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Der kleine Raum, in dem der neue Papst, in seine Lektüre vertieft, saß, war ein Muster von Einfachheit; die Wände weiß getüncht, die Decke aus nicht einmal gehobelten Sparren und der Fußboden aus gestampftem Lehm. Ein viereckiger Tisch stand in der Mitte mit einem Stuhle daneben; der geräumige Herd trug eine zum Gebrauch bereite Kohlenpfanne, und auf einem Bücherbrett an der Wand lehnten ein Dutzend Bücher. Von den drei Türen führte die eine nach der Privatkapelle, eine in das Vorzimmer und die dritte auf den kleinen gepflasterten Hof. Primitive Läden, durch deren Spalten die brennende orientalische Sonne Streifen blendenden Lichtes warf, verschlossen die gegen Mittag gelegenen Fenster.
Es war die Zeit der Mittagsruhe und, abgesehen von dem schrillen Zirpen der Zikaden am Bergabhange hinter dem Hause, lag alles in tiefer Ruhe.
Die Haltung des Papstes, der vor einer Stunde zu Mittag gespeist hatte, war während der ganzen Zeit dieselbe unveränderte, so sehr nahm ihn seine Lektüre in Anspruch. Für den Augenblick trat alles in den Hintergrund, seine Erinnerungen der letzten Monate und die bitteren Sorgen, die unerträgliche Last der Verantwortung. Das Buch in seiner Hand war eine billige Ausgabe der vor einem Monat erschienenen und vielgelesenen Biographie Julian Felsenburghs, und er war nun bei den letzten Seiten desselben angelangt.
Von unbekannter Hand verfaßt – manche vermuteten sogar, es sei das, wenn auch abgeleugnete Werk Felsenburghs selbst – zeichnete es sich durch klare, fließende Sprache aus. Am verbreitetsten jedoch war die Meinung, es sei zum mindesten mit Felsenburghs Gutheißung von einem jenem intimen Kreise Angehörenden, jenem Kreise, den er um sich gebildet und der nun unter seiner Leitung die Geschäfte des Ostens wie des Westens besorgte. Aus gewissen Anzeichen im Buche selbst wollte man schließen, daß der Verfasser dem Westen angehöre.
Der Hauptteil des Werkes behandelte das Leben Felsenburghs oder besser gesagt, jene zwei bis drei Jahre, die man bereits kannte, sein rapides Emporsteigen als amerikanischer Politiker, seine Vermittlerrolle im Osten, bis zu den Ereignissen vor fünf Monaten, da er in rascher Aufeinanderfolge in Damaskus als Messias ausgerufen, in London in aller Form angebetet und endlich mit ganz außerordentlicher Majorität zum Tribunen der beiden Amerika gewählt wurde.
Der Papst hatte in Eile diese objektiv geschilderten Tatsachen überflogen, denn er kannte sie schon zur Genüge, und studierte jetzt mit gespanntester Aufmerksamkeit die Angaben über Felsenburghs Charakter, oder besser, wie der Verfasser in geistvoller Weise es nannte, das, was Felsenburgh über sich selbst der Welt offenbar gemacht hatte. Er las von der Macht seiner Worte und seiner Taten; »Worte, die Töchter der Erde, waren in diesem Manne die denkbar engste Verbindung mit den Taten, den Söhnen des Himmels, eingegangen, und das Produkt dieser Verbindung war der Übermensch Felsenburgh.« Auch seine mehr untergeordneten Eigentümlichkeiten waren angeführt, sein Interesse für Literatur, sein erstaunliches Gedächtnis und seine linguistischen Kenntnisse. Er besaß, wie es schien, sowohl das teleskopische wie das mikroskopische Auge – er besaß einerseits ein feines Unterscheidungsgefühl für die über die ganze Welt hin wirkenden Tendenzen und Bewegungen, andererseits jedoch auch ein ungemein empfindsames Aufnahmevermögen für Einzelheiten. Verschiedene Beispiele bewiesen diese Behauptung, und eine Anzahl kurzer, aus seinem Munde stammender Aphorismen waren erwähnt. »Kein Mensch verzeiht«, hat er gesagt, »er versteht nur.« »Es bedarf des höchsten Glaubens, um nicht an einen transzendenten Gott zu glauben.« »Ein Mensch, der an sich glaubt, ist nicht weit davon entfernt, auch an seinen Nebenmenschen zu glauben.« Es war ein Satz, der dem Papste bezeichnend war für diese nahezu lächerliche Selbstüberhebung, die allein imstande ist, dem christlichen Geiste gegenüberzutreten, und weiter hieß es: »Ein Unrecht vergeben, heißt ein Verbrechen verzeihen«, und »der Starke ist für niemand erreichbar, ihm aber sind alle erreichbar.«
Es lag etwas Hochtrabendes in dieser Auswahl von Aussprüchen, doch mußte dafür, wie der Papst sehr wohl erkannte, nicht der Redner, sondern der Verfasser verantwortlich gemacht werden. Ihm, der den Redner selbst gehört hatte, war vollkommen bewußt, in welcher Weise dieselben ausgesprochen worden waren – ohne Anklang an eine feierliche lehramtliche Entscheidung etwa eines Pontifex maximus, sondern vielmehr hervorgehoben in feuriger Begeisterung oder ausgesprochen in jener eigentümlich rührenden Einfachheit, mit welcher er seinen ersten Einfall in London gemacht hatte. Es war wohl möglich, daß man ihn haßte und ihn fürchtete, niemals aber, daß man ihn lächerlich fand.
Doch seinen größten Gefallen fand der Verfasser offenbar darin, die Analogie zwischen seinem Helden und der Natur hervorzuheben. In beiden wiesen dieselben scheinbaren Widersprüche auf die Vereinigung der größten Zartheit mit der äußersten Härte hin. »Die gleiche Macht, welche die Wunde heilt, schlägt sie auch; die Macht, die den Düngerhaufen mit süßen Pflanzen und Gräsern bekleidet, bricht auch in Feuer und Erdbeben aus; die Macht, welche das Rebhuhn für sein Junges sterben läßt, schafft auch den Würger und sein lebendes Futter.« So war es auch mit Felsenburgh; er, der den Fall Roms beklagt hatte, sprach einen Monat später von der Ausrottung als von einer Waffe, deren man sich jetzt sogar von Rechts wegen bedienen dürfe im Dienste der Menschheit. Nur müsse sie mit Bedacht und nicht mit Leidenschaft gehandhabt werden.
Die Äußerung hatte außergewöhnliches Aufsehen hervorgerufen, da sie bei einem, der Friede und Duldung predigte, so paradox klang; allenthalben beschäftigte die Welt sich mit diesem Gegenstand. Doch hatte man, abgesehen von dem ausgesprochenen Verlangen nach der Vertreibung der irischen Katholiken und der Hinrichtung einiger Individuen, den Grundsatz noch nicht weiter zur Ausführung gebracht. Immerhin aber schien die Welt im großen Ganzen demselben zuzustimmen und sogar schon auf dessen Übertragung in die Praxis zu warten.
Wie der Biograph hervorhob, mußte die in ihre physische Natur eingeschlossene Welt jenen willkommen heißen, der nach ihren Vorschriften handelte, jenen, der in der Tat der erste war, der mit Absicht und Überlegung in das menschliche Handeln Gesetze einführte, wie das Obsiegen des Starken und die Immortalität des Verzeihens. Enthielt das eine ein Geheimnis, so auch das andere, und wenn der Mensch vorwärtsschreiten wollte, so mußten beide angenommen werden.
Und der Schlüssel zu diesem Mann schien in seiner Persönlichkeit zu liegen – ihn sehen, hieß zugleich an ihn glauben oder vielmehr ihn als unumgänglich wahr hinnehmen. »Wir geben keine Erklärung der Natur oder suchen ihr aus dem Wege zu gehen durch sentimentales Bedauern. Das Leben muß nun einmal mit diesen Bedingungen hingenommen werden; wir können uns nicht irren, wenn wir der Natur folgen; sich in die Lebensbedingungen so gut als möglich hineinfinden, heißt den Frieden finden – unsere große Mutter offenbart ihre Geheimnisse nur denen, welche sie so nehmen, wie sie ist.« So sei es auch mit Felsenburgh. »Es kommt uns nicht zu, ihn zu analysieren, seine Persönlichkeit ist von einer Art, die das nicht zuläßt sie ist eine vollständige und genügende für jene, welche ihm vertrauen und gewillt sind, zu dulden; für alle andern ist er ein feindliches und verhaßtes Rätsel. Wir müssen uns für die logische Durchführung dieser Lehre vorbereiten. Der Sentimentalität darf nicht gestattet werden, über die Vernunft zu herrschen.«
Und endlich noch zeigte der Schreiber, »wie gerade diesem Manne alle Titel gebührten, welche bisher dem in der Einbildung existierenden höchsten Wesen beigelegt worden waren.« Um auf ihn vorzubereiten, seien diese Typen in den Bereich des menschlichen Denkens gekommen und hätten der Menschen Leben beeinflußt.
»Er war der Schöpfer, denn ihm war es vorbehalten, das Leben in vollendeter Eintracht hervorzubringen, wonach die Welt bisher vergebens geseufzt hatte; nach seinem eigenen Ebenbild und Vorbild hatte er die Menschen geformt.«
»Er war das Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende, das Erste und das Letzte. Er war Dominus et Deus noster (wie es Domitian gewesen, dachte der Papst). Er war so einfach und so kompliziert wie das Leben selbst – einfach seinem Wesen nach, kompliziert in seiner Wirksamkeit.«
Und endlich lag der höchste Beweis für seine Mission in der unsterblichen Natur seiner Botschaft. Dem, was er selbst geoffenbart hatte, konnte nichts mehr hinzugefügt werden – denn in ihm fanden alle auseinandergehenden Linien endlich ihren Ursprung und ihr Ende. Ob er selbst sich als unsterblich erweisen würde oder nicht, war ein vollkommen nebensächlicher Gedanke; es würde in der Tat all diesem nur entsprochen haben, wenn durch seine Vermittlung das Prinzip des Lebens sein letztes Geheimnis erschließen würde; doch notwendig war dies nicht. Schon erfüllte sein Geist die Welt; das Individuum war nicht mehr von seinesgleichen getrennt, der Tod nur noch eine unbedeutende Bewegung, die die in ihrer Gesamtheit unverletzliche See durchlief. Denn der Mensch hatte endlich begriffen, daß die Rasse alles, das Selbst nichts war; die Zelle hatte die Einheit des Körpers entdeckt, ja, die größten Denker erklärten, das Bewußtsein des Individuums habe die Bezeichnung des Persönlichen auf die korporative Masse der Menschheit übertragen – und die Ruhelosigkeit des einen war in den Frieden einer geeinten Menschheit versunken, denn nichts als dies konnte eine genügende Erklärung für das Aufhören des Parteistreites und des nationalen Ehrgeizes geben – und dies war vor allem das Werk Felsenburghs gewesen.«
»Siehe, ich bin bei euch alle Tage«, bemerkte der Verfasser in leidenschaftlicher Zusammenfassung, »selbst jetzt am Ende der Welt; und der Tröster ist zu euch gekommen. Ich bin die Pforte – der Weg, die Wahrheit und das Leben – das Lebensbrot, das lebendige Wasser. Mein Name ist wunderbar, Friedensfürst, ewiger Vater, ich bin das Verlangen aller Nationen, der Schönsten unter den Menschenkindern – und meines Reiches soll kein Ende sein.«
Der Papst legte das Buch beiseite, lehnte sich zurück und schloß die Augen.
Und er, was sollte er zu all diesem sagen? Ein transzendenter Gott, der sich verbarg, ein Erlöser, der sein Kommen verschob, ein Tröster, der weder im Wind vernehmbar, noch im Feuer sichtbar ward!
Dort im nächsten Raume stand ein kleiner, hölzerner Altar und auf demselben ein eisernes Kästchen, und in dem eisernen Kästchen ein silberner Becher und in dem Becher – etwas. Draußen, hundert Meter entfernt, lagen die Kuppeln und ebenen Dächer eines kleinen Dorfes, genannt Nazareth; der Karmel lag zur Rechten, in der Entfernung von ein bis zwei Meilen links der Tabor, die Ebene von Jezrael in der Front, dahinter Kana und Galiläa, der stille See Genesareth und der Hermon. Und in weiter Ferne gegen Süden Jerusalem …
Auf diesen winzigen Streifen des Heiligen Landes hatte sich der Papst zurückgezogen – in dieses Land, dem vor zweitausend Jahren ein Glaube entsprossen war und wo, wenn nicht Gott selbst durch Feuer vom Himmel sprach, jener binnen kurzem als Unkraut vom Boden vertilgt werden würde. Es war hier auf dieser materiellen Erde, daß einer, von dem alle die Erlösung Israels gehofft, gewandelt war – es war in diesem Dorf, wo er Wasser getragen und Kästen und Stühle gezimmert hatte, auf jenem langgestreckten See waren seine Füße gewandelt, auf jenem hohen Hügel war er von flammender Glorie umgeben, und auf dem sanften, niederen Berge dort gegen Norden hatte er gelehrt, daß die Sanftmütigen selig seien und das Erdreich besitzen würden, die Friedfertigen die Kinder Gottes seien und die Hungernden und Durstigen gesättigt werden würden.
Und nun war es so gekommen. Das Christentum war aus Europa verschwunden, wie der letzte Schein der sinkenden Sonne von den dunkelnden Gipfeln; das ewige Rom war ein Trümmerhaufen; im Osten wie im Westen hatte man einen Menschen auf Gottes Thron erhoben und ihn als Gott ausgerufen. Die Welt war weitergeschritten, soziale Wissenschaft stand auf dem Höhepunkt, die Menschheit war zu einheitlichem Denken vorgedrungen, sie hatte sich auch die sozialen Lehren des Christentums, aber unter Ausschluß eines göttlichen Lehrers, oder vielmehr, wie sie sagten, trotz ihm, zu eigen gemacht. Es gab vielleicht noch drei, vielleicht fünf, höchstens zehn Millionen – es ließ sich unmöglich feststellen – auf dem ganzen Erdenrund, die noch Jesus Christus als Gott anbeteten. Und der Stellvertreter Christi saß in einem weißgetünchten Zimmer in Nazareth, gekleidet mit der Einfachheit seines Meisters und erwartete das Ende.
Er hatte sein Möglichstes getan. Eine Woche hindurch vor fünf Monaten war es zweifelhaft gewesen, ob überhaupt noch etwas getan werden könne. Drei Kardinäle waren am Leben geblieben, er selbst, Steinmann und der Patriarch von Jerusalem, alle übrigen lagen zermalmt unter den Trümmern Roms. Es lag kein Präzedenzfall vor, dem man hätte folgen können, und so hatten sich die beiden Europäer auf den Weg nach dem Osten gemacht, nach der einen Stadt, wo noch Ruhe herrschte. Mit der Auflösung des griechischen Christentums waren auch die letzten Überbleibsel des Krieges innerhalb der Christenheit verschwunden; und dank einer gewissen stillschweigenden Einwilligung der Welt war in Palästina den Christen eine mäßige Freiheit gelassen worden. Wohl waren die heiligen Stätten entweiht worden, und ihren Resten brachte man nur mehr ein rein geschichtliches Interesse entgegen; waren auch die Altäre nicht mehr, so waren doch deren Stellen noch gekennzeichnet, und wenn auch das heilige Meßopfer dort nicht mehr dargebracht werden durfte, so hatte man doch Privatkapellen noch bestehen lassen.
Dies war der Zustand, in dem die beiden Kardinäle Europas die Stadt gefunden hatten; man hielt es für klug, keinerlei Abzeichen öffentlich zu tragen, und es war so ziemlich sicher, daß die zivilisierte Welt nichts von der Existenz der beiden wußte. Denn drei Tage nach ihrer Ankunft daselbst war der greise Patriarch gestorben, doch nicht, ohne daß zuvor Percy Franklin, jedenfalls unter Umständen, wie sie so eigentümlich seit dem ersten Jahrhundert sich nicht mehr eingestellt hatten, zur päpstlichen Würde erhoben worden war. In wenigen Minuten, am Bette des Sterbenden, war alles abgemacht worden. Die beiden Älteren hatten darauf bestanden. Der Deutsche hatte sogar nochmals auf die seltsame Ähnlichkeit zwischen Percy und Julian Felsenburgh hingewiesen und hatte halblaut seine frühere, fast überhörte Bemerkung über die Antithese und den Finger Gottes wiederholt. Und Percy, etwas verwundert über solchen Aberglauben, hatte angenommen, und das Resultat wurde konstatiert. Er hatte den Namen Silvester, den Namen des letzten Heiligen des Jahres, gewählt und war somit der dritte Papst dieses Namens. Dann hatte er sich mit seinem Kaplan nach Nazareth zurückgezogen; Steinmann war nach Deutschland zurückgekehrt und vierzehn Tage nach seiner Ankunft bei einem Aufruhr gehängt worden.
Das nächste war die Ernennung neuer Kardinäle, und an zwanzig Persönlichkeiten waren unter Beobachtung unbeschreiblicher Vorsichtsmaßregeln die Breven übermittelt worden. Neun hatten abgelehnt; man wandte sich an drei weitere, von denen nur einer annahm. Es gab also zur Zeit zwölf Personen in der gesamten Welt, die das Heilige Kollegium bildeten – zwei Engländer, deren einer Corkran; zwei Amerikaner, ein Franzose, ein Deutscher, ein Italiener, ein Spanier, ein Pole, ein Chinese, ein Grieche und ein Russe. Diesen waren ausgedehnte Distrikte übertragen worden, über welche sie unbeschränkte Gewalt ausübten, während sie selbst ausschließlich dem Heiligen Vater unterstanden.
Was das Privatleben des Papstes betraf, so konnte wenig darüber gesagt werden. Es glich, seinem Dafürhalten nach, in den äußeren Umständen etwa jenem Leos des Großen unter Weglassung von dessen weltlicher Bedeutung und seines Pompes. Theoretisch gesprochen, stand die christliche Welt unter seiner Herrschaft; in Wirklichkeit wurden alle Angelegenheiten des Christentums von Lokalbehörden geleitet. Aus hundert Gründen war ein direkter Austausch von Mitteilungen, wie er den Wünschen des Papstes entsprochen hätte, unmöglich. Eine sorgfältig ausgedachte Geheimschrift war eingeführt und auf dem Dache eine Privattelegraphenstation errichtet worden, welche mit einer solchen in Damaskus, der Residenz des Kardinals Corkran, in Verbindung stand. Gelegentlich gingen von diesem Mittelpunkt Botschaften überall hin an die kirchlichen Behörden, doch konnte im allgemeinen wenig getan werden. Der Papst hatte jedoch die Genugtuung, zu erfahren, daß, wenn auch unter unglaublichen Schwierigkeiten, doch ein kleiner Fortschritt in der Richtung einer Wiederherstellung der Hierarchie in allen Ländern zu verzeichnen war. Allenthalben wurden wieder Bischöfe konsekriert; es gab deren insgesamt nicht weniger als zweitausend. Der Orden Christi des Gekreuzigten arbeitete in ausgezeichneter Weise; Berichte von nicht weniger als vierhundert, größtenteils durch die Hand des Pöbels verübten Martyrien waren während der letzten zwei Monate eingelaufen.
Genaueste Instruktionen waren von Nazareth ausgegangen, daß kein Bischof sich unnötigerweise exponieren dürfe; ein jeder hatte sich als das Herz seiner Diözese zu betrachten, für dessen Schutz alles darangesetzt werden mußte, ausgenommen, die Christenehre, und infolgedessen hatte jeder sich mit einem Kreise dieser Ordensleute umgeben – Männer sowohl, als Frauen –, welche in außerordentlichem, großherzigem Gehorsam den gefahrvollsten Aufgaben sich unterzogen, deren sie fähig waren. Es war nun mehr als klar, daß ohne diesen Orden die Kirche bei den neuen Zeitläufen so gut wie gelähmt gewesen wäre.
In jeder Hinsicht waren außerordentliche Erleichterungen gewährt worden. Jeder dem Orden angehörende Priester erhielt universelle Jurisdiktion, die sonst nur dem Bischof der Diözese zustand, in welcher er sich befand. An jedem Tage des Jahres war die Messe von den fünf Wunden, der Auferstehung oder jene der Mutter Gottes gestattet, und alle hatten das Privileg des Tragaltares, der jetzt auch aus Holz bestehen durfte. Auch rituelle Erfordernisse wurden eingeschränkt; beim heiligen Meßopfer konnte irgendein entsprechendes, aus zerbrechbarem Material, wie Glas oder Porzellan, angefertigtes Gefäß gebraucht werden; jede Art von Brot durfte verwendet und von kirchlichen Gewändern Abstand genommen werden, mit Ausnahme der dünnen Schnur, welche die Stola vertrat; Kerzen waren nicht wesentlich notwendig; niemand war zum Tragen priesterlicher Kleidung verpflichtet, und der Rosenkranz durfte, sogar ohne Benützung eines Rosenkranzes, an die Stelle des Breviers treten.
Auf diese Weise war es den Priestern ermöglicht, die Sakramente zu spenden und das heilige Opfer zu feiern, ohne daß sie dadurch selbst auch nur der geringsten Gefahr ausgesetzt, und diese Milderungen hatten sich in den Gefängnissen Europas, in denen bereits viele Tausende von Katholiken die Strafe für ihre Weigerung an der Teilnahme am öffentlichen Gottesdienste abbüßten, von unberechenbarem Vorteile erwiesen.
Das Privatleben des Papstes war so einfach wie sein Gemach. Er hatte einen syrischen Priester als Kaplan und zwei syrische Diener. Jeden Morgen las er seine Messe, im Meßgewand und dem weißen Talar darunter, und wohnte nachher noch einer Messe bei. Dann, nachdem er, der Landessitte gemäß, Tunika und Burnus angelegt, trank er seinen Kaffee und verbrachte den Morgen mit Arbeit. Um Mittag speiste er, schlief ein wenig und unternahm dann einen Ritt, denn infolge seiner unschlüssigen Haltung fand sich das Land noch in derselben Einfachheit wie vor hundert Jahren. Mit der Abenddämmerung kehrte er zurück, nahm seine Abendmahlzeit ein und arbeitete wieder bis spät in die Nacht hinein.
Dies war alles. Sein Kaplan sandte die nötigen Botschaften nach Damaskus; seine Diener, die seine Würde nicht ahnten, kamen mit der Laienwelt soweit als nötig war in Berührung und alles, was seine wenigen Nachbarn zu wissen schienen, war, daß in dem Häuschen des verstorbenen Scheiks auf dem Hügel ein exzentrischer Europäer wohnte, der eine eigene Telegraphenstation besaß. Seine Diener, selbst fromme Katholiken, hielten ihn für einen Bischof, aber nichts weiter. Sie hatten die Versicherung erhalten, daß noch ein Papst lebe, und dies und die Sakramente genügten ihnen.
Mit einem Wort also – die katholische Welt wußte, daß ihr Papst unter dem Namen Silvester existierte, und von der gesamten Menschheit war es nur dreizehn Personen bekannt, daß sein Name Franklin gewesen und daß der Thron Petri zur Zeit in Nazareth stand.
Es war, wie ein Franzose vor genau hundert Jahren gesagt hatte. Der Katholizismus war noch vorhanden, das war aber auch alles, was von demselben gesagt werden konnte.
Und in bezug auf sein inneres Leben, was ließ sich da sagen?
Augenblicklich ruhte der Papst, in seinem hölzernen Stuhl zurückgelehnt, mit geschlossenen Augen und dachte nach.
Er hätte es nicht einmal sich selbst gegenüber genügend ausdrücken können, denn er wußte es in der Tat selbst kaum; er zog es vor, zu handeln, anstatt sich Selbstbetrachtungen hinzugeben. Doch der Kernpunkt seiner Stellung war einfacher Glaube. Die katholische Religion gab – er war sich dessen voll bewußt – die einzige angemessene Erklärung des Universums; sie erschloß nicht alle Geheimnisse, doch erschloß sie immerhin mehr, als irgendein anderer den Menschen bekannter Schlüssel. Auch war er vollkommen davon überzeugt, daß es das einzige Denksystem war, das den Menschen befriedigte und seinem Wesen und seiner Natur entsprach. Außerdem sah er nur zu gut, daß der Mißerfolg des Christentums, alle Menschen zu vereinen, nicht dessen Schwäche, sondern vielmehr dessen Stärke zuzuschreiben war; sein Ziel lag in der Ewigkeit, nicht in der Zeit. Überdies, er glaubte nun einmal daran.
Aber zu diesem Vordergrund kamen noch andere Stimmungen, deren Wechsel sich vollkommen seiner Gewalt entzog. Die gehobenen Stimmungen, die ihn überkamen wie ein sanfter Hauch aus dem Paradies, bargen einen lichten Hintergrund von Hoffnung und Leben, und er sah sich und seine Gefährten, so wie Petrus und die Apostel sich vorgekommen sein mußten, als sie in aller Welt, in Tempeln und verborgenen Winkeln, auf den Marktplätzen und in Privathäusern den Glauben predigten, der die Welt umstürzen und erneuern sollte. Sie waren in persönlicher Berührung mit dem Herrn des Lebens gewesen, sie hatten das leere Grab gesehen, die durchbohrten Hände dessen, der ihr Bruder und ihr Gott war, betastet. Es war klarste Wahrheit, obwohl niemand es glaubte; das darauf lastende ungeheuere Gewicht des Unglaubens konnte die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, die so wenig zu bezweifeln war, wie die Sonne am Himmel. Für ihn war es notwendig, die geistigen Wahrheiten in ihrer übernatürlichen Sphäre so zu erfassen, daß die äußerlichen Tatsachen der Menschwerdung eher durch die Gewißheit seiner geistigen Wahrnehmungen, als diese durch jene bewiesen würden. Gewiß, historisch gesprochen, das Christentum war Wahrheit – bewiesen durch seine Vergangenheit – und doch bedurfte es, um dies einzusehen, der Erleuchtung. Er nahm die von der Auferstehung ausgehende Kraft wahr, und darum war ihm Christus auferstanden.
Stimmungen der Niedergeschlagenheit wirkten daher naturgemäß entgegengesetzt auf ihn. Es gab Zeiten, manchmal hielten sie mehrere Tage hindurch an, Perioden niederdrückendster Art, in denen der Trübsinn ihn erfaßte beim Erwachen – in denen er zu ersticken vermeinte, sobald er zu schlafen versuchte, Stunden des Überdrusses selbst an dem Geschmack des heiligen Sakramentes und des kostbaren Blutes; es gab Zeiten, in denen das Dunkel so unerträglich wurde, daß selbst die sichergestellten Objekte des Glaubens zu Schatten herabsanken, sich verflüchtigten, in denen die Hälfte seiner Natur mit Blindheit geschlagen war, nicht nur gegenüber Christus, sondern gegen Gott überhaupt und die Realität seiner eigenen Existenz – in denen seine furchtbare Würde ihm nur als Schein vorkam. Und war es glaubhaft, so fragte sein menschlicher Verstand, daß er und sein Kollegium der zwölf Kardinäle und die paar Tausende Recht haben sollten, und die gesamte zivilisierte Welt in ihrer umfassenden Übereinstimmung sich im Unrecht befinden sollte? Nicht etwa, als ob die Welt die Botschaft des Evangeliums noch nicht vernommen hätte; in den zweitausend Jahren war dieses so ziemlich überall hingedrungen und jetzt als falsch verworfen – falsch in dem, was es nach außenhin beglaubigte, und falsch darum in seinen inneren Forderungen. Es war eine verlorene Sache, für die er litt; er war nicht der letzte einer erhabenen Reihe, er war der letzte Rest einer Torheit, der verglimmende Docht einer herabgebrannten Kerze. Er war die Zurückführung ad absurdum eines lächerlichen Syllogismus, begründet auf unmögliche Vorbedingungen. Er war nicht einmal wert, niedergemacht zu werden, er und seine der Vernunft verlustige Gesellschaft, nichts waren sie weiter, als die gekrönten Dummköpfe in der Schule der Welt.
Eines allein gab ihm Kraft, auszuhalten, wenigstens soweit sein Bewußtsein in Frage kam, und das war seine Betrachtung. Er war seit jenen verzweifelten, letzten Kämpfen weit vorgeschritten im mystischen Leben. Er war abgekommen von jenem bedächtigen Hinabsteigen in die geistige Welt; er brauchte nur, wie gewohnt, den Kopf zwischen die Hände zu nehmen, um in die Raumlosigkeit zu versinken. Das Bewußtsein würde ihn zwar wieder wie einen Kork an die Oberfläche treiben, aber er brauchte weiter nichts zu tun, als den Akt zu wiederholen, um durch jenes Aufhören der Tätigkeit, das die höchste Energie ist, in das Dämmerreich der Transzendenz zu treiben, wo Gott mit ihm verkehrte – bald durch einige klar vernehmbare Worte, bald durch ein Schwert von Schmerzen, das ihn durchdrang, oder durch einen Hauch gleich der belebenden Brise des Meeres.
So lehnte er also in seinem Stuhl und erwog nochmals die unerträglichen Gotteslästerungen, die er soeben gelesen. Sein weißes Haar war an den gebräunten Schläfen dünn geworden, seine Hände glichen denen eines Geistes, und Furcht und Sorge hatten ihre Kennzeichen dem jungen Gesichte aufgeprägt. Seine bloßen Füße blickten unter der fleckigen Tunika hervor und sein alter Burnus lag neben ihm auf dem Boden.
Es war eine Stunde vor dem Aufbruch und die Sonne hatte schon ihre halbe Kraft verloren, als draußen auf dem gepflasterten Hofe die Schritte der Pferde sich hören ließen. Er setzte sich auf, schlüpfte in die Schuhe und nahm den Burnus vom Boden auf, als die Türe sich öffnete und der hagere, sonnenverbrannte Priester hereintrat.
»Die Pferde, Heiligkeit«, sagte er.
Der Papst sprach an jenem Nachmittage kein Wort, bis die beiden gegen Sonnenuntergang den Saumpfad hinaufritten, der zwischen dem Tabor und Nazareth hinführt. Sie hatten ihre gewohnte Runde durch Kana gemacht, indem sie einen kleinen Hügel hinanstiegen, von dem aus der langgestreckte Spiegel des Sees Genesareth sichtbar war, und zogen, immer sich zur Rechten haltend, im Schatten des Tabors hin bis wiederum Jezrael gleich einem graugrünen Teppich sich unter ihren Augen ausbreitete, kreisförmig und mit einem Durchmesser von etwa zwanzig Meilen, mit spärlich verstreuten Gruppen von Hütten, weißen Mauern und Dächern, mit Naim auf der anderen Seite, während nach rechts in weiter Ferne der Karmel sich hinzog, und Nazareth in der Entfernung von einigen Meilen sich an die Hochebene anschmiegte, auf der sie Halt gemacht hatten.
Es war ein Anblick von außerordentlichem Frieden, und man hätte meinen mögen, es sei eine Seite aus irgend einem alten, vor Jahrhunderten entstandenen Bilderbuch. Hier gab es kein Meer von Dächern, hier lastete keine fiebernde Menschheit, nichts war zu sehen von schrecklichen Spuren der Zivilisation und Fabrikation, von rast- und nutzlosem Mühen. Einige müde Juden waren in dieses stille, kleine Land zurückgekehrt, wie etwa alte Leute wieder ihre Heimat aufsuchen, ohne jegliche Hoffnung, ihre Jugend wiederkehren zu sehen oder ihre Ideale wiederzufinden, doch mit einer Art Sentimentalität, die so oft auch die logischsten Gründe überwindet, und da und dort waren einige barackenähnliche Häuser um die einsamen Dörfer entstanden. Doch war alles noch fast ganz so, wie es vor hundert Jahren gewesen.
Die Ebene lag zur Hälfte im Schatten des Karmel, zur Hälfte im matten Abendgolde. Darüber leuchtete der morgenländische Himmel in feurigem Rot, wie er einst auch für Abraham, Jakob und den Sohn Davids geleuchtet hatte. Eine kleine Wolke lag über dem See, wie die Hand eines Menschen. Barg sie Hoffnung oder Schrecken? Kein Laut rasselnder Streitwagen war vernehmbar, weder von der Erde, noch vom Himmel, keine Vision himmlischer Rosse, wie sie ein Jüngling hier an demselben Himmel gesehen hatte. Hier lag die alte Erde und der alte Himmel, unverändert und unveränderlich; der geduldige, wiederkehrende Frühling hatte den spärlichen Boden mit den Blumen Bethlehems geschmückt und mit jenen herrlichen Lilien, mit denen Salomons Scharlachgewänder nicht einmal den Vergleich ausgehalten hatten.
Als die beiden anhielten und die Pferde ruhig und forschend auf diese sich unter ihnen ausdehnende Fülle von Licht und Luft hinstarrten, wurde ein sanftes Geblök laut und eine Schafherde trieb unter ihnen längs des Abhanges hin, kaum hundert Meter entfernt, und stieg langsam höher, ihren langen Schatten hinter sich herziehend. Dem lieblichen Klingeln der Glöckchen folgte die Herde, ein Trupp geduldiger Schafe und gutwilliger Ziegen, werdend, dann weiter ziehend und wieder weidend, dem Pferch entgegen, beim Namen gerufen mit jener traurigen, leisen Stimme von dem, der jedes Tier einzeln kannte und der führte, anstatt zu treiben. Das sanfte Klingen wurde schwächer, der Schatten des Schäfers schoß einen Moment bis zu ihren Füßen herüber, als er sich über die Anhöhe erhob und im Weiterziehen wieder verschwand, und auch das Rufen wurde schwächer, bis es erstarb.
Der Papst legte einen Moment die Hand über die Augen und ließ sie dann langsam herniedersinken. Er nickte nach einem kaum erkennbaren Flecken weißer Mauern hinüber, der durch das violette Dämmerlicht schimmerte.
»Jener Ort, Father«, sagte er, »wie ist sein Name?«
Der syrische Priester blickte hinüber, dann zurück auf den Papst und wieder hinüber.
»Dort unter den Palmen, Heiligkeit?«
»Ja.«
»Das ist Megiddo«, sagte er, »einige nennen es Armageddon.«