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Die alte Mrs. Brand und Mabel saßen an einem Fenster des neuen Admiralitätsgebäudes in Trafalgar-Square, um von dort aus Zeugen von Olivers Rede anläßlich des fünfzigsten Jahrestages der Armengesetzreform zu sein.
Es war ein erhebender Anblick, an diesem Junimorgen zu sehen, wie die Menge sich um die Statue Braithwaites scharte. Dieser Politiker, nun seit fünfzehn Jahren tot, war in seiner bekannten Haltung dargestellt, mit ausgestreckten, abwärts gesenkten Armen, das Haupt erhoben und einen Fuß ein wenig vorgesetzt. Heute war die Statue, wie dies bei solchen Gelegenheiten mehr und mehr Brauch geworden war, mit den Abzeichen der Loge geschmückt.
Die alte Mrs. Brand war heute in ihrem besten Staate und blickte mit ziemlicher Erregung auf die dichtgedrängte, unabsehbare Menge, die sich eingefunden hatte, um der Rede ihres Sohnes zu lauschen. Rund um die Bronzestatue des Staatsmannes war eine Tribüne errichtet, in einer Höhe, daß dieser, wenn auch ein weniges über seine Umgebung hervorragend, mitten unter den Rednern zu stehen schien; auf dieser Tribüne, die mit Rosen geschmückt und von einem Schalldache überragt war, befanden sich ein Stuhl und ein Tisch.
Soweit man den Platz übersehen konnte, stand Kopf an Kopf, und das Gesumme von Tausenden von Stimmen wurde ab und zu übertönt von dem Geschmetter der Trompeten und dem dumpfen Wirbel der Trommeln, wenn die Wohltätigkeitsvereine und demokratischen Gilden mit ihren Bannern von Nord, Süd, Ost und West her aufmarschierten und den großen, eingefaßten Raum einnahmen, der ihnen vorbehalten war. Auch die Fenster alle waren dicht besetzt; kolossale Gerüste zogen sich längs der Front der Nationalgalerie und St. Martinskirche hin gleich vielfarbigen Gartenbeeten hinter den stummen, weißen Bildsäulen, welche rings den Platz umstanden, von Braithwaite angefangen, vorbei an den Größen aus der Zeit Viktorias – John Davidson, John Burns und den übrigen – bis zu Hampden und de Montford auf der Nordseite. Über den Dächern hoben sich enggedrängte Friese von Köpfen gegen den blauen Sommerhimmel ab. Nicht weniger als hunderttausend Personen waren um Mittag innerhalb der Seh- und Hörweite der Plattform zusammengedrängt.
Als die Uhren die Stunde verkündeten, kamen hinter der Statue zwei Gestalten hervor, traten in den Vordergrund, und wie auf einen Schlag wuchs das Murmeln zu einem Beifallssturme an.
Zuerst erschien der alte Lord Pemberton, eine grauhaarige, aufrechte Erscheinung, dessen Vater mitgeholfen hatte, das Herrenhaus, dessen Mitglied er war, anläßlich seines Falles vor mehr als siebzig Jahren, in Anklagezustand zu versetzen, und in seinem Sohn war ihm ein würdiger Nachfolger erwachsen. Nach ihm kam Oliver, unbedeckten Hauptes, tadellos in seinem Äußeren, und selbst auf die Entfernung hin konnten seine Mutter und Mabel seine energischen Bewegungen, sein frohes Lächeln und beifälliges Nicken erkennen, als sein Name aus dem stürmischen Lärm, der sich rund um die Plattform erhoben hatte, ertönte. Lord Pemberton trat vor, erhob die Hand und machte ein Zeichen, und in einem Augenblick erstarben die Hochrufe unter dem plötzlich einsetzenden Rollen der Trommeln und der sich daranschließenden Intonierung der Freimaurerhymne.
Zu singen verstanden diese Londoner, daran war nicht zu zweifeln. Es schien, als ob eine gigantische Stimme die klangvolle Melodie summte und sich zum Enthusiasmus emporschwang, bis die Töne der vereinten Musikchöre ihr folgten, gleich einem Banner, das sich an die Fahnenstange anschmiegt. Es war eine vor etwa zehn Jahren verfaßte Hymne, und schon war ganz England vertraut mit ihr. Die alte Mrs. Brand warf mechanisch einen Blick auf das Programm und sah die ihr so wohlbekannten Worte:
»Der Herr, der wohnt in Land und Meer …«
Sie durchlas die Verse, welche, vom humanitären Standpunkte aus betrachtet, mit Geschick und Eifer abgefaßt waren. Sie hatten ein religiöses Gepräge; der ungebildete Christ konnte sie singen, ohne darüber Skrupeln zu bekommen, und doch war ihr Sinn klar genug – der alte menschliche Glaube, daß der Mensch das All sei.
Als die Hymne verklungen war, und ehe der Beifall sich wieder erheben konnte, stand der greise Lord Pemberton an dem vorderen Rand der Plattform, und seine dünne, metallische Stimme übertönte mit einigen kurzen Worten das Plätschern der Springbrunnen hinter ihm. Dann trat er zurück, und Oliver trat an seine Stelle. –
Sie waren zu weit entfernt, die beiden, um zu unterscheiden, was er sprach, aber Mabel drückte mit einem nervösen Lächeln der alten Dame ein Stückchen Papier in die Hand und beugte sich dann lauschend nach vorn.
Die greise Mrs. Brand warf auch einen Blick darauf; sie wußte, es war ein Auszug aus der Rede ihres Sohnes, dessen Worte zu verstehen sie nicht imstande war.
Er begann, indem er als Einleitung alle Anwesenden beglückwünschte, die sich hier eingefunden hatten, um den großen Mann zu ehren, der von seiner Plattform aus selbst bei dieser großen Jubiläumsfeier den Vorsitz führte.
Es sei heute seine Aufgabe, zum Preise der duldenden Armut und deren Belohnung zu sprechen, und dies, meinte er, zusammen mit einer kurzen Erwähnung des Gefängnisreformgesetzes, würde die erste Hälfte seiner Rede bilden. Der zweite Teil sollte ein Loblied auf Braithwaite sein, auf ihn, als den Herold einer Bewegung, die eben erst um sich zu greifen begann.
Die alte Mrs. Brand lehnte in ihrem Sessel zurück und wandte ihre Blicke wieder dem Festplatze zu.
Ah, mit voller Begeisterung entwickelte er seine Lobrede! Seine kleine, dunkle Gestalt stand im Hintergrund, etwa einen Meter von der Statue entfernt, und eben, als sie hinblickte, erhob er seine Hand, wandte sich mit einer jähen Bewegung um, und brausender Beifall übertönte einen Augenblick die klare, klangvolle Stimme. Dann schritt er wieder nach vorne, halb kriechend – denn er war ein geborener Schauspieler –, und schallendes Gelächter ertönte unter der Menge. Sie vernahm hinter dem Stuhl ein verhaltenes Zischen und unmittelbar darauf einen Schrei ihrer Schwiegertochter … Was bedeutete dies? …
Ein Krach, und die kleine, gestikulierende Gestalt taumelte zurück. Der Greis am Präsidiumstisch sprang sofort auf, und im selben Augenblick gärte und wogte es unter der Menschenmenge unmittelbar außerhalb des abgegrenzten Raumes, wo die Musikchöre standen, und genau der Tribüne gegenüber, gleich der Brandung, die gegen den Felsen anstürmt.
Mrs. Brand, ganz außer sich und verwirrt, war aufgesprungen und klammerte sich an das Fenstergitter, während ihre Schwiegertochter sie krampfhaft am Arm packte und unverständliche Worte von sich stieß. Der ganze Platz war in Aufruhr, die Köpfe bewegten sich bald nach dieser, bald nach jener Richtung, wie ein vom Sturm gepeitschtes Ährenfeld. Oliver erschien wieder im Vordergrund, seine Hand deutete auf einen Punkt, und er rief erregte Worte aus; sie konnte genau seinen Bewegungen folgen, dann sank sie in ihren Lehnstuhl zurück, das Blut schoß durch ihre Adern, und es schien ihr, als müßte sie ersticken.
»Liebes, liebes Kind, was ist geschehen?« schluchzte sie.
Aber auch Mabel war aufgesprungen und starrte ängstlich nach ihrem Gemahl hin; hinter ihr ließ sich trotz des wogenden Tumultes auf dem Platze ein lautes Durcheinander von Worten und Ausrufen vernehmen.
Oliver erklärte ihnen abends zu Hause, in seinen Armstuhl zurückgelehnt, die ganze Geschichte; einer seiner Arme war verbunden und in einer Schlinge.
Es war ihnen nicht möglich gewesen, nach dem Vorfall in seine Nähe zu kommen, die Aufregung auf dem Platze war zu groß gewesen, aber man hatte seiner Frau einen Boten gesandt, durch den ihr mitgeteilt wurde, daß ihr Mann nur leicht verletzt sei und sich in ärztlicher Pflege befinde.
»Ein Katholik war es«, berichtete Oliver mit abgespannter Miene. »Er muß übrigens schon mit der Absicht gekommen sein, denn sein Revolver wurde noch geladen vorgefunden. Nun, diesmal hat sich wenigstens kein Priester hineinmischen können.« –
Mabel nickte zustimmend; sie hatte durch die Plakate das weitere Schicksal des Mannes erfahren.
»Er wurde getötet – in einem Augenblick war er niedergestampft und erwürgt«, sagte Oliver. »Ich tat, was ich konnte, ihr habt mich gesehen. Aber – nun, vielleicht war es so besser für ihn.«
»Aber hast du auch alles getan, was in deinen Kräften stand, mein Lieber?« fragte die Greisin mit Besorgnis aus ihrem Winkel her.
»Ich rief ihnen zu, Mutter, aber sie achteten nicht darauf.«
Mabel beugte sich vorwärts. –
»Oliver, ich weiß wohl, es klingt töricht, aber – aber lieber wäre es mir, sie hätten ihn am Leben gelassen.«
Oliver mußte lächeln. Diese zarte Gemütsstimmung war ihm bei ihr nicht unbekannt.
»Vollkommener wäre es sicher gewesen, wenn sie ihn nicht getötet hätten«, sagte sie. Dann brach sie ab und lehnte sich zurück.
»Warum hat er denn gerade in dem Augenblick gefeuert?« fragte sie.
Oliver sah einen Augenblick nach seiner Mutter hinüber, die aber in aller Ruhe mit ihrer Strickarbeit beschäftigt war.
Dann antwortete er mit eigener Bedachtsamkeit: »Ich sagte, daß Braithwaite mit einer einzigen Rede mehr für die Welt getan habe, als Christus mit allen seinen Heiligen zusammen.« – Er bemerkte, daß die Stricknadeln eine Sekunde ruhten; dann arbeiteten sie weiter, wie vorher.
»Aber jedenfalls hatte er die Absicht gehabt, die Tat auf alle Fälle zu vollbringen«, fuhr Oliver fort.
»Woher weiß man denn, daß er ein Katholik war?« fragte seine Frau darauf.
»Einen Rosenkranz fand man bei ihm vor; auch hatte er gerade noch soviel Zeit, um seinen Gott anzurufen.«
»Und weiter weiß man nichts?«
»Weiter nichts. Übrigens war er gut gekleidet.«
Oliver war ein wenig verstimmt, lehnte sich zurück und schloß die Augen. Sein Arm schmerzte noch in fast unerträglicher Weise. Aber im Grunde seines Herzens war er doch sehr glücklich. Allerdings war er von einem Fanatiker verwundet worden, doch bedauerte er keineswegs, für eine solche Sache leiden zu müssen, und es war außer Frage, daß die Sympathie ganz Englands sich ihm zuwandte.
Auch war er zufrieden, daß er alles getan hatte, den Mann zu retten. Sogar in jenem Augenblick des plötzlichen und heftigen Schmerzes hatte er um Gerechtigkeit gebeten, aber es war zu spät gewesen. Er hatte es mit angesehen; wie die angsterfüllten Augen aus dem dunkelroten Gesichte traten, das sich zu einem entsetzlichen Grinsen verzerrte, als die rächenden Hände an seinem Halse würgten und rissen. Dann war das Gesicht verschwunden, und man begann mit Fußtritten dort weiter zu arbeiten, wo man es zuletzt gesehen hatte. Ja, Leidenschaft und Treue waren eben doch noch in England zu finden!
Bald darauf erhob sich seine Mutter und verließ wortlos das Zimmer; Mabel setzte sich zu ihm herüber und legte ihre Hand auf seine Knie.
»Bist du zu müde zum Sprechen, mein Lieber?«
Er öffnete seine Augen.
»Gewiß nicht, Liebling. Was gibt es?«
»Was glaubst du, werden die Folgen sein?«
Er richtete sich ein wenig auf und blickte, wie er es gewohnt war, hinaus in die Dunkelheit, hin auf dieses staunenswerte Schauspiel. Allenthalben flammten Lichter, ein Meer von sanftleuchtenden Kugeln schwebte über den Häusern, und darüber wölbte sich das geheimnisvolle, schwere Blau eines Sommerabends.
»Die Folgen?« sagte er. »Sie können nur gut sein. Es war Zeit, daß einmal etwas geschah. Liebste, du weißt, ich fühlte mich manchmal sehr niedergedrückt. Nun, ich glaube, jetzt werde ich dieses Gefühl nicht mehr haben. Ich konnte mich manchmal der Furcht nicht erwehren, daß wir alle unseren Geist verlieren und daß die alten Tories teilweise recht hatten, wenn sie prophezeiten, was der Kommunismus zur Folge haben werde. Aber jetzt, nach diesem …«
»Nun?«
»Nun, wir haben gezeigt, daß wir sogar unser Blut zu vergießen imstande sind. Es kam auch alles wie gerufen, gerade in der Krisis. Ich will nicht übertreiben; es ist nur eine Schramme – aber es war so wohl erwogen und – so dramatisch. Der arme Teufel hätte keinen ungeschickteren Moment wählen können. Das Volk wird es nicht vergessen.«
Mabels Augen glänzten vor Vergnügen.
»Du Armer«, sagte sie, »hast du Schmerzen?«
»Nicht besonders. Übrigens macht mir das den wenigsten Kummer. Wenn nur diese elende Geschichte mit dem Osten erst vorüber wäre!«
Er fühlte, daß er fieberte und in gereizter Stimmung war, und bemühte sich, dies niederzuzwingen.
»O meine Liebe«, fuhr er fort, während ihm die Röte ins Gesicht stieg, »wenn sie nicht solch verbohrte Narren wären; sie begreifen nicht, verstehen nicht!«
»Was, Oliver?«
»Sie begreifen nicht, wie erhaben das alles ist: Humanität, Leben, endlich Wahrheit und Untergang der Torheit! Aber habe ich es ihnen nicht hundertmal gesagt?«
Sie blickte ihn mit freudestrahlenden Augen an. Wie gern sah sie ihn so, seine zuversichtlichen, geröteten Züge, die Begeisterung in den blauen Augen, und das Bewußtsein, daß er litt, entflammte ihr Gefühl zur Leidenschaft. Sie beugte sich schnell vorwärts und küßte ihn.
»Liebster, ich bin so stolz auf dich, Oliver.«
Er erwiderte kein Wort, aber sie konnte sehen, was sie so gerne sah, jene innere Übereinstimmung, und so saßen sie schweigend da, während die Nacht sich langsam herabsenkte, und nur das Klappern des Schreibers im Nebenzimmer erinnerte sie daran, daß die Welt noch bestand und sie ihr angehörten.
Plötzlich erwachte Oliver.
»Hast du eben etwas bemerkt, mein Liebling, als ich die Bemerkung über Jesus Christus machte?«
»Sie hielt einen Moment im Stricken inne.«
»Du sahst es also auch … Mabel, glaubst du, daß sie rückfällig wird?«
»O, sie wird alt«, warf diese leicht ein. »Natürlich blickt sie da ein wenig zurück.«
»Aber du meinst doch nicht etwa … Es wäre zu schrecklich.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, nein, mein Lieber; du bist erregt und müde. Es ist nur eine kleine Gemütsbewegung … Oliver, ich glaube, ich würde so etwas nicht vor ihr sagen.«
»Aber sie hört es doch jetzt überall.«
»Nein, sie hört es nicht. Bedenke nur, sie geht fast nie aus. Außerdem haßt sie es. Und dann muß man nicht vergessen, daß sie katholisch erzogen wurde.«
Oliver nickte und lehnte sich zurück, indem er träumerisch vor sich hinblickte.
»Ist es nicht erstaunlich, wie lange die Suggestion fortwirkt? Sie kann die Idee nicht los werden, selbst nach fünfzig Jahren noch nicht. Nun, habe ein Auge auf sie, ja? … Übrigens …«
»Ja?«
»Es sind ein paar weitere Nachrichten aus dem Osten eingelaufen. Man sagt, Felsenburgh habe jetzt die ganze Sache in der Hand. Überall ist er, und im Auftrage des Reiches in Tobolsk, Benares, Yakutsk – überall, auch in Australien war er.«
Mabel richtete sich rasch auf.
»Gibt uns das nicht gute Hoffnung?«
»Meiner Meinung nach, ja. Es ist kein Zweifel, daß die Sufis gewinnen, aber auf wie lange, ist eine andere Frage. Dazu kommt, daß die Truppen immer noch zusammengezogen sind.«
»Und Europa?«
»Europa rüstet sich in möglichster Eile. Wie ich höre, treten wir mit den übrigen Mächten nächste Woche in Paris zusammen. Ich muß auch gehen.«
»Aber dein Arm, Liebster?«
»Mein Arm muß eben gut werden. Auf alle Fälle wird er mit mir gehen müssen.«
»Erzähle mir noch etwas mehr!«
»Ich habe dir schon alles erzählt. Aber das ist ganz sicher, daß dies die Krisis ist. Wenn der Osten überredet werden kann, jetzt seine Hand zurückzuhalten, wird er sie wohl nie mehr erheben. Das würde dann für die ganze Welt freien Handel und dergleichen mehr bedeuten, so vermute ich. Wenn jedoch –«
»Nun?«
»Wenn nicht, dann gibt es eine Katastrophe, wie sie keine Phantasie bisher zu malen imstande war. Die ganze menschliche Rasse wird unter Waffen stehen, und entweder der Osten oder der Westen wird weggefegt werden. Die neuen Benninscheinschen Explosivstoffe garantieren einen solchen Ausgang.«
»Aber ist es denn absolut sicher, daß der Osten sie besitzt?«
»Absolut! Benninschein verkaufte sie gleichzeitig an den Osten und an den Westen. Dann starb er, und das war sein Glück.«
Mabel hatte früher davon sprechen gehört, aber sie hatte sich immer gesträubt, daran zu glauben. Ein Zweikampf zwischen Ost und West war unter den jetzigen Umständen etwas ganz Undenkbares. Seit einem Menschenalter hatte Europa keinen Krieg mehr gesehen, und die Kriege des Ostens im vergangenen Jahrhundert waren noch mit den alten Kampfmitteln ausgefochten worden. Nunmehr aber wäre, wenn das, was man sich erzählte, der Wahrheit entsprach, ein einziges Geschoß hinreichend, um eine ganze Stadt zu vernichten. Was ein Krieg unter den jetzigen Umständen wäre, dazu reichte keine Einbildungskraft hin. Was militärische Sachverständige voraussagten, war überschwenglich und schon in den Hauptpunkten voll von Widerspruch; die ganze Kriegführung war nur mehr Theorie; es gab keine praktische Erfahrung, die als Grundlage hätte dienen können. Es war, als ob Bogenschützen sich über die Wirkung von Kordit stritten. Eines aber war gewiß – daß nämlich der Osten sich im Besitz aller modernen, technischen Errungenschaften befand, und, was männliche Bevölkerung betraf, fast doppelt soviel aufzuweisen hatte, als die ganze übrige Welt zusammengenommen; die sich daraus ergebende Schlußfolgerung war also keineswegs beruhigend für England.
Mabel, eingedenk des Rates ihres Gemahls, auf die Mutter zu achten, tat einige Tage ihr Bestes. Sie fand jedoch nichts, was sie hätte beunruhigen können. Die alte Dame war wohl etwas einsilbig, ging aber ihren kleinen Beschäftigungen nach wie sonst. Manchmal bat sie ihre Schwiegertochter, ihr etwas vorzulesen, und hörte verständnisvoll auf alles, was ihr geboten wurde; täglich widmete sie sich der Küche, sorgte für Abwechslung in den Speisen und zeigte Interesse für alles, was ihren Sohn betraf. Sie packte selbst dessen Reisetasche, legte die Pelzsachen zurecht für den kurzen Flug nach Paris und winkte ihm vom Fenster aus nach, als er den Weg zur nächsten Haltestelle hinabschritt. Drei Tage würde er ausbleiben, hatte er versprochen.
Es war am Abend des zweiten Tages, als sie erkrankte. Mabel, erschrocken über die Mitteilung des Dienstmädchens, eilte die Treppe hinauf und fand die Mutter ziemlich erhitzt und aufgeregt in ihrem Stuhle sitzen.
»Es ist weiter nichts«, sagte die Greisin und sprach über einige Symptome.
Mabel brachte sie zu Bett, schickte nach dem Arzt und ließ sich wartend neben ihr nieder.
Sie war der alten Frau aufrichtig zugetan und hatte deren Anwesenheit im Hause immer als die eines Ruhe und Behaglichkeit verbreitenden Elements empfunden. Die Wirkung auf ihr Gemüt glich etwa der eines behaglichen Lehnstuhles auf den Körper. Die alte Dame war so ruhig und einfach menschlich, so vertieft in ihre kleinen häuslichen Sorgen, dann und wann ganz in der Erinnerung an die Jugendtage lebend und absolut unzugänglich für Launen und Empfindlichkeit.
»Es ist Altersschwäche«, erklärte der Arzt, als er aus dem Krankenzimmer trat. »Sie kann jeden Augenblick sterben, sie kann aber auch noch zehn Jahre leben.«
»Es ist also nicht nötig, an Mr. Brand zu telegraphieren?«
Er machte eine geringschätzende Bewegung mit der Hand.
»Also ist es nicht gewiß, daß sie stirbt – wenigstens für den Augenblick nicht?« fragte sie.
»Nein, nein, sie kann noch an die zehn Jahre leben, wie ich sagte.«
Er fügte noch ein paar Worte bezüglich des Gebrauches des Oxygen-Injektors bei und ging dann weg.
Die alte Dame lag ruhig auf ihrem Bett, als Mabel hinaufkam, und streckte ihr die runzelige Hand entgegen.
»Nun, liebes Kind?« fragte sie.
»Es ist nur ein wenig Schwäche, Mutter. Du mußt ruhig liegenbleiben und nichts tun. Soll ich dir etwas vorlesen?«
»Nein, meine Liebe, ich will mich ein wenig meinen Gedanken hingeben.«
Mabel fühlte keinerlei Verpflichtung, ihr zu sagen, daß sie sich in Gefahr befinde, denn nach ihr gab es nichts Vergangenes zu ordnen, keinem Richter gegenüberzutreten. Der Tod war ein Enden, nicht ein Beginnen. Es war ein Evangelium des Friedens; wenigstens wurde es ein solches, sobald als das Ende eingetreten war.
Und so ging sie wieder hinab, das Herz, das sich nicht beruhigen wollte, ein wenig schwer.
Mr. Phillips erschien am nächsten Morgen wie gewöhnlich, gerade als Mabel das Gemach ihrer Schwiegermutter verlassen hatte, und erkundigte sich nach deren Befinden.
»Ich glaube, es geht ihr etwas besser«, sagte Mabel. »Sie wird den ganzen Tag der größten Ruhe bedürfen.«
Der Sekretär verbeugte sich und wandte sich nach Olivers Zimmer, wo er zahlreiche Briefe vorfand, die der Beantwortung warteten.
Als nach Verlauf von einigen Stunden Mabel nochmals hinaufging, begegnete sie Mr. Phillips, der soeben herabkam. Ein leichtes Erröten machte sich in seinem sonst so fahlen Gesicht bemerkbar.
»Mrs. Brand hat mich rufen lassen«, sagte er. »Sie wollte wissen, ob Mr. Oliver noch heut Abend zurückkehrt.«
»Er hatte die Absicht, nicht wahr? Haben Sie es nicht gehört?«
»Mr. Brand sagte, er würde, wenn auch spät, so doch zum Diner hier sein. Um neunzehn Uhr muß er in London ankommen.«
»Sonst gibt es nichts Neues?«
Er preßte seine Lippen zusammen.
»Man hört verschiedene Gerüchte«, sagte er. »Mr. Brand telegraphierte mir vor einer Stunde.«
Er schien etwas erregt zu sein, und Mabel sah ihn erstaunt an.
»Es sind doch nicht Nachrichten aus dem Osten?«
Seine Stirn verdüsterte sich ein wenig.
»Verzeihen Sie, Mrs. Brand, aber ich kann und darf nicht darüber reden.«
Sie fühlte sich nicht beleidigt, denn das Vertrauen, welches sie in ihren Gatten setzte, war unbegrenzt; aber mit klopfendem Herzen schritt sie dem Krankenzimmer zu.
Auch die Greisin schien aufgeregt. Mit geröteten Wangen lag sie dort in ihrem Bett und lächelte kaum, als Mabel sie begrüßte.
»Also, du hast mit Mr. Phillips gesprochen?« sagte Mabel.
Die alte Mrs. Brand warf ihr einen scharfen Blick zu, ohne jedoch ein Wort zu sagen.
»Rege dich nicht auf, Mutter. Oliver kommt sicher heute Abend zurück.«
Die Greisin atmete tief auf.
»Ängstige dich meinetwegen nicht, liebes Kind. Es wird mir jetzt schon wieder besser gehen. Zum Diner wird er zurücksein, nicht wahr?«
»Wenn das Flugschiff nicht Verspätung hat. Nun, Mutter, wünschest du jetzt dein Frühstück einzunehmen?«
Den ganzen Nachmittag verbrachte Mabel in ziemlich unruhiger Stimmung. Etwas mußte vorgefallen sein, das war sicher.
Als Mabel nachher hinaufging, schien die alte Dame eingeschlafen zu sein, und so zog es Mabel vor, sie nicht zu stören. Auch hatte sie nicht Lust auszugehen, und so streifte sie denn allein durch den Garten, allein mit all ihrem Denken, Hoffen und Fürchten, bis die Abendschatten den Pfad bedeckten und der graugrüne, nächtliche Schleier von Westen her über das Dächermeer zu ziehen begann.
Nachdem sie ins Haus zurückgekehrt war, nahm sie das Abendblatt zur Hand, aber es enthielt keine weiteren Neuigkeiten, als nur die Mitteilung, daß der Schluß des Kongresses für diesen Nachmittag erwartet werde.
Die Uhr zeigte bereits die zwanzigste Stunde, doch Oliver war noch nicht zurückgekehrt. Schon vor einer Stunde hätte das Pariser Flugschiff eintreffen sollen, doch umsonst spähte Mabel hinaus in die immer mehr sich herabsenkende Nacht und nach dem klaren Sternenhimmel. Kein geflügelter Fisch zog durch die Luft. Möglicherweise konnte sie das Flugschiff verfehlt haben, die genaue Richtung ließ sich ja nicht immer einhalten; aber sie hatte es doch wohl schon hundertmal vorher verfolgt und konnte nicht begreifen, weshalb es ihr gerade diesmal entgangen sein sollte. Warum kam doch Oliver nicht, warum hatte er ihr nicht wenigstens den Grund seiner Verspätung mitgeteilt?
Noch einmal ging sie hinauf, um trotz ihrer eigenen Unruhe die Mutter zu trösten, und fand sie wiederum sehr matt.
»Er ist noch nicht gekommen«, sagte sie. »Jedenfalls hält ihn etwas in Paris zurück.«
Nur ein Kopfnicken und einige unverständliche Worte kamen von dem Krankenlager her, und Mabel ging wieder hinab. Das Diner war nun schon eine Stunde verspätet.
Endlich ging sie, hoffnungslos, zum Telephon und besah es. Da hing es, mit dem stummen, runden Mund und der kleinen Reihe von Drückern, von denen jeder seinen Namen hatte. Sie war nahe daran, einen nach dem andern zu benützen und anzufragen, ob man etwas über ihren Gemahl erfahren hatte; sie hätte Verbindung haben können mit seinem Klub, seinem Bureau in Whitehall, Mr. Phillips' Privatwohnung, dem Parlament und anderen mehr. Doch sie zögerte noch und mahnte sich selbst zur Geduld. Oliver liebte es auch nicht, daß man sich in seine Angelegenheiten mischte, und gewiß würde er selbst daran denken, sie zu beruhigen.
Dann, gerade als sie sich wegwandte, begann die Glocke heftig anzuschlagen, und ein weißer Druckknopf sprang hervor: Whitehall. Sie drückte auf die entsprechende Taste und horchte auf. Ihre Hand zitterte so heftig, daß sie kaum das Hörrohr zu halten vermochte.
»Wer dort?«
Ihr Herz klopfte vor Freude, als sie die Stimme ihres Gatten erkannte, die infolge dieser meilenweiten Entfernung nur ganz leise und schwach tönte.
»Ich – Mabel«, sagte sie. »Bin allein hier.«
»Oh, Mabel, also gut. Ich bin zurückgekommen; alles ist in Ordnung. Höre! Verstehst du mich?«
»Ja, ja!«
»Etwas Besseres hätte nicht geschehen können. Im Osten ist alles beendet. Felsenburgh hat es zustande gebracht. Nun höre! Heute Abend kann ich nicht nach Hause kommen. In zwei Stunden wird alles in Pauls House verkündet werden. Wir berichten soeben an die Presse. Komme sofort zu mir hierher. Du mußt dabei sein … Kannst du mich verstehen?«
»Oh, gewiß!«
»Also komme sofort. Es wird die historisch denkwürdigste Begebenheit sein. Sprich zu niemanden darüber. Komme, noch ehe das Gedränge beginnt. In einer halben Stunde werden die Straßen gesperrt.«
»Oliver!«
»Ja, schnell!«
»Mutter ist krank. Soll ich sie verlassen?«
»Oh, für den Augenblick ist keine Gefahr vorhanden. Der Arzt war bei ihr.«
Ein Augenblick des Schweigens.
»Ja, komme also. Wir werden in jedem Falle noch heut Abend zurückkehren. Sag' es ihr, daß wir spät eintreffen werden.«
»Gut!«
»Ja, du mußt kommen. Felsenburgh wird anwesend sein.«