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Drittes Kapitel

1.

Freitag Abend, sobald die Sitzung beendigt war und die Bevollmächtigten sich vom Beratungstisch erhoben hatten, verließ Oliver Brand den Konferenzsaal in Westminster, weit mehr besorgt, zu erfahren, welchen Eindruck die Neuigkeit auf Mabel als auf die Welt machen würde.

Der Beginn ihrer Veränderung datierte, wie er sich wohl bewußt war, von jenem Tage, da vor fünf Monaten der Präsident der Welt zum erstenmal seine Politik entwickelt hatte, und während Oliver selbst derselben zugestimmt und durch deren öffentliche Verteidigung sich nach und nach zur Überzeugung ihrer Notwendigkeit gebracht, hatte Mabel zum erstenmale in ihrem Leben sich absolut hartnäckig verhalten.

Seiner Meinung nach schien sie in eine Art Irrtum verfallen zu sein. Acht oder vierzehn Tage nach Felsenburghs Ausrufung in Westminster hatte dieser seine Erklärung abgegeben, und Mabel hatte die Nachricht hiervon zuerst mit absolutem Skeptizismus aufgenommen. Dann, als es keinem Zweifel mehr unterlag, daß er die Ausrottung der Supernaturalisten als möglicherweise notwendig erklärt hatte, war es zwischen dem Ehepaar zu einer furchtbaren Szene gekommen. Sie hatte behauptet, man habe sie getäuscht, das Hoffen der Menschen sei ein ungeheuerlicher Selbstbetrug, der Weltfriede sei ferner als je, Felsenburgh habe das in ihn gesetzte Vertrauen mißbraucht und sein Wort gebrochen. Es war ein entsetzlicher Auftritt gewesen. Sogar jetzt noch vermied er es, daran zurückzudenken. Nach einer Weile hatte sie sich beruhigt, doch schienen seine mit unendlicher Geduld vorgebrachten Beweisgründe nur sehr wenig zu fruchten. Sie hüllte sich in Schweigen und antwortete ihm kaum mehr. Eines nur schien auf sie Eindruck zu machen, und zwar, wenn er von dem Präsidenten selbst sprach. Er kam langsam zu der Überzeugung, daß sie eben doch nur ein Weib, und, wenn auch von einer starken Persönlichkeit, so doch einer strengen Logik absolut nicht zugänglich war. Er fühlte sich sehr enttäuscht, hoffte aber, die Zeit werde auch hier ihre bessernde Wirkung ausüben.

Die englische Regierung hatte sich angelegentlich beeilt, vorzusorgen und alle jene zu beruhigen, die, gleich Mabel, vor der nicht zu umgehenden Logik der neuen Politik zurückschreckten. Ein Heer von Rednern durcheilte das Land, verteidigend und aufklärend; die Presse arbeitete mit außerordentlicher Geschicklichkeit, und man konnte ruhig sagen, daß es unter den Millionen der Bewohner Englands keinen einzigen gab, dem es Schwierigkeiten gemacht hätte, die Verteidigung der Regierung kennenzulernen.

Ihre Argumente waren, mit wenigen Worten gesagt und unter Beiseitelassung jedes Wortschmuckes, die folgenden, und es unterlag keinem Zweifel, daß sie im großen ganzen eine beruhigende Wirkung auf die sich entsetzt auflehnenden Gemüter des gefühlvolleren Teiles ausübten.

Der Friede, so sagte man, war zum ersten Male in der Weltgeschichte zu einer universellen Tatsache geworden. Es gab keinen Staat mehr, er mochte noch so unbedeutend sein, dessen Interessen sich nicht deckten mit denen eines der drei Weltteile, von dem er abhängig war, und dieser erste Schritt war vor nahezu einem halben Jahrhundert geschehen und nun abgeschlossen. Die zweite Etappe, die Vereinigung dieser drei Teile unter einem gemeinsamen Oberhaupte – ein unendlich schwierigeres Beginnen als das erste, nachdem die einander entgegenstehenden Interessen ungleich gewichtiger waren – diese zweite Etappe wurde durchgeführt und vollendet von einer einzelnen Person, die anscheinend gerade in jenem Momente, der einen solchen Charakter erforderte, von der Menschheit hervorgebracht worden war. Von denen jedoch, welchen diese Wohltaten zugute kamen, war es gewiß nicht zu viel verlangt, wenn sie dem Willen und Urteile dessen, der sie ihnen vermittelt hatte, zustimmen sollten. Es war also ein Appell an das Vertrauen, an den Glauben.

Das zweite Hauptargument richtete sich an die Vernunft. Verfolgung war, wie alle Einsichtigen zugeben mußten, die Methode einer Mehrheit von Rohlingen, von Ungebildeten, welche eine Reihe von Anschauungen einer Minderheit aufzwingen wollten, die dieselben nicht sofort teilte. Nun lag aber das Übel der Verfolgungen vergangener Zeiten nicht etwa in der Anwendung von Gewalt, sondern in deren Mißbrauch. Daß irgend ein Reich einer Minderheit seiner Bürger religiöse Meinungen zu diktieren habe, war eine unerträgliche Tyrannei, denn keinem Staate steht das Recht zu, allgemeine Gesetze zu erlassen, deren Gegenteil seinem Nachbarn als Gesetz gilt. Darunter jedoch barg sich nichts anders, als der Individualismus der Nationen, eine Häresie, die dem Zusammenschluß der Welt sogar noch weit schädlicher war, als der Individualismus des Individuums. Doch mit dem Inslebentreten der weltumfassenden Interessengemeinschaft änderte sich die ganze Lage. Die eine Persönlichkeit der menschlichen Rasse hatte das Erbe der Zusammenhanglosigkeit geteilter Einheiten angetreten, und aus diesem Vorgange, der dem Anbruche eines neuen Zeitalters gleichkam, hatte sich eine ganz neue Rechtslage ergeben. Die menschliche Rasse war jetzt ein einziges in sich abgeschlossenes Wesen mit höchster Verantwortlichkeit gegenüber sich selbst. Es gab nun nicht länger mehr irgendwelche Privatrechte, wie sie ja in dem vorhergehenden Zeitabschnitt bestanden hatten. Der Mensch besaß jetzt die Herrschaft über jede einzelne der Zellen, aus denen sich sein mystischer Leib zusammensetzte und wo irgendeine solche Zelle sich zum Schaden des ganzen Körpers betätigte, standen die Rechte der Gesamtheit unbedingt höher.

Und es gab keine Religion, welche die gleichen Rechte universeller Rechtshoheit für sich beanspruchte – außer der katholischen Kirche. Die Christen unterwarfen sich einem angenommenen, übernatürlichen Wesen, das nicht nur – so behaupteten sie – außerhalb der Welt, sondern über derselben stand. Sie trennten sich also – wenn man die verrückte Fabel von der Menschwerdung, die man ganz gut an ihrer eigenen Vernunftwidrigkeit sterben lassen konnte, beiseite ließ – vorsätzlich von dem Körper, dessen Glieder sie durch menschliche Zeugung geworden waren. Sie galten als abgestorbene Glieder, die sich selbst der Herrschaft einer fremden Macht, einer anderen, als sie ihr eigenes Leben war, unterstellten, und durch eben diesen Akt bedeuteten sie eine Gefahr für den ganzen Körper. Dieser Wahnsinn nun war das einzige Verbrechen, welches noch diesen Namen verdiente. Mord, Diebstahl, Raub, ja selbst Anarchie waren unbedeutende Vergehen im Vergleiche zu dieser ungeheuren Sünde, denn, wenn dieselben auch den Körper verletzten, so trafen sie doch nicht das Herz – Individuen litten, und darum verdienten diese untergeordneten Verbrechen Verhinderung und Zurückdrängung; aber das Leben selbst als Ganzes war nicht getroffen. Das Christentum jedoch stellte ein sofort tötendes Gift dar. Jede Zelle, die davon angesteckt wurde, war damit gerade in jener Ader infiziert, die sie mit der Quelle des Lebens verband. Dies, und zwar dies allein, war das höchste Verbrechen des Hochverrates am Menschen – und nichts anderes, als eine vollständige Entfernung desselben aus der Welt konnte sichere Heilung bringen.

Dies also waren die Hauptargumente, welche man an jenen Teil der Welt richtete, der noch vor dem von Felsenburgh wohlerwogenen Äußersten zurückschreckte, und ihre Erfolge waren bemerkenswert. Natürlich wurde diese Logik, unbestreitbar in sich selbst, auf das verschiedenste ausgeschmückt, mit rednerischem Beiwerk verbrämt und in glühende Leidenschaft getaucht, und der Zweck davon wurde in einer Weise erreicht, daß bei Beginn des Sommers Felsenburgh privat ankündigen konnte, er werde eine Vorlage einbringen, die die von ihm besprochene Politik zu ihrem logischen Abschluß bringen sollte.

Und nun war auch dies geschehen.

2.

Oliver, in seinem Hause angelangt, begab sich sofort nach Mabels Zimmer. Er wollte vermeiden, daß sie die Nachricht zuerst von anderen als von seinen Lippen vernahm. Sie befand sich nicht dort, und auf seine Erkundigungen erfuhr er, daß sie vor einer Stunde weggegangen war.

Er war ärgerlich darüber. Sie hatten das Dekret vor einer halben Stunde unterzeichnet, und in Beantwortung einer Anfrage Lord Pembertons wurde konstatiert, daß nunmehr kein Grund mehr zur Geheimhaltung vorlag und der Beschluß der Presse mitgeteilt werden konnte. Oliver war sofort nach Hause geeilt, um sich zu versichern, daß Mabel die Nachricht durch ihn erführe, und nun war sie ausgegangen, und jeden Augenblick mußten die Plakate ihr sagen, was geschehen.

Es war ihm dies mehr als peinlich, aber die Rücksicht auf sie ließ ihn noch eine ganze Stunde warten, ehe er sich zu einem weiteren Schritte entschloß. Dann ging er an das Sprachrohr und stellte einige Fragen, doch das Mädchen hatte keine Ahnung von Mabels Tun; vielleicht war sie nach der Kirche gegangen; sie tat es manchmal zu dieser Stunde. Er beauftragte sie, nachzusehen, während er wieder seinen Sitz am Fenster in Mabels Gemach einnahm und trostlos auf die von dem Licht der untergehenden Sonne übergossenen, unabsehbaren Dächerreihen hinstarrte, einem Lichte, das ihm gerade diesen Abend von einer außergewöhnlichen Schönheit zu sein schien. Der Himmel war nicht von jenem reinen Golde, wie es während der letzten Woche jeder Abend gebracht; ein rötlicher Hauch lag darüber und zog sich nach Osten und Westen, soweit sein Auge reichte, über das ganze Himmelsgewölbe hin. Er sann nach über das, was er kürzlich in einem alten Buche gelesen hatte, nämlich, daß das Fehlen des Rauches sicherlich eine ungünstige Wirkung auf die Farbentöne des Sonnenunterganges ausgeübt habe … Es hatte auch einige ernstliche Erdbeben gegeben, in Amerika – ob sie wohl damit in einem Zusammenhang standen …? Dann flogen seine Gedanken wieder zu Mabel zurück.

Es mochten etwa zehn Minuten vergangen sein, als er Mabels Schritte auf der Treppe hörte, und während er sich erhob, trat sie ein. Etwas in ihren Zügen sagte ihm, daß sie alles wußte, und sein Mut sank angesichts der dem fahlen Gesicht aufgeprägten Härte. Keine Spur von Entrüstung – nichts als bleiche, hoffnungslose Verzweiflung und eine unendliche Entschlossenheit sprachen daraus. Ihre Lippen waren fest zusammengepreßt und ihre von dem weißen Sommerhut beschatteten Augen schienen sich zu Punkten zusammengezogen zu haben. Sie schloß mechanisch die Türe hinter sich und blieb regungslos stehen.

»Ist es wahr?« fragte sie.

Oliver holte Atem und ließ sich wieder nieder.

»Ist was wahr, meine Liebe?«

»Ist es wahr«, wiederholte sie, »daß alle gefragt werden, ob sie an Gott glauben, und wenn sie sich dazu bekennen, getötet werden sollen?«

Oliver biß seine trockenen Lippen.

»Du stellst es sehr hart hin«, sagte er. »Die Frage ist, ob die Welt ein Recht hat –«

Sie machte eine ungeduldige Bewegung mit dem Kopfe.

»Es ist also wahr? Und du unterzeichnetest es?«

»Meine Liebe, ich bitte dich, keine Szene zu machen. Ich bin todmüde. Und ich werde nicht darauf antworten, bis du nicht gehört hast, was ich zu sagen habe.«

»So sprich also.«

»Setze dich zuerst.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Gut denn … Die Sache liegt so. Die Welt ist jetzt eine Einheit, nicht eine Vielheit. Der Individualismus ist tot. Er starb, als Felsenburgh Präsident der Welt wurde. Du siehst zweifellos, daß damit eine absolut neue Lage geschaffen ist – es gab niemals vorher etwas Derartiges. Du weißt dies alles ebensogut wie ich.«

Wieder machte sie ein Zeichen der Ungeduld.

»Du wirst mich, bitte, zu Ende hören«, sagte er verdrossen. » Well, nachdem nun all dies geschehen ist, entstand eine neue Moral; es ist genau wie bei einem Kinde, das in das Alter der Vernunft eintritt. Wir haben daher die Verpflichtung, darauf zu sehen, daß dies anhält – daß nicht eine Rückwärtsbewegung eintritt – kein Absterben – daß alle Glieder sich in guter Gesundheit befinden. ›Wenn deine Hand dich ärgert, so haue sie ab‹, sagte Jesus Christus. Well, das ist es eben, was wir sagen … Wenn nun jemand behauptet, er glaube an Gott – ich zweifle sehr, ob es überhaupt jemand gibt, der wirklich daran glaubt oder versteht, was dies bedeutet – aber wenn jemand das behauptet, so ist dies das denkbar schlimmste Verbrechen, es ist Hochverrat. Doch soll keinerlei Gewalt zur Anwendung kommen; es wird alles ganz ruhig und rücksichtsvoll abgehen. Du hast doch auch stets, wie alle anderen, Euthanasia gut geheißen; und –«

Abermals erfolgte eine ungeduldige Bewegung mit dem Kopfe, im übrigen stand sie wie aus Stein.

»Wozu das alles?« fragte sie.

Oliver stand auf, er konnte nicht länger den harten Klang ihrer Stimme ertragen.

»Mabel, mein Liebling –«

Einen Augenblick zuckten ihre Lippen, dann aber trat wieder jener Ausdruck eisiger Kälte in ihre Augen.

»Ich will das nicht«, sagte sie, »es hat keinen Zweck … Du unterzeichnetest es also?«

Oliver fühlte sich entmutigt und verzweifelt, als sein Blick wieder auf sie fiel. Es wäre ihm tausendmal lieber gewesen, wenn sie gelobt und geweint hätte.

»Mabel –«, rief er nochmals.

»Du unterzeichnetest also? …«

»Ich unterzeichnete«, erwiderte er endlich.

Sie wandte sich um und schritt der Türe zu. Er eilte ihr nach.

»Mabel, wohin gehst du?«

Dann, zum erstenmal in ihrem Leben, belog sie ihren Mann, sich dessen voll bewußt und ohne zu zögern.

»Ich will ein wenig ausruhen«, sagte sie. »Wir werden uns sogleich bei Tisch wiedersehen.«

Er schwankte noch, doch sie erwiderte seinen Blick, zwar kalt, es sprach aber dennoch volle Aufrichtigkeit daraus, und so sank er wieder zurück.

»Sehr gut, meine Liebe … Mabel, du mußt versuchen, zu verstehen.«

Eine halbe Stunde später kam er zum Nachtmahl herab, vollgepfropft mit logischen Beweisen und brennend vor Erregung. Das Argument schien ihm jetzt so absolut überzeugend; hatte man die Voraussetzungen einmal zugegeben – und sie hatten sie doch beide angenommen – so war die Schlußfolgerung einfach unvermeidlich.

Er wartete ein paar Minuten, begab sich schließlich an das Hörrohr, das mit den Dienerschaftsräumen in Verbindung stand.

»Wo ist Mrs. Brand?« fragte er.

Ein kurzes Schweigen und dann kam die Antwort.

»Sie verließ vor einer halben Stunde das Haus, Sir. Ich glaubte, Sie wüßten davon.«

3.

Am selben Abende saß Mr. Francis in seinem Bureau, ganz beschäftigt mit den Details, die mit dem am ersten Juli fälligen Feste verbunden waren. Es geschah zum ersten Male, daß jenes besondere Zeremonien erfordernde Fest gefeiert wurde, und er war ängstlich besorgt, daß diese einen gleichen Erfolg wie jene der vorhergegangenen Gelegenheiten bedeuten möchten. Es gab diesmal einige Abweichungen gegen früher und es war daher erforderlich, die Zeremoniare genügend zu instruieren.

Das Modell vor sich – eine Miniaturnachbildung des Innern der Abtei mit winzigen, auf Blöckchen befestigten Wachsfiguren, die man nach Belieben hierhin und dorthin schieben konnte –, war er damit beschäftigt, das Programm zu der Feier in jener kleinen Schrift, wie sie Priestern so oft eigen ist, mit Bemerkungen in Form von Rubriken zu versehen.

Als daher einige Minuten nach einundzwanzig Uhr der Portier meldete, eine Dame wünsche ihn zu sprechen, antwortete er ziemlich unwirsch durch das Sprachrohr, das dies jetzt unmöglich sei. Doch die Glocke ertönte nochmals und auf seine ungeduldige Frage kam die Antwort herauf, Mrs. Brand sei unten und bitte um eine Unterredung von nur zehn Minuten. Dies änderte die Sache. Oliver Brand war eine wichtige Persönlichkeit und seine Gattin daher von einer gewissen Bedeutung, und Mr. Francis bat um Entschuldigung, veranlaßte, daß sie in sein Vorzimmer geleitet wurde, und erhob sich seufzend von seiner Puppenabtei und seinen Studien.

Mabel schien diesen Abend sehr ruhig zu sein, dachte er bei sich, als er ihr eine Minute später die Hand drückte; sie hatte den Schleier herabgelassen, so daß er ihr Gesicht nicht deutlich sehen konnte, doch ihrer Stimme schien die gewohnte Lebhaftigkeit zu fehlen.

»Ich bedaure unendlich, Sie zu stören, Mr. Francis«, sagte sie, »ich möchte nur ein paar Fragen an Sie stellen.«

Er lächelte aufmunternd.

»Ohne Zweifel, Mr. Brand –«

»Nein«, erwiderte sie, »Mr. Brand hat mich nicht hergeschickt. Ich komme in eigener Sache. Sie werden sofort meine Gründe kennenlernen. Ich beginne gleich damit, denn ich weiß, ich darf Sie nicht lange aufhalten.«

Dies alles schien ziemlich merkwürdig, dachte er, doch er würde wohl bald verstehen.

»Erstens«, sagte sie, »ich glaube, Sie haben Father Franklin gekannt. Er wurde Kardinal, nicht wahr?«

Mr. Francis lächelte zustimmend.

»Wissen Sie, ob er noch lebt?«

»Nein«, sagte er, »er ist tot. Er war, wie Sie wissen, damals in Rom, als dieses zerstört wurde.«

»Ah! Sind Sie dessen sicher?«

»Vollkommen sicher. Nur ein Kardinal entkam – Steinmann. Er wurde in Berlin gehenkt, und der Patriarch von Jerusalem starb acht oder vierzehn Tage später.«

»So! Gut also. Und nun habe ich eine sehr sonderbare Frage. Ich frage aus einem bestimmten Grunde, den ich Ihnen nicht erklären kann, doch werden Sie bald begreifen … Also – weshalb glauben die Katholiken an Gott?«

Dies überraschte ihn so sehr, daß er einen Augenblick still saß und sie anstarrte.

»Ja«, sagte sie, »es ist eine sehr sonderbare Frage. Aber –«, sie zögerte, » well, ich will es Ihnen sagen. Die Sache ist die, daß ich eine Freundin besitze, die – die durch dieses neue Gesetz sich in Gefahr befindet. Ich möchte sie gerne überzeugen und muß deshalb ihren Standpunkt kennen. Sie sind der einzige Priester – ich meine der einzige, der ein solcher war den ich kenne, außer Father Franklin. Und so dachte ich, Sie würden es mir vielleicht sagen.«

Ihre Stimme war vollkommen natürlich, kein auch noch so schwaches Beben, keine Unsicherheit klang heraus. Mr. Francis lächelte überlegen und rieb sich langsam die Hände.

»Oh!« sagte er. »Ja, ich verstehe … Well, das ist eine sehr schwierige Frage. Wäre es nicht vielleicht bis morgen –-?«

»Es genügt mir die kürzeste Antwort«, sagte sie. »Es ist mir wirklich von Wichtigkeit, sie sofort zu erhalten. Sie wissen, dies neue Gesetz tritt sofort in Kraft –«

Er nickte.

»Also gut – um mich kurz zu fassen, würde ich folgendes sagen: die Katholiken behaupten, daß Gott mit der Vernunft erfaßt werden könne; daß von der ganzen Ordnung, wie sie in der gesamten Welt zum Ausdruck kommt, man auf einen Ordner schließen müsse, ein mit Verstand begabtes Wesen, verstehen Sie. Dann sagen sie, daß sie bezüglich Gott noch schließen – daß er, zum Beispiel, die Liebe sei, des Glückes wegen –«

»Und der Schmerz?« unterbrach sie ihn.

Er lächelte.

»Ja, das ist der Punkt – das ist die schwache Stelle.«

»Aber was sagen sie darüber?«

» Well, sie sagen – kurz – der Schmerz sei durch die Sünde in die Welt gekommen.«

»Und die Sünde? Sie sehen, ich bin ganz unwissend, Mr. Francis.«

» Well, Sünde ist die Auflehnung des menschlichen Willens gegen den Willen Gottes.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Nun, sehen Sie, sie sagen, Gott wollte von seinen Geschöpfen geliebt werden und darum erschuf er sie mit vollkommener Freiheit begabt, anderenfalls wären sie wirklicher Liebe nicht fähig gewesen. Aber wenn sie frei waren, so bedeutet das, daß sie, wenn sie wollten, sich auch weigern konnten, Gott zu lieben und ihm zu gehorchen und dies ist, was man Sünde nennt. Sie sehen, welcher Unsinn –«

Sie machte eine unwillige Bewegung mit dem Kopfe.

»Ja, gut«, sagte sie. »Aber ich will wirklich erfahren, was sie denken … Und ist das alles?«

Mr. Francis kräuselte die Lippen.

»Hm, nicht ganz«, sagte er; »das ist kaum mehr, als was sie ›natürliche Religion‹ heißen. Die Katholiken glauben viel mehr als nur das.«

»Ja?«

»Meine liebe Mrs. Brand, es ist unmöglich, das in einigen Worten auszudrücken. Aber, kurz gesagt, sie glauben, daß Gott Mensch wurde – daß Jesus Gott war und daß er Mensch wurde, um sie von der Sünde zu retten, dadurch, daß er starb –«

»Dadurch, daß er Schmerz ertrug, meinen Sie?«

»Ja, indem er starb. Well, und was sie die Menschwerdung nennen, ist tatsächlich der Angelpunkt. Alles andere geht daraus hervor. Und für den Menschen, der einmal daran glaubt, ergibt sich alles weitere von selbst – bis herab zu Skapulieren und Weihwasser.«

»Mr. Francis, ich verstehe nicht ein Wort von dem, was Sie sagen.«

Er lächelte entschuldigend.

»Natürlich«, sagte er, »denn es ist alles ein unglaublicher Unsinn. Aber Sie wissen, ich glaubte dies alles wirklich selbst einmal.«

»Aber es ist unvernünftig«, bemerkte sie.

Ein leiser Laut des Widerspruches kam von seinen Lippen.

»Ja«, sagte er, »in einem Sinne natürlich ist es absolut unvernünftig. Aber in einem anderen Sinne –«

Sie beugte sich plötzlich nach vorn und er konnte das Aufblitzen ihrer Augen unter dem weißen Schleier bemerken.

»Ah!« sagte sie, beinahe atemlos. »Das ist es, was ich zu hören wünsche. Sagen Sie mir nun, wie sie das rechtfertigen.«

Er hielt einen Moment inne und überlegte.

» Well«, begann er langsam, »soweit ich mich dessen entsinne, sagen sie, es gäbe noch andere Fähigkeiten außer jener der Vernunft. Sie behaupten z. B., daß das Herz manchmal Dinge herausfinde, die dem Verstande verschlossen seien – Intuition, verstehen Sie. Zum Beispiel, sagen sie, daß alle Dinge, wie Selbstaufopferung und Edelmut und selbst Kunst – daß all dieses dem Herzen entspringe, und daß erst damit die Vernunft komme, in den Regeln der Technik zum Beispiel – aber daß dieselbe nicht imstande wäre, jene Dinge zu beweisen, sie seien gänzlich anders geartet und getrennt davon.«

»Ich glaube, ich verstehe.«

» Well, sie sagen, daß es mit der Religion die gleiche Bewandtnis habe – mit anderen Worten, sie bekennen tatsächlich, daß sie reine Gemütssache sei.«

Er überlegte wieder einen Moment, bemüht, vollkommen aufrichtig zu sein.

» Well, die Christen würden letzteres vielleicht nicht zugeben, obwohl es so ist. Aber kurz –«

»Nun?«

»Sie behaupten, es gäbe ein Ding, genannt Glauben – eine Art tiefer Überzeugung, wie ähnlich nichts existiert – übernatürlicher Art –, von dem man annimmt, daß es Gott denen gebe, die danach verlangen – Leuten, die darum beten und ein gutes Leben führen usw. –«

»Und dieser Glaube?«

» Well, dieser Glaube, der sich, wie sie es nennen, auf die Evidenz, auf augenscheinliche Gewißheit stützt, – dieser Glaube gibt ihnen absolute Sicherheit, daß es einen Gott gibt, daß er Mensch geworden und so weiter, samt der Kirche und allem übrigen. Sie behaupten auch, er sei ferner bewiesen durch die Wirkung, welche ihre Religion in der Welt ausgeübt habe und durch die Art der Erklärung, die sie dem Menschen über seine eigene Natur biete. Sie sehen, es ist einfach ein Fall von Autosuggestion.«

Er vernahm ein leises Seufzen und stockte.

»Ist es Ihnen jetzt klarer, Mrs. Brand?«

»Ich danke Ihnen bestens«, erwiderte sie, »gewiß, es ist jetzt verständlicher … Und ist es wahr, daß die Christen für diesen Glauben, was er auch sei, gestorben sind?«

»O ja! Zu Tausenden und Tausenden. Gerade wie auch Mohammedaner für den ihrigen.«

»Die Mohammedaner glauben ebenfalls an Gott, nicht wahr?«

» Well, sie taten es, und ich glaube, einzelne tun es noch; aber es sind sehr wenige. Die andern sind alle Esoteriker geworden, wie sie es nennen.«

»Und – und welches ist nach Ihrer Ansicht das höher entwickelte Volk – der Osten oder der Westen?«

»Oh, zweifellos der Westen. Der Osten leistet zwar ein gutes Stück Denkarbeit, aber im Handeln steht er zurück und das führt auf geistigem Gebiete immer zu Verwirrungen – selbst zum Stillstande.«

»Und es ist gewiß, daß das Christentum bis noch vor hundert Jahren die Religion des Westens war?«

»Gewiß.«

Sie schwieg und Mr. Francis hatte genügend Zeit zu überlegen, wie merkwürdig all dies war. Sie mußte sicher sehr an dieser ihrer christlichen Freundin hängen. Dann erhob sie sich und er mit ihr.

»Ich danke Ihnen herzlich, Mr. Francis … Das ist also so in allgemeinen Umrissen …?«

» Well, ja! Soweit es sich in ein paar Worten ausdrücken läßt.«

»Danke … Ich will Sie nun nicht weiter aufhalten.«

Er schritt mit ihr der Türe zu, doch kurz vor derselben blieb sie stehen.

»Und Sie, Mr. Francis, Sie sind in allen diesen Dingen aufgewachsen. Kommt nicht manchmal alles wieder über Sie?«

Er lächelte.

»Nie«, sagte er, »außer etwa wie ein Traum.«

»Wie rechtfertigen Sie sich aber vor sich selbst? Wenn es alles Autosuggestion war, so standen Sie dreißig Jahre darunter!«

Sie hielt inne und er zögerte einen Augenblick mit seiner Antwort.

»Wie würden Ihre ehemaligen Glaubensgenossen die Sache beurteilen?«

»Sie würden sagen, ich hätte das Licht verwirkt – der Glaube sei mir entzogen worden.«

»Und Sie?«

Wieder zögerte er.

»Ich würde sagen, ich habe mich nach einer anderen Richtung einer stärkeren Autosuggestion hingegeben.«

»Ich verstehe … Gute Nacht, Mr. Francis.«

Sie wollte ihm nicht gestatten, daß er sie im Lift hinabbegleite und so ging er, als er das glänzende Gehäuse geräuschlos im Boden versinken sah, wieder zu seinem Abteimodell und seinen Miniaturpuppen zurück. Doch bevor er sich wieder daran machte, sie hin- und herzuschieben, saß er mit zusammengekniffenen Lippen einen Augenblick stille und starrte vor sich hin.


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