiunddreißig, Ew. Eminenz.«
»Ah, Ihr weißes Haar täuscht … Nun, Father, wollen Sie mir in mein Zimmer folgen? Es ist jetzt acht Uhr. Ich werde Sie bis neun Uhr in Anspruch nehmen, dann sollen Sie etwas Ruhe haben, und um elf Uhr führe ich Sie zu Seiner Heiligkeit hinauf.«
Percy stand in eigentümlich gehobener Stimmung auf, um dem Kardinal die Türe zu öffnen.
Einige Minuten vor elf trat Percy aus seinem kleinen, weißgetünchten Zimmer, in neuem Ferraiuol, Soutane und Schnallenschuhen, und klopfte an der Türe des Kardinals.
Er fühlte jetzt eine viel größere Sicherheit. Er hatte frei und ohne Umstände mit dem Kardinal gesprochen, er hatte beschrieben, welche Wirkung Felsenburgh auf London ausgeübt und welche geistige Lähmung ihn selbst damals überkommen hatte. Er verhehlte nicht seine Vermutung, daß man an einem Wendepunkt angelangt sei, der seinesgleichen in der Geschichte nicht habe; ja, er ging selbst so weit, sich zu der Prophezeiung zu versteigen und seiner Meinung Ausdruck zu geben, daß eine Verfolgung innerhalb der Grenzen vernünftiger Berechnung liege.
»Die Welt scheint wunderlich lebhaft zu sein«, sagte er, »es ist, als wäre alles nervös, auf dem Siedepunkt angelangt.«
Der Kardinal nickte.
»Und was empfehlen Sie, Father –« hatte er begonnen, sich aber dann unterbrochen. »Nein, das ist zuviel gefragt. Davon wird der Heilige Vater sprechen.«
Der Kardinal hatte ihm dann noch zu seinem Latein gratuliert, denn sie hatten während dieser zweiten Unterredung sich ausschließlich dieser Sprache bedient, und Percy hatte dargelegt, wie loyal das katholische England gewesen sei, indem es dem vor zehn Jahren gegebenen Befehl gehorchte, daß Latein für die Kirche das zu werden habe, was Esperanto für die Welt geworden war.
»Das ist sehr gut«, sagte der Greis. »Seine Heiligkeit wird darüber sehr erfreut sein.«
Beim zweiten Klopfen öffnete sich die Türe, der Kardinal schritt heraus, nahm ihn, ohne ein Wort zu reden, beim Arme, und gemeinsam schritten sie dem Fahrstuhle zu.
Percy wagte eine Bemerkung, als sie geräuschlos zu den päpstlichen Gemächern emporschwebten.
»Ich bin erstaunt über den Lift, Ew. Eminenz, und über die Schreibmaschine im Empfangszimmer.«
»Weshalb, Father?«
»Nun, das ganze übrige Rom ist doch zu dem früheren Leben zurückgekehrt.«
Der Kardinal sah ihn verblüfft an.
»Wirklich? Ja, ich glaube, Sie haben recht. Ich dachte nie daran.«
Ein Schweizergardist rollte die Türe des Fahrstuhles zurück, salutierte und schritt vor ihnen den mit einfachen Steinplatten belegten Gang entlang, bis dorthin, wo sein Kamerad stand. Dann salutierte er wieder und kehrte an seinen früheren Platz zurück. Ein päpstlicher Kämmerer in seiner ganzen düsteren Pracht von Purpur, Schwarz und einer spanischen Krause, blickte zur Türe hervor und beeilte sich, zu öffnen. Es schien wirklich beinahe unglaublich, daß solche Dinge noch existierten.
»Einen Augenblick, Ew. Eminenz«, sagte er in Latein. »Wollen Ew. Eminenz hier warten?«
Sie waren in einem kleinen, viereckigen Raum mit einem halben Dutzend Türen, der durch einfaches Abteilen der großen Hallen von ehedem entstanden; er war ungemein hoch, und an zwei Stellen verschwand die vergoldete Wandverzierung plötzlich in den weißen Mauern. Die Zwischenwände schienen wohl sehr dünn zu sein, denn als die beiden sich gesetzt hatten, konnte man ein schwaches Murmeln von Stimmen, das Schlürfen von Fußtritten und das eintönige Geklapper einer Schreibmaschine vernehmen, dem Percy endlich für immer entkommen zu sein gehofft hatte. Die Fensterläden waren geschlossen, und so gab es nichts, was die Erregung, die nun in verstärktem Maße sich Percys Herz und Kopf bemächtigt hatte, zu zerstreuen geeignet gewesen wäre.
Es war Papst Angelikus, den er im Begriffe stand zu sehen, jener erstaunliche, alte Mann, der genau vor einem halben Jahrhundert im Alter von dreißig Jahren zum Staatssekretär ernannt und vor neun Jahren zum Papst erhoben worden war. Er war es gewesen, der jene außerordentliche Politik, die Kirchen ganz Italiens gegen Einräumung der weltlichen Herrschaft über Rom an die Regierung auszuliefern, zur Durchführung gebracht, und der es sich seitdem zum Ziel gesetzt hatte, Rom zu einer Stadt der Heiligen zu machen. Von dem Gedanken ausgehend, daß im großen ganzen die menschlichen Erfindungen früherer Zeiten darauf hinausliefen, die unsterblichen Seelen von der Betrachtung der ewigen Wahrheiten abzulenken – nicht als ob diese Entdeckungen in sich anders als gut seien; gewährten sie doch zum mindesten einen Einblick in die wunderbaren Gesetze Gottes – so erregten sie jetzt auch zu sehr die Phantasie. So hatte er denn die elektrischen Straßenbahnen, die Flugschiffe, Laboratorien und Fabrikgebäude entfernen lassen, mit dem Bemerken, daß es außerhalb Roms, in den Vorstädten, Platz genug für sie gebe. Dafür wurden Heiligtümer, religiöse Häuser und Kalvarienberge errichtet. Des weiteren hatte er sich der Seelen seiner Untertanen angenommen. Nachdem Rom von beschränktem Umfange war, und noch mehr aus dem Grunde, weil die Welt ohne ihr eigenes Salz verdarb, gestattete er keinem Manne unter fünfzig Jahren, mehr als einen Monat des Jahres innerhalb der Mauern zu wohnen; ausgenommen war nur, wer spezielle Erlaubnis erhielt. Jene konnten natürlich unmittelbar außerhalb der Stadt wohnen, und sie taten es auch zu Zehntausenden, doch ward ihnen bedeutet, daß sie dadurch dem Geiste, wenn auch nicht dem Buchstaben der Wünsche ihres Vaters zuwiderhandelten. Dann hatte er die Todesstrafe wieder eingeführt mit demselben ruhigen Zielbewußtsein, mit dem er sich auch in anderen Dingen dem Gespötte der zivilisierten Welt preisgegeben hatte; er erklärte, daß, wenn auch das Leben des Menschen heilig, die Tugend des Menschen doch noch etwas viel Heiligeres sei. Auf gleiche Stufe mit dem Verbrechen des Mordes hatte er die des Götzendienstes, der Abgötterei und der Apostasie gestellt und die gleiche Strafe dafür ausgesprochen. Es waren jedoch in den acht Jahren seiner Regierung nicht mehr als zwei derartige Fälle vorgekommen, nachdem Verbrecher, soweit sie nicht mehr gläubiger Gesinnung waren, sich sofort in die Vorstädte flüchteten, wo sie nicht länger unter der Jurisdiktion des Papstes standen.
Doch war dieser dabei nicht stehengeblieben. Nochmals hatte er Botschafter in jedes Land über die ganze Welt hin gesandt und die Regierungen von deren Ankunft benachrichtigt. Keinerlei Aufmerksamkeit war ihnen geschenkt worden; dafür aber hatte man sie verlacht. Unbeirrt hatte er dann fortgefahren, seine Rechte anzufordern und sich inzwischen seiner Legaten bedient, um seinen Ansichten allgemeine Verbreitung zu verschaffen. Päpstliche Schreiben wurden in Zwischenräumen in jeder Stadt veröffentlicht, die die Grundsätze der päpstlichen Ansprüche mit der gleichen Ruhe darlegten, als würden sie überall anerkannt. Vor dem Freimaurertum wurde immer wieder gewarnt, ebenso wie vor demokratischen Ideen alle Art; die Menschen wurden dringend aufgefordert, ihrer unsterblichen Seelen, sowie der Majestät Gottes zu gedenken, und die Tatsache zu erwägen, daß in wenigen Jahren alle gerufen werden würden, um dem Schöpfer und Herrn der Welt Rechenschaft abzulegen. Folgte Siegel und Unterschrift.
Und dies war der Mann, dachte Percy, Papst Angelicus, den er in wenigen Minuten sehen sollte.
Der Kardinal legte seine Hand auf des Priesters Knie, als sich die Türe öffnete und ein Prälat in Purpur, sich verbeugend, erschien.
»Nur noch das eine«, sagte er, »reden Sie frei heraus.«
Percy erhob sich zitternd. Dann folgte er seinem Vorgesetzten nach der inneren Türe.
In dem grünlichen Dunkel saß eine weißgekleidete Gestalt neben einem großen Schreibtische, mit dem Stuhle der Türe zugekehrt, durch welche die beiden hereintraten. Soviel bemerkte Percy, während er zum erstenmal das Knie beugte. Dann senkte er die Augen, trat einen Schritt näher, beugte zum zweitenmal das Knie, um dann, noch weiter sich nähernd, die dritte Kniebeugung auszuführen, die magere, weiße Hand, die ihm hingereicht wurde, zu erfassen und sie an die Lippen zu führen. Während er sich erhob, hörte er, wie die Türe hinter ihm geschlossen wurde.
»Father Franklin, Heiligkeit«, erklang des Kardinals Stimme neben ihm.
Ein weißbekleideter Arm wies nach einigen Stühlen in nächster Nähe, und die beiden ließen sich nieder. Während der Kardinal, sich des Lateins bedienend, in einigen Sätzen berichtete, daß dies der englische Priester sei, dessen Korrespondenz so nützlich befunden worden war, begann Percy, sein Gegenüber zu studieren.
Er kannte die Züge des Papstes gut aus Hunderten von Photographien und kinematographischen Darstellungen; selbst seine Gesten waren ihm wohlvertraut, das leichte, zustimmende Nicken des Hauptes, die kurzen, beredten Bewegungen der Hände; doch sagte sich Percy – wenn er sich damit auch einer Plattheit bewußt war –, daß die lebendige Wirklichkeit davon sehr verschieden sei.
Es war ein noch gänzlich ungebeugter Greis, den er dort im Stuhle vor sich sah, von mittlerer Größe, seine Hände auf die Armlehnen gestützt, mit dem Ausdruck hoher und wohlerwogener Würde. Doch waren es hauptsächlich die Züge, die ihn fesselten, insoweit ihn nicht ein Blick aus des Papstes blauen Augen veranlaßte, den eigenen zu senken. Es waren außergewöhnliche Augen; Augen, die ihn an das erinnerten, was Historiker von Pius X. erzählten. Die Augenlider bedeckten sie in zwei geraden Linien und gaben dem Gesicht etwas Falkenartiges, dem jedoch die übrigen Züge widersprachen. Es lag keinerlei Schärfe in demselben. Man konnte es weder mager noch voll nennen, jedoch war es schön oval geformt. Die Lippen waren fein geschnitten, mit einem Ausdruck der Charakterstärke in ihren Linien; die Nase von adlerhaftem Schwunge lief in wie mit dem Meißel gearbeiteten Nasenflügeln aus, das Kinn war fest und gespalten, der Gesamteindruck merkwürdig jugendlich. Es war ein Gesicht, aus dem Großmut und Liebenswürdigkeit sprachen, in dem Trotz und Demut sich vereinten, das aber jedenfalls durch und durch geistlich war; die Stirn war an den Schläfen etwas schmal, und unter dem weißen Käppchen blickte weißes Haar hervor.
Percy bemühte sich, ein zusammenfassendes Urteil zu finden, doch nichts schien ihm passend, ausgenommen das eine Wort: Priester. Dieses traf zu, und zwar voll und ganz. Ecce sacerdos magnus! Was ihn in Erstaunen versetzte, war das jugendliche Aussehen, denn der Papst zählte achtundachtzig Jahre. Und doch war seine Gestalt aufrecht wie die eines fünfzigjährigen Mannes, die Schultern ungekrümmt, das Haupt aufgesetzt wie das eines Athleten, und die Runzeln im Zwielicht kaum wahrnehmbar. Papa Angelicus, dachte Percy.
»Willkommen, mein Sohn«, begann eine sehr sanfte, volltönende Stimme.
Percy, etwas verlegen, machte eine tiefe Verbeugung.
Der Papst senkte seine Augen wieder, ergriff mit der Linken einen Briefbeschwerer und begann sachte damit zu spielen, während er fortfuhr:
»Nun, mein Sohn, halte uns einen kleinen Vortrag. Ich gebe dir drei Hauptpunkte an: Was ist geschehen, was geschieht gegenwärtig, und was wird geschehen, mit einer kurzen Zusammenfassung: was sollte geschehen.«
Percy holte tief Atem, lehnte sich zurück, seine Augen hefteten sich auf die mit einem Kreuze bestickten roten Schuhe dort vor ihm, und er begann. Wohl hundertmal hatte er sich alles wiederholt!
Als Ausgangspunkt setzte er fest, daß die gesamten Kräfte der zivilisierten Welt in zwei Lager geteilt seien: die Welt und Gott. Bisher waren die Kräfte der Welt zusammenhängend und äußerten sich nur stoßweise und nach verschiedenen Richtungen hin – Revolutionen und Kriege hatten den Bewegungen eines Pöbelhaufens geglichen, sie waren undiszipliniert, ungeschickt und zügellos gewesen. Um dem zu begegnen, war auch die Kirche, von ihrer Katholizität Gebrauch machend, dementsprechend vorgegangen, – zerstreuend, verteilend, anstatt konzentrierend: Franktireurs waren Franktireurs entgegengestellt worden. Während der letzten hundert Jahre hatten sich jedoch Anzeichen bemerkbar gemacht, die eine Änderung in der Methode der Kriegführung verlangten. Europa war der inneren Streitigkeiten müde geworden. Der Zusammenschluß zuerst der Arbeitskräfte, dann des Kapitals, dann der mit dem Kapital vereinten Arbeitskräfte, bezeugten dies auf wirtschaftlichem Gebiet, die friedliche Aufteilung Afrikas auf politischem und die Ausbreitung der Humanitätsreligion auf geistigem Gebiet. All diesem voran muß aber die Zunahme der Zentralisation seitens der Kirche betont werden. Durch die Weisheit ihrer von dem Allmächtigen geleiteten Päpste waren die Maschen von Jahr zu Jahr enger gezogen worden. Zum Beweise nannte er die Abschaffung aller lokalen Gebräuche, einschließlich jener vom Orient so lange gepflegten; ferner die Einführung der Kardinalprotektorate in Rom, dann die zwangsweise Verschmelzung aller Bettelorden in einen unter der Autorität eines einzigen Generals; aller Mönche, mit Ausnahme der Kartäuser, Karmeliten und Trappisten in einen anderen, und diese drei ausgenommen wieder in einen dritten, und endlich die Klassifizierung der weiblichen Orden nach demselben Plane. Weiter wies er hin auf die neueren Dekrete, die Festlegung des Sinnes der vatikanischen Entscheidung über die Unfehlbarkeit, die neue Version des kanonischen Rechtes, die ungeheuere Vereinfachung, welche in der kirchlichen Verwaltung, in der gesamten Hierarchie, den Rubriken und den Angelegenheiten der Missionsländer zur Einführung gelangt waren, nebst den außerordentlichen, den Missionspriestern verliehenen Privilegien.
Bei diesem Punkte angelangt, gewahrte Percy, daß sein Selbstbewußtsein ihn verlassen hatte, und er begann mit leicht erhobener Stimme und lebhafteren Bewegungen, sich über die Bedeutung der Ereignisse des letzten Monats zu verbreiten.
All dieses sei vorhergegangen, sagte er, um dann hinzuweisen auf das, was gegenwärtig sich vollzogen habe, nämlich die Verbrüderung der gesamten Welt auf einer anderen Grundlage als auf der der göttlichen Wahrheit. Es war die Absicht Gottes und seines Statthalters, die ganze Menschheit in Jesus Christus zu vereinen, aber der Grundpfeiler war noch einmal verworfen worden und anstatt des Chaos, das die Frommen vorhergesagt hatten, war eine Einheit ins Leben getreten, wie sie die Geschichte nie gesehen hatte. Dies war um so unheilvoller, nachdem sie so viele Elemente von unbezweifelbarem Werte umschloß. Der Krieg war allem Anscheine nach endgültig behoben, und es war nicht das Christentum gewesen, das dies zustande gebracht; man hatte nun eingesehen, daß Einigkeit besser sei als Zwietracht, und zu dieser Einsicht war man außerhalb der Kirche gekommen. Die natürlichen Tugenden hatten sich in der Tat in üppigster Weise entfaltet, und verächtlich blickte man auf die übernatürlichen herab. Wohlwollen war an die Stelle der Nächstenliebe getreten, Zufriedenheit an die Stelle der Hoffnung, und der Glaube war durch Kenntnisse ersetzt worden.
Percy hielt inne; er war plötzlich gewahr geworden, daß er sich zu einer Art Predigt habe hinreißen lassen.
»Ja, mein Sohn«, sagte die sanfte Stimme, »was noch?«
»Was noch? … Nun gut«, fuhr Percy fort, »derartige Bewegungen haben immer ihre eigenen Persönlichkeiten hervorgebracht, und der Mann dieser Bewegung ist Julian Felsenburgh. Er hat ein Werk geschaffen, das – wenn man bedenkt, daß es ohne Gott zustande kam – ein Wunder genannt werden muß. Entstammend dem Kontinent, der allein imstande war, solche Kräfte hervorzubringen, hat er die Spaltung, durch die von altersher Ost und West getrennt waren, beseitigt; durch die bloße Macht seiner Persönlichkeit hatte er die beiden bedeutendsten Tyrannen des Lebens überwältigt, – den religiösen Fanatismus und die Herrschaft der Parteien. Ein weiteres Wunder war sein Einfluß auf die kaltblütigen Engländer, und doch hatte er auch die Deutschen, die Franzosen und die Spanier zu entflammen gewußt.« Nun beschrieb Percy einige kleine Episoden, verglich sie mit der Vision eines Gottes und nannte unumwunden einige Titel, welche nüchterne, sonst nicht übertreibende Zeitungen jenem Manne beigelegt hatten. Felsenburgh war der Menschensohn genannt worden, weil er durchaus Kosmopolit ist; man nannte ihn den Erlöser der Welt, weil er den Krieg bezwungen, ohne selbst Schaden zu nehmen, ja sogar – sogar – Percys Stimme zitterte – sogar den menschgewordenen Gott, da er der vollkommenste Ausdruck des göttlichen Menschen sei.
Das ruhige, ehrwürdige Antlitz seines Gegenübers blieb regungslos auf ihn gerichtet, und so fuhr er fort.
Verfolgung, meinte er, sei im Anzuge. Schon hätte es einige Zusammenrottungen gegeben; aber die Verfolgung wäre nicht zu fürchten. Ohne Zweifel würde sie Apostasien zur Folge haben, wie dies auch bereits der Fall sei, doch diese seien nur im Interesse der Abtrünnigen selbst bedauerlich. Andererseits würden aber die Gläubigen befestigt und die Gleichgültigen ausgejätet werden. Einstmals, in den ersten Jahrhunderten, hatte Satan seine Angriffe mit Ruten, mit Feuer und wilden Tieren gegen das Fleisch gerichtet, im sechzehnten Jahrhundert gegen den Verstand, und im zwanzigsten Jahrhundert gegen die Quellen des moralischen und geistlichen Lebens. Jetzt schien es als ob er den Sturm auf alle drei Gebiete zu gleicher Zeit richte. Was aber hauptsächlich zu fürchten sei, sei der positive Einfluß des Humanitarismus; er war herangezogen gleich dem Reiche Gottes, mit Macht; er hatte alle Phantasie und Romantik zermalmt; er hatte seine eigene Wahrheit kurzerhand als solche hingestellt, anstatt sie zu beweisen; er hatte mit weichen Kissen erstickt, anstatt mit Schwert und Streich zu verwunden und aufzureizen. Er scheint objektiv seinen Weg zu bahnen bis hinein in das innere Leben. Personen, die kaum seinen Namen gehört hatten, bekannten sich zu seinen Grundsätzen; Priester nahmen sie in sich auf, wie sie Gott in der heiligen Kommunion aufnehmen – er nannte die Namen der jüngsten Apostaten –, und Kinder sogen sie ein, wie wenn es das Christentum selbst wäre. Die »von Natur aus christliche Seele« scheint zu der »von Natur aus ungläubigen Seele« werden zu sollen. Verfolgung, rief er aus, wäre willkommen zu heißen, wie eine Rettung, beten sollte man darum und nach ihr verlangen; aber er fürchte, daß die Behörden zu klug seien und zwischen Gegengift und Gift wohl zu unterscheiden verständen. Es mochten einzelne Martyrien vorkommen – und sie werden wirklich und in großer Zahl vorkommen –, aber sie werden gegen den Willen der weltlichen Mächte und nicht durch diesen sich vollziehen. Endlich sei noch zu erwarten, daß der Humanitarismus sich nun auch noch das Gewand von Liturgie und Opfer umwerfen werde, und wenn das einmal geschehen, dann sei es, wenn nicht Gott selbst eingriffe, mit der Sache der Kirche zu Ende.
Zitternd vor Erregung lehnte sich Percy zurück.
»Ja, mein Sohn, und was glaubst du, daß geschehen solle?«
Percy breitete seine Arme aus.
»Heiliger Vater, – die Meßgebete, der Rosenkranz! Diese als Anfang und Ende. Die Welt leugnet deren Macht, aber eben auf diese müßten die Christen sich mit Aufbietung aller Kräfte werfen. Alles in Jesus Christus, – in Jesus Christus als Anfang und Ende. Sonst kann nichts helfen. Er muß alles tun, da wir nichts tun können.«
Das greise Haupt neigte sich; dann richtete es sich wieder auf.
»Ja, mein Sohn … Aber solange Jesus Christus sich würdigt, sich unser zu bedienen, müssen wir handeln. Er ist Prophet und König sowohl als auch Priester. Darum müssen auch wir Propheten und Könige ebenso wie Priester sein. Und worin soll das Propheten- und Königtum bestehen?«
Die Stimme erbebte.
»Ja, Heiligkeit, … als Propheten lasset uns Nächstenliebe verkünden, als Könige lasset uns herrschen am Kreuze! Wir müssen lieben und leiden …« Schluchzend rang er nach Atem. »Euer Heiligkeit haben von jeher Nächstenliebe verkündet. Diese Nächstenliebe soll sich in guten Taten äußern. Seien wir darin allen anderen voran. Seien wir ehrlich in unseren Handlungen, keusch im Familienleben, gerecht als Herrscher. Und was das Leiden betrifft, – oh, Heiligkeit!«
Seine alte Idee tauchte in seinen Gedanken auf und trat vor ihn hin, überzeugend und gebieterisch.
»Nun, mein Sohn, sprich offen.«
»Euer Heiligkeit, es ist alt, – alt, wie das alte Rom, – jeder Narr hat darnach verlangt: einen neuen Orden, Heiligkeit, – einen neuen Orden«, stammelte er.
Die weiße Hand ließ den Briefbeschwerer sinken; der Papst beugte sich nach vorn und blickte in Spannung auf den Priester.
»Ja, mein Sohn?«
Percy warf sich ihm zu Füßen.
»Einen neuen Orden, Heiligkeit, ohne Habit und Tonsur, nur Eurer Heiligkeit unterworfen, – freier als die Jesuiten, ärmer als die Franziskaner, an Abtötung noch die Kartäuser übertreffend: Männer und Frauen sich gleichstehend, die drei Gelübde mit dem Verlangen nach dem Martyrium dazu, das Pantheon ihre Kirche, jeder Bischof verantwortlich für deren Unterhalt, ein Oberer in jedem Lande … Heiligkeit, es ist die Idee eines Toren … und Christus, der Gekreuzigte, ihr Schutzpatron.«
Der Papst erhob sich plötzlich – so plötzlich, daß auch Kardinal Martin aufsprang, besorgt und erschrocken. Es schien, als wäre dieser junge Mann zu weit gegangen.
Dann ließ sich der Papst wieder nieder und breitete die Hände aus.
»Gott segne dich, mein Sohn, du kannst gehen … Wollen Eminenz noch einige Minuten hier bleiben?«