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Am Abende des folgenden Tages saß Oliver Brand an seinem Schreibtisch und las den Leitartikel im Abendblatte des »New People«.
»Wir haben Zeit gehabt«, so las er, »uns von dem Rausche des gestrigen Abends ein wenig zu erholen. Ehe wir uns aber dem Prophezeien hingeben, wird es gut sein, uns die Tatsachen ins Gedächtnis zurückzurufen. Bis gestern abend waren wir in fortgesetzter Besorgnis bezüglich der Krisis im Osten; und als es 21 Uhr schlug, gab es nicht mehr als vierzig Personen in London – nämlich die englischen Delegierten – die absolut sicher wußten, daß die Gefahr vorüber war. Im Verlaufe der nächsten Stunde traf die Regierung einige Vorsichtsmaßregeln, eine Anzahl auserwählter Persönlichkeiten wurde informiert, die Polizei nebst sechs Regimentern aufgeboten, um die Ordnung aufrechtzuerhalten; Pauls House wurde geräumt, die Bahngesellschaften gewarnt, und gerade als von den Türmen die halbe Stunde ertönte, wurde die Neuigkeit vermittelst der elektrischen Plakate sowohl in ganz London als auch in allen größeren Provinzstädten verkündet.
»Zur 22. Stunde war Pauls House bis in die äußersten Winkel gefüllt, der alte Chor war für Parlamentsmitglieder und die Obrigkeit reserviert, auf den Galerien hatten die Damen Platz gefunden, und der ganze übrige Raum war dem Publikum freigegeben. Durch die Luftschifferabteilung der Polizei erfahren wir soeben, daß innerhalb einer Meile nach allen Richtungen von diesem Zentrum aus sämtliche Straßen mit Fußgängern vollgepfropft waren, und daß, wie allgemein bekannt ist, nach Verlauf von zwei Stunden sozusagen alle Hauptstraßen Londons das gleiche Bild darboten.
»Man hatte mit Mr. Oliver Brand als erstem Redner eine ausgezeichnete Wahl getroffen. Sein Arm war noch verbunden, und der Eindruck seiner Persönlichkeit wie auch seine begeisterten Worte gaben dem Abend sofort ein bestimmtes Gepräge. Abwechselnd sprachen dann der Ministerpräsident, Mr. Snowford, der erste Minister der Admiralität, der Sekretär für Östliche Angelegenheiten und Lord Pemberton, indem sie alle die außerordentliche Neuigkeit bestätigten. Um ein Viertel vor 23 Uhr verkündete von draußen her anhaltender Applaus die Ankunft der amerikanischen Delegierten aus Paris, die, einer nach dem andern, durch das Südportal des alten Chores zur Tribüne emporstiegen. Ein jeder hielt eine kurze Ansprache. Bis dahin war Mr. Felsenburgh noch nicht eingetroffen; aber als Antwort auf die stürmischen Anfragen verkündete Mr. Markham, daß derselbe in wenigen Minuten in ihrer Mitte sein würde. Hierauf beschrieb er uns, soweit es ihm in einigen Sätzen möglich war, die Mittel, mit denen Mr. Felsenburgh das erreicht hatte, was aller Wahrscheinlichkeit nach die staunenswerteste Leistung ist, welche die Geschichte kennt. Wie man aus seinen Worten entnehmen konnte, scheint Mr. Felsenburgh vielleicht der größte Redner zu sein, den je die Welt gekannt hat – wir sagen das mit voller Überlegung. Alle Sprachen scheinen ihm gleich geläufig zu sein; während der acht Monate, die die Verhandlungen mit dem Osten dauerten, hielt er Reden in nicht weniger als fünfzehn Sprachen. Er bewies auch, wie Mr. Markham uns mitteilte, eine ganz erstaunliche Kenntnis, nicht allein der menschlichen Natur, sondern auch jedes Zuges, durch welchen dieses göttliche Ding sich kundgibt. Er schien vertraut mit der Geschichte, den Vorurteilen, dem Fürchten, Hoffen und Erwarten all der zahllosen Sekten und Kasten des Ostens, mit denen er zu verhandeln hatte. An nicht weniger als neun verschiedenen Orten – darunter Damaskus, Irkutsk, Konstantinopel, Kalkutta, Benares, Nanking – wurde er von der mohammedanischen Volksmasse als Messias begrüßt. In Amerika endlich, wo dieses außergewöhnliche Wesen zuerst aufgetreten, hört man nichts als Gutes über ihn. Diejenigen, welche bei dieser Gelegenheit in Pauls House gegenwärtig waren, werden es verstehen, wenn wir behaupten, daß der Effekt, den diese Worte hervorriefen, nicht geschildert werden kann.
»Als Mr. Markham nach Schluß seiner Rede sich wieder gesetzt hatte, herrschte tiefes Schweigen; dann präludierte der Organist, um die sich erhebende Erregung zu dämpfen, die ersten Akkorde der Freimaurerhymne; alles stimmte ein, und in wenigen Augenblicken tönte sie nicht nur durch das ganze Innere des Baues, sondern auch das Volk außerhalb fiel mit ein, so daß die City von London auf einige Momente wirklich zu einem Tempel des Herrn geworden war.
»Gegen Ende der vierten Strophe sah man eine einfache und dunkel gekleidete Gestalt die Stufen der Plattform emporsteigen. Anfangs erregte dies keine Aufmerksamkeit, als aber unter den Delegierten plötzlich eine Bewegung entstand, wurde das Singen schwächer, und es verstummte vollständig, als die Gestalt, nach einer leichten Verbeugung nach rechts und links, auch noch die Stufen, die zur Rednerbühne hinaufführten, emporstieg. Dann ereignete sich ein merkwürdiger Zwischenfall. Der Organist hoch oben schien zuerst nichts zu bemerken und setzte sein Spiel fort; bald aber brach aus der Volksmenge ein Geräusch wie Zischen, und sofort hielt er inne. Doch kein Beifall erfolgte. Dagegen herrschte tiefes Schweigen in der mächtigen Masse, und wie durch magnetische Kraft teilte es sich auch jenen außerhalb des Gebäudes mit, so daß Mr. Felsenburghs erste Worte von einer durch nichts unterbrochenen Stille ausgenommen wurden.
»Über seine Rede selbst haben wir nichts zu berichten. Soweit uns bekannt ist, war in diesem Augenblick kein Berichterstatter tätig; doch war die in Esperanto gehaltene Rede höchst einfach und kurz. Sie bestand aus einer kurzen Erwähnung des großen Ereignisses einer nun die ganze Welt umspannenden Brüderlichkeit, einer Beglückwünschung aller derer, denen es noch vergönnt war, diese Vollendung der Geschichte zu erleben, und zum Schluß aus einer Lobpreisung jenes großen Geistes, dessen Menschwerdung nun vollendet sei. Dem Äußeren nach zu urteilen, schien der Mann ungefähr dreiunddreißig Jahre alt zu sein; glatt rasiert, in aufrechter Haltung, mit weißem Haar und dunklen Augen und Brauen, stand er regungslos da, die Hände auf das Geländer gestützt; nur eine Bewegung machte er, und diese rief Schluchzen unter der Menge hervor, und die Worte, die sie begleiteten, sprach er langsam, deutlich und mit klarer Stimme; dann blieb er ruhig wartend stehen.
»Keine Erwiderung kam, nur ein Seufzen, das auch dem Geringsten derer, die es vernahmen, so klang, als ob die ganze Welt zum ersten Male aufatmete; dann herrschte wieder das wunderbare, herzerschütternde Schweigen. Viele weinten im Stillen, Tausende bewegten lautlos ihre Lippen, und aller Augen waren auf jene einfache Gestalt gerichtet, als ob eine jede Seele all ihr Hoffen auf sie gesetzt habe. In dieser Weise waren, wenn wir es glauben dürfen, vor Jahrhunderten die Augen vieler auf ihn gerichtet, den die Geschichte jetzt als Jesus von Nazareth kennt.
»Noch einen Augenblick verharrte Mr. Felsenburgh in dieser Stellung, dann stieg er die Treppe hinab, durchschritt die Tribüne und verschwand.
»Was sollen wir noch hinzufügen?
»Jeder weitere Kommentar ist überflüssig. Es genügt, wenn wir in kurzen Worten sagen, daß jene neue Ära begonnen hat, nach welcher Propheten und Könige, die Leidenden und die Sterbenden, und die, die mühselig und beladen sind, vergebens sich gesehnt haben. Nicht allein hat der Wettbewerb der Kontinente untereinander aufgehört, sondern auch alle inneren Streitigkeiten sind beendet. Über ihn, der der Herold ihres Anbruches gewesen ist, haben wir nichts weiter zu sagen. Die Zeit allein wird lehren, welche Aufgaben er noch zu erfüllen haben wird.
»Was aber bereits geschehen ist, ist folgendes: Die Gefahr im Osten ist auf immer beseitigt. Die fanatischen Barbaren sowohl, wie die zivilisierten Völker haben nun begriffen, daß das Zeitalter des Krieges vorüber ist. ›Nicht den Frieden, sondern das Schwert‹, sagte Christus, und die bittere Wahrheit dieser Worte haben wir nur zu sehr empfunden. ›Nicht das Schwert, sondern Frieden‹ hallt es uns endlich klar von jenen zurück, die das Joch Christi abgeschüttelt oder es nie getragen haben. Die Grundsätze der Liebe und Einigkeit, die der Westen im letzten Jahrhundert, wenngleich in nur sehr schwachem Maße, vertreten hatte, hat sich nun auch der Osten zu eigen gemacht. Nie wieder sollen Waffen entscheiden, sondern Gerechtigkeit allein; nicht länger wird man einen verborgenen Gott anrufen, sondern den Menschen, der seine eigene Göttlichkeit erkannt hat. Das Übernatürliche ist tot, oder vielmehr, wir wissen jetzt, daß es noch nie bestanden hat. Eines noch bleibt uns zu tun übrig, nämlich, nach dieser neuen Lehre zu handeln, und all unser Denken, unsere Worte und Werke nach den Gesetzen der Liebe und Gerechtigkeit einzurichten, was ohne Zweifel das Werk von Jahren sein wird. Lange genug hat der Mensch gestöhnt in Geburtswehen; durch seine eigene Torheit floß sein Blut in Strömen wie Wasser, aber endlich hat er sich selbst erkannt, und nun ist Friede.
»Möge die Welt es wenigstens sehen, daß England in diesem Werke der Reformation nicht hintenan steht; möge keine nationale Isolierung, kein Rassenstolz oder das berauschende Bewußtsein des Überflusses unsere Hände hindern, dies große Werk zu vollenden. Unberechenbar ist die Verantwortung, aber der Sieg ist sicher. Langsam wollen wir vorausschreiten, demütig unserer einstigen Vergehen gedenken, und mit Vertrauen und Hoffnung auf das Gelingen in die Zukunft blicken, dem Lohne entgegen, der endlich in Sicht ist, – dem Lohne, der uns so lange vorenthalten war durch die Selbstsucht der Menschen, durch religiöse Verblendung und kleinlichen Streit um Worte, – dem Lohne, der von einem verheißen ward, der nicht wußte, was er sagte, und verleugnete, was er lehrte. – Selig sind die Sanftmütigen, die Friedfertigen, die Barmherzigen, denn sie werden das Erdreich besitzen, Kinder Gottes genannt werden und Barmherzigkeit erlangen.«
Totenblässe bedeckte Olivers Antlitz; seine Gattin kniete neben ihm. Er wandte das Blatt um und las noch einen kurzen Artikel, der anscheinend die letzten Nachrichten enthielt.
»Wie uns berichtet wird, steht die Regierung in Verbindung mit Mr. Felsenburgh.«
»Ach! es ist zwar Zeitungsstil«, bemerkte Oliver endlich, indem er sich zurücklehnte. »Albernes Geschwätz! Aber – aber, die Sache selbst!«
Mabel erhob sich, schritt zum Fenster hinüber und nahm dort Platz. Ein- oder zweimal versuchte sie zu sprechen, brachte aber kein Wort hervor.
»Mein Liebling«, rief der Mann, »hast du nichts darauf zu sagen?«
Einen Augenblick sah sie ihn mit einem Ausdrucke der Unentschlossenheit an.
»Zu sagen?« erwiderte sie. »Du sagtest ja selbst, was nützt es, Worte zu machen?«
»Sage mir noch einmal, wie soll ich erkennen, daß es kein Traum war?«
»Ein Traum«, sagte sie. »Hat man je von einem solchen Traum gehört?«
Ruhelos stand sie wieder auf, durchschritt das Gemach, kniete an der Seite ihres Mannes nieder und nahm seine Hände in die ihrigen.
»Liebster«, sagte sie, »ich sage dir, es ist kein Traum. Es ist endlich Wirklichkeit. Auch ich war dabei – erinnerst du dich nicht? Du wartetest auf mich, als alles vorüber war – als er verschwunden war – wir beide sahen ihn, du und ich. Wir lauschten ihm – du auf der Tribüne und ich in der Galerie. Wieder sahen wir ihn, als wir unter der Menge standen und er am Kai entlang zog. Dann kamen wir nach Hause – und fanden den Priester.«
Mit verklärten Zügen hatte sie diese Worte gesprochen. Sie sah aus, als schaue sie eine Vision. Sie sprach sehr ruhig, ohne jede Erregung und Leidenschaft. Einen Augenblick starrte sie Oliver an, dann beugte er sich zu ihr nieder und küßte sie sanft.
»Ja, mein Liebling, es ist wahr, doch möchte ich es immer und immer wieder hören. Sage mir noch einmal, was du sahest.«
»Ich sah den Menschensohn«, antwortete sie. »Oh, es gibt kein anderes Wort dafür. Den Erlöser der Welt, wie das Blatt ihn nennt. Ich erkannte ihn in meinem Herzen – und allen ging es so – sobald ich ihn erblickte, als er dort am Geländer stand. Es war wie ein Glorienschein, der sein Haupt umgab. Jetzt ist mir alles klar. Er war es, auf den wir so lange gewartet, und er ist gekommen, Frieden und guten Willen verbreitend. Als er sprach, verstand ich es von neuem. Seine Stimme klang wie – wie das Rauschen des Meeres – so einfach – so klagend – und ebenso mächtig. Hörtest du es nicht?«
Oliver nickte.
»Ich setze mein ganzes Vertrauen auf ihn«, fuhr die junge Frau leise fort. »Ich weiß nicht, wo er ist, noch wann er zurückkehrt, noch was er tun wird. Ich vermute, daß ihm noch sehr viel zu tun übrig ist, ehe er von allen erkannt ist – Gesetze, Verbesserungen – das wird deine Aufgabe sein, mein Lieber. Und wir anderen, wir müssen uns in geduldigem Warten und in Liebe und Zufriedenheit üben.«
Wieder erhob Oliver sein Haupt und blickte sie an.
»Mabel, meine Liebe –«
»Oh, ich hatte es schon gestern nachts verstanden«, sagte sie, »aber ich war mir dessen nicht eher bewußt, als bis ich heute früh erwachte und mich besann. Ich habe die ganze Nacht von ihm geträumt. Oliver, wo ist er?«
Er schüttelte den Kopf.
»Ja, ich weiß, wo er ist; aber ich habe geschworen –«
Sie nickte rasch und stand auf.
»Ja, ich hätte diese Frage nicht stellen sollen. Nun, wir warten gern.«
Ein paar Augenblicke herrschte Schweigen, bis Oliver das Wort ergriff.
»Liebste, was willst du damit sagen, daß er noch nicht erkannt ist?«
»Nur dies meine ich«, sagte sie. »Die Mehrzahl weiß nur, was er getan hat – nicht aber, was er ist; doch auch dies wird mit der Zeit kommen.«
»Und inzwischen –«
»Inzwischen mußt du arbeiten; alles übrige kommt nach und nach. Oh, Oliver, sei stark und treu!«
Sie küßte ihn hastig und verließ das Gemach.
Oliver saß bewegungslos und starrte, wie es seine Gewohnheit, in die sich unterhalb des Fensters ausbreitende Ferne. Gestern um diese Zeit war er im Begriffe gewesen, von Paris abzureisen und bereits von den Tatsachen unterrichtet – die Delegierten waren eine Stunde vorher angekommen – jedoch ohne den Mann zu kennen. Nun war ihm auch dieser wohlbekannt – wenigstens hatte er ihn gesehen, ihn gehört, und war wie bezaubert von dem mächtigen Eindruck seiner Persönlichkeit. So wenig wie jemand anderer konnte er sich dies erklären – ausgenommen vielleicht Mabel. Den anderen war es so ergangen wie ihm selbst; sie fühlten sich eingeschüchtert, überwältigt und dabei doch ergriffen bis in die tiefste Tiefe ihrer Seele.
Noch einmal hatte er ihn gesehen, als er mit Mabel auf dem Deck des elektrischen Bootes stand, das sie in südlicher Richtung entführte. Das weiße Schiff war über ihnen hinweggeglitten, so ruhig und sicher, hin über die unermeßliche Menge, den tragend, dem mit mehr Recht als irgend einem anderen der Titel gebührte: Erlöser der Welt. Dann waren sie nach Hause gekommen und hatten den Priester vorgefunden.
Auch dies war eine Überraschung für Oliver gewesen, denn auf den ersten Blick schien es, daß dieser Priester genau derselbe Mann sei, den er vor zwei Stunden die Rednerbühne hatte hinaufsteigen sehen. Es war eine geradezu auffallende Ähnlichkeit – dieselben jugendlichen Züge und das weiße Haar. Mabel hatte dies allerdings nicht bemerkt, denn sie hatte ja Felsenburgh nur in großer Entfernung gesehen, und so hatte er sich bald wieder beruhigt. Und was seine Mutter betraf, – es war schrecklich genug; wäre es nicht Mabels wegen gewesen, in jener Nacht wäre es sicher zu einem Gewaltakte gekommen. Wie besonnen und vernünftig sie sich doch gezeigt hatte! Und seine Mutter selbst – nun, sie mußte für den Augenblick sich selbst überlassen bleiben. Er war zu einer Plenarsitzung nach Westminster gerufen worden; die Felsenburgh zu unterbreitenden Vorschläge sollten formuliert werden und man beabsichtigte, ihm eine hohe Stellung anzubieten.
Ja, wie Mabel gesagt hatte, das war jetzt seine und der anderen Aufgabe, das neue Prinzip, dessen Verkörperung so plötzlich in diesem grauhaarigen, jungen Amerikaner erfolgt war, in die Tat umzumünzen – das Prinzip universeller Brüderlichkeit. Es würde ein gewaltiges Stück Arbeit sein; alle auswärtigen Beziehungen würden in eine neue Ordnung zu bringen sein – Handel, Politik, Regierungsmethoden –, alles bedurfte der Umformung. Auch die innere Politik bedurfte der Neugestaltung. Die uralten Gegensätze und die Reibungen zwischen den Parteien der Rechten und der Linken mußten nun in Zukunft wegfallen – nur eine einzige Partei konnte es fernerhin noch geben, und diese mußte zur Verfügung des Propheten stehen …
Er atmete tief auf und hing weiter seinen Gedanken nach.
Eine halbe Stunde später kam Mabel wieder zu ihm herab, da er früher speiste, um dann nach Whitehall aufzubrechen.
»Mutter ist ruhiger«, sagte sie. »Wir müssen sehr viel Geduld haben, Oliver. Hast du schon beschlossen, ob der Priester wiederkommen soll oder nicht?«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich bin nicht imstande, an etwas anderes zu denken, als an die Aufgaben, die mir bevorstehen. Entscheide du, meine Liebe, ich lege alles in deine Hände.«
Sie nickte.
»Nachher werde ich wieder mit ihr reden. Momentan erfaßt sie nur sehr wenig von dem, was vorgefallen ist … Um wieviel Uhr wirst du wieder daheim sein?«
»Heute abends wahrscheinlich nicht mehr. Die Sitzung wird die ganze Nacht in Anspruch nehmen.«
»Gut, Liebster. Und was soll ich Mr. Phillips sagen?«
»Morgen früh werde ich telephonieren … Mabel, erinnerst du dich an das, was ich dir bezüglich des Priesters sagte?«
»Seine Ähnlichkeit mit dem anderen?«
»Ja, wie denkst du darüber?«
»Ich denke gar nichts darüber. Weshalb sollten sie nicht einander ähneln?«
Er nahm eine Feige vom Obstteller, aß sie und erhob sich.
»Es ist nur sehr sonderbar«, meinte sie.
»Nun gute Nacht, meine Liebe.«
»O Mutter«, sagte Mabel, als sie am Bett der Kranken kniete, »kannst du denn nicht verstehen, was geschehen ist.«
Sie hatte ihr möglichstes getan, der alten Frau die außerordentliche Veränderung zu erklären, die sich in der Welt vollzogen hatte – doch waren ihre Bemühungen erfolglos geblieben. Es schien ihr, als ob Großes davon abhänge, und daß es zu bedauerlich wäre, wenn die Mutter in die Finsternis hinüberginge, ohne zu wissen, was geschehen war. Es war, als ob ein Christ am ersten Ostermontag an dem Sterbebette eines Juden kniete. Doch die Greisin in ihrem Bette war wohl erschrocken, aber unbeugsam.
»Mutter«, sagte Mabel, »laß mich es dir noch einmal sagen. Verstehst du denn nicht, daß alles, was Jesus Christus versprochen, sich erfüllt hat, wenngleich auf eine andere Art? Das Reich Gottes hat wirklich begonnen, nur wissen wir jetzt, wer Gott ist.«
Sie hielt einen Augenblick inne und zwang sich, dies jammervolle, alte Gesicht zu betrachten, diese geröteten, welken Wangen, die dürren, verkrümmten Hände auf der Bettdecke.
»Sieh, welchen Mißerfolg das Christentum gehabt hat – wie es die Völker entzweit hat; denke an all jene Grausamkeiten – Inquisition, Religionskriege; den Zwiespalt selbst zwischen Mann und Weib, Eltern und Kindern, die Auflehnung gegen den Staat, Verrat. Oh! du kannst unmöglich glauben, daß dies recht war. Was für ein Gott mußte das sein! Und dann die Hölle; wie konntest du nur je daran glauben? Mutter, glaube nicht an dergleichen Schrecknisse … Verstehst du denn nicht, daß dieser Gott nicht mehr ist, daß er überhaupt nie existiert hat – daß alles nur ein gräßlicher Traum war, und daß wir alle nun endlich die Wahrheit erkannt haben? …
»Den Priester, den Priester!« stöhnte die Greisin endlich.
»O nein, nein, nein – nicht den Priester; er kann nichts tun. Er weiß auch, daß es nur Lügen sind.«
»Den Priester, den Priester!« stöhnte sie wieder. »Er kann es dir sagen, er weiß die Antwort.«
Ihr Gesicht war vom Krampfe verzerrt, und ihre alten Hände wühlten zitternd in den Perlen des Rosenkranzes. Mabel überkam plötzlich ein Gefühl des Schreckens, und sie stand auf.
»O Mutter!« Sie beugte sich nieder und küßte sie. »Nun, ich will jetzt nichts weiter sagen, aber denke nur ruhig darüber nach. Fürchte nicht das mindeste, es ist ja alles gut.«
Mitleidig auf sie herabblickend, blieb sie noch einen Moment stehen, schwankend zwischen Zuneigung und Eifer. Nein, es hatte jetzt keinen Zweck; sie mußte bis zum nächsten Tag warten.
»Ich werde wieder nach dir sehen, sobald du gespeist hast. Mutter, sieh nicht so traurig aus! Gib mir einen Kuß!« – –
Es war wirklich zum Staunen, sagte sie abends zu sich selbst, wie jemand so blind sein konnte. Und dazu noch dieses Eingeständnis der Schwäche, immer nur nach dem Priester zu rufen. Es war lächerlich, absurd!
Mabel selbst war von einem außerordentlichen Frieden erfüllt. Sogar der Tod schien ihr jetzt nicht mehr schrecklich, denn war der Tod nicht in Sieg verwandelt? Sie gedachte mitleidig der alten Frau oben, – denn war es nicht bemitleidenswert, daß sie nicht einmal durch den Tod zu sich selbst und zur Erkenntnis der Wirklichkeit kommen sollte?
Mabel befand sich in einem sanften Wirbel von Berauschtheit; es war ihr, als sei der schwere Vorhang der Sinne endlich aufgerollt worden, um eine dahinter liegende liebliche, ewige Landschaft zu zeigen, ein Land ohne Schatten, ein Land des Friedens, wo der Löwe neben dem Lamm, der Leopard neben dem Zicklein schlummerten. Krieg sollte nun für immer abgetan sein, dieses blutige Ungeheuer war tot, und mit ihm die ganze Brut des Elendes, die in seinem Schatten wuchs, – Aberglaube, Streit, Schrecken und die Herrschaft des Scheines.
Sie enthielt sich heute Abend weiteren Redens. Auf einige Minuten hatte sie ins Schlafzimmer geblickt und die alte Frau schlafend gefunden. Die magere Hand lag ausgestreckt auf der Decke, und um die Finger war noch dieses alberne Ding von einem Rosenkranz gewunden. Mabel schlich leise beim gedämpften Licht hinzu und versuchte, denselben loszulösen, aber die runzeligen Finger krümmten und schlossen sich, und ein Murmeln kam von den halbgeöffneten Lippen. Ach, wie bedauerlich war es doch, dachte die junge Frau, wie hoffnungslos, daß eine Seele in solche Finsternis hinausziehen sollte, hartnäckig sich weigernd, die höchste, edelmütigste Hingabe zu vollziehen und ihr Leben zu opfern, weil das Leben selbst es so verlangte.
Dann ging sie in ihr Zimmer. – –
Die Uhr verkündete die dritte Stunde, und die fahle Dämmerung des anbrechenden Tages erhellte schon das Gemach, als Mabel erwachte und neben ihrem Bett die Wärterin fand, die bei der Kranken gewacht hatte.
»Kommen Sie sofort, Madame, Mrs. Brand stirbt.«
Oliver war gegen sechs Uhr zu Hause; er ging sofort in das Zimmer seiner Mutter hinauf, um zu finden, daß alles vorüber war.
Das helle Licht und die reine Luft des jungen Tages erfüllten den Raum, und durch das geöffnete Fenster erscholl das Zwitschern der Vögel aus dem Garten. Sein Weib kniete am Bette; ihre Hände umschlossen noch die runzeligen Finger der alten Frau, während ihr Gesicht zwischen ihren Armen auf dem Bette ruhte. Das Antlitz seiner alten Mutter war ruhiger, als er es je gesehen, die Züge waren wie aus Marmor gemeißelt, ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Einen Augenblick blickte er auf sie nieder und wartete, bis das krampfartige Gefühl, das seine Kehle zusammenzupressen schien, verschwunden war. Dann legte er die Hand auf die Schulter seiner Gattin.
»Wann?« fragte er.
Mabel sah zu ihm auf.
»O Oliver«, flüsterte sie, »es war vor einer Stunde. Sieh nur!«
Sie öffnete die toten Hände und zeigte ihm den Rosenkranz, den sie noch umschlossen hielten; im letzten Kampfe war er zerrissen, und eine braune Perle lag unter den Fingern.
»Ich tat, was ich konnte«, seufzte Mabel. »Ich war nicht hart gegen sie, aber sie wollte nicht hören. Nur nach dem Priester rief sie fortwährend, solange sie ein Wort hervorbringen konnte.«
»Meine Liebe …« begann ihr Mann. Dann kniete er auch neben seiner Gattin nieder, beugte sich nach vorn und küßte den Rosenkranz, während Tränen seine Augen füllten.
»Ja, ja«, sagte er, »lassen wir sie in Frieden. Ich möchte ihn um keinen Preis der Welt wegnehmen; war es doch ihr Spielzeug, nicht wahr?«
Erstaunt blickte ihn Mabel an.
»Auch wir können großmütig sein«, sagte er. »Die ganze Welt ist ja endlich unser. Und sie – sie hat nichts verloren: es war zu spät.«
»Ich tat, was ich konnte.«
»Ja, mein Liebling, und du hattest recht; aber sie war zu alt; sie konnte es nicht mehr erfassen.«
Er hielt an.
»Euthanasia?« flüsterte er mit einem leisen Anflug von Zärtlichkeit in seiner Stimme.
»Ja«, sagte sie, »gerade als der Todeskampf anfing. Sie wehrte sich, aber ich wußte, du würdest es wünschen.«
Eine Stunde noch sprachen sie miteinander im Garten, dann gingen sie nach Olivers Zimmer, wo dieser begann, ihr alles zu erzählen, was inzwischen vorgefallen war.
»Er hat abgelehnt«, sagte er. »Wir erboten uns, eine besondere Stellung für ihn zu schaffen. Er sollte den Titel Konsultor erhalten, und vor zwei Stunden hat er ihn abgelehnt. Doch versprach er, uns zur Seite zu stehen … Nein, ich darf dir nicht sagen, wo er ist … Er wird, glauben wir, bald nach Amerika zurückkehren, doch wird er uns nicht ganz verlassen. Wir haben ein Programm entworfen, und es soll ihm sofort übermittelt werden … Ja, wir waren einstimmig dafür.«
»Und das Programm?«
»Es betrifft Wahlberechtigung, das Armengesetz und den Handel. Mehr darf ich dir nicht mitteilen. Er selbst hat die Punkte in Vorschlag gebracht. Doch sind wir noch nicht gewiß, daß wir ihn ganz verstehen.«
»Aber, mein Lieber …«
»Ja, es ist ganz außerordentlich. Ich habe nie so etwas gesehen. Es gab sozusagen kein Verhandeln.«
»Begreift das Volk?«
»Ich glaube ja. Wir müssen jedoch alles aufbieten, um eine Reaktion zu verhindern.«
»Erzähle mir mehr von ihm.«
»Eigentlich gibt es nicht das Geringste zu erzählen; wir wissen nichts weiter, als daß er die höchste Macht in der Welt ist. Frankreich ist in einem Zustande der Gärung und will ihn zum Diktator machen. Auch das hat er abgelehnt. Deutschland hat ihm dieselben Anerbieten gemacht wie wir; Italien dieselben wie Frankreich mit dem Titel eines Tribuns auf Lebenszeit. Amerika hat bis jetzt noch nichts getan und in Spanien ist man noch nicht einig.«
»Der Kaiser sprach ihm seinen Dank aus, sonst nichts.«
Mabel holte tief Atem und starrte hinaus auf den Höhenrauch, der sich über der Stadt zu erheben begann. In blauer Ferne sah sie Frankreich, die deutschen Städte, die Alpen, und weiter hinaus die Pyrenäen und das sonnige Spanien; und sie alle waren nur mit dem einen beschäftigt, dieses wunderbare Geschöpf, das in die Welt gekommen war, für sich zu gewinnen. Sogar das kaltblütige England war von Eifer entflammt. Jedes Land begehrte nur das eine, von diesem Manne regiert zu werden, und allen hatte er es abgeschlagen.
»Allen hat er es abgeschlagen«, wiederholt sie leise.
»Ja, allen. Wir glauben, er wartet auf Nachricht aus Amerika. Du mußt wissen, daß er dort noch einige Ämter bekleidet.«
»Wie alt ist er?«
»Nicht über zwei- oder dreiunddreißig. Er ist nur einige Monate im Amte gewesen. Vordem lebte er allein in Vermont. Dann wurde er in den Senat berufen; darauf hielt er eine oder zwei Reden, dann wurde er zum Delegierten ernannt, obgleich niemand wirklich seine Macht erkannt hatte. Alles übrige wissen wir.«
Nachdenklich schüttelte Mabel ihren Kopf.
»Nichts wissen wir«, sagte sie. »Nichts, nichts! Wo hat er sich seine Sprachkenntnisse angeeignet?«
»Man vermutet, daß er viele Jahre gereist ist. Doch bestimmt weiß es niemand. Er selbst hat nichts darüber verlauten lassen.«
Sie wandte sich plötzlich zu ihrem Gatten.
»Aber was soll das alles bedeuten? Worin besteht seine Macht? Sage es mir, Oliver!«
Er lächelte und schüttelte den Kopf.
»Nun, Markham behauptet, sie läge in seiner Sittenreinheit, – darin und in seiner Beredsamkeit; aber damit ist nichts gesagt.«
»Nein, damit ist nichts gesagt«, wiederholte Mabel.
»Es ist eben seine ganze Erscheinung«, fuhr Oliver fort, »wenigstens nennen wir es so. Aber auch dies ist eben nur ein Name dafür.«
»Ja, gerade ein Name. Aber das ist es eben. Alle empfanden es, sowohl in Pauls House als auch nachher in den Straßen. Empfandest du es nicht?«
»Ob ich es empfunden!« rief ihr Mann, und seine Augen leuchteten.
Bald darauf kehrten sie nach dem Hause zurück, und erst als sie an der Türe ankamen, begannen sie wieder von der greisen Toten zu sprechen, die dort oben lag.
»Sie sind jetzt mit ihr beschäftigt«, sagte Mabel leise. »Ich werde die Leute benachrichtigen.«
Er nickte ernst.
»Es wäre am besten, wenn es diesen Nachmittag geschehen könnte. Um vierzehn Uhr bin ich eine Stunde frei. Übrigens, weißt du, Mabel, wer dem Priester den Auftrag überbracht hat?«
»Ich kann es mir denken.«
»Ja, es war Phillips. Ich habe gestern abends mit ihm gesprochen. Er wird dieses Haus nie wieder betreten.«
»Hat er es eingestanden?«
»Gewiß. Er war höchst beleidigend.«
Olivers Gesicht nahm jedoch wieder einen milderen Ausdruck an, als er, an der Treppe angelangt, seiner Gattin zunickte und sich nochmals hinaufbegab in das Zimmer seiner Mutter.