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Achtes Kapitel

1.

Lange vor Tagesanbruch der ersten Morgens des neuen Jahres waren die Zugänge zur Abtei schon überfüllt. Victoria Street, Great George Street, Whitehall – ja sogar Milbank Street – waren eine einzige bewegungslose Menge. Broad Sanctuary, durch die von niederen Mauern eingefaßte Motorfahrstraße in zwei Teile geteilt, war durch die Zufahrtsstraße, welche die Polizei für die bedeutenden Persönlichkeiten offen hielt, ebenfalls in große Blocks und Keile von Menschen abgeteilt, während Palace Yard, mit Ausnahme einer Insel, auf der sich eine bis auf das letzte Plätzchen besetzte Tribüne befand, vollständig frei gehalten worden war. Auf allen Dächern und Giebeln, die einen Blick auf die Abtei gestatteten, wimmelte es von Köpfen. Darüber strahlte gleich feierlichen Monden das weiße Licht der elektrischen Globen.

Eine Woche vorher war bekanntgemacht worden, daß in Anbetracht der außerordentlichen Nachfrage nach Plätzen alle jene, welche ihre Kirchenkarte in einem der autorisierten Bureaus vorzeigten und die von der Polizei erlassenen Vorschriften befolgten, denjenigen gleichgeachtet würden, die ihrer diesbezüglichen Bürgerpflicht bereits genügt hatten. Auch wurde öffentlich bekanntgemacht, daß die Regierung vorhabe, bei Beginn der Zeremonie und im Augenblicke, da die Weihrauchwolken zur Statue aufstiegen, die große Glocke der Abtei läuten zu lassen. Während dieses Zeitraumes sollten alle, deren Ohr der Schall erreiche, soweit irgend möglich, tiefstes Schweigen beobachten.

London war bei der Bekanntgabe der Katholikenverschwörung am Abend vorher wie toll geworden. Gegen vierzehn Uhr, eine Stunde nach dem Verrate des Planes an Mr. Snowford, war das Geheimnis an die Öffentlichkeit gedrungen; sozusagen in einem Augenblicke stand jede geschäftliche Tätigkeit still. Um fünfzehneinhalb Uhr waren sämtliche Läden geschlossen, ebenso die Börse, die städtischen Bureaus und die Fabriken im Westend – sie alle hatten, wie einem unwiderstehlichen Impulse folgend, die Arbeit eingestellt, und von der zweiten Stunde des Nachmittags an bis fast um Mitternacht, da es der Polizei nach hinreichender Verstärkung gelungen war, der Situation Herr zu werden, durchzogen Pöbelhaufen, ganze Heerzüge von Männern, Scharen schreiender Weiber, Banden wie wahnsinnig sich gebärdender Burschen die Straßen, heulend, drohend und mordend. Man wußte nicht, wie viele umgekommen waren, doch gab es kaum eine Straße, die nicht Zeichen der Zerstörung aufwies. Die Kathedrale von Westminster war geplündert, alle Altäre niedergerissen und unbeschreibliche Schandtaten dort vollzogen worden. Ein unbekannter Priester hatte gerade noch Zeit gehabt, die heiligen Hostien zu konsumieren, ehe er ergriffen und erdrosselt wurde; am Nordende der Kirche hatte man den Erzbischof mit elf Priestern und zwei Bischöfen aufgehängt; fünfunddreißig Kloster waren verwüstet, die St. Georgskathedrale bis auf den Grund in Asche gelegt, und man glaubte, den Abendblättern zufolge, daß zum ersten Male seit der Einführung des Christentums in England im Umkreise von vierzig Kilometern von der Abtei kein Tabernakel mehr zu finden war. »London war endlich«, so schrieb das »New People« in gesperrten Lettern, »von diesem unsauberen und phantastischen Blödsinn befreit.«

Gegen fünfzehneinhalb Uhr erfuhr man, daß wenigstens siebzig Flugschiffe nach Rom abgegangen waren und ferner, eine halbe Stunde später, daß Berlin diese durch weitere sechzig verstärkt hatte. Um Mitternacht, glücklicherweise zu einer Zeit, da es der Polizei endlich gelungen war, eine Art Ordnung in die Volksmasse zu bringen, warfen die Reflektoren auf Wolken und Plakatflächen die Nachricht, daß das Werk des Grimmes vollzogen sei und Rom aufgehört habe zu existieren. Die ersten Morgenblätter brachten noch einige Einzelheiten, indem sie, wie naheliegend, auf das eigenartige Zusammentreffen des Falles Roms mit dem Schlusse des Jahres hingewiesen und berichteten, daß durch einen merkwürdigen glücklichen Umstand tatsächlich sämtliche Spitzen der Hierarchie im Vatikan, gegen die sich der erste Angriff gerichtet hatte, versammelt gewesen seien und daß diese, vermutlich aus Verzweiflung sich geweigert hatten, die Stadt zu verlassen, als durch drahtlose Telegraphie die Kunde kam, die strafende Macht sei unterwegs. Nicht ein Gebäude stand mehr in Rom, die ganze Stadt, der Leoninische Teil, Trastevere und die Vorstädte – alles war vernichtet; denn die in ungeheurer Höhe anhaltenden Flugschiffe hatten die unter ihnen liegende Stadt mit größter Sorgfalt unter sich aufgeteilt, ehe sie die Explosivstoffe fallen zu lassen begannen. Und fünf Minuten nach dem ersten Krachen und dem ersten Emporwirbeln von Rauch und ansteigenden Trümmern war die Sache erledigt. Die Flugschiffe hatten sich dann nach allen Richtungen hin zerstreut, um, den Motor, und Eisenbahnlinien folgend, ihr Vernichtungswerk an der Bevölkerung, die sofort nach Bekanntwerden der Nachricht zu entfliehen versucht hatte, zu vollenden. Man nahm an, daß mindestens dreißigtausend verspätete Flüchtlinge auf diese Weise noch umkamen. »Allerdings«, bemerkte die Kunstzeitschrift Studio, »sind viele Schätze von unberechenbarem Werte vernichtet worden, doch war dies ein geringer Preis für die endgültige und vollständige Ausrottung dieser Pest des Katholizismus. Man gelangt schließlich an einen Punkt«, bemerkte sie, »wo Vernichtung die einzige Kur für ein von Ungeziefer befallenes Haus ist.« Auch sie bemerkte ferner, daß, nachdem nun der Papst mit dem gesamten Kardinalskollegium, all die königlichen Exhoheiten Europas, all die übergeschnappten Religionsanhänger, welche die »Heilige Stadt« zu ihrem Wohnsitze gemacht hatten, mit einem Schlage vernichtet seien, man nirgendsmehr ein Wiedererwachen des Aberglaubens zu befürchten brauche. Doch müsse jetzt dafür gesorgt werden, daß nicht Weichherzigkeit Platz greife.

Einige Blätter bedauerten den Vorfall oder vielmehr den Geist, der sich dadurch geoffenbart. Es sei nicht schicklich gewesen, meinten sie, daß der Humanitarismus zur Gewalt gegriffen habe. Doch war keines darunter, das nicht darin übereinstimmte, man könne sich nur dem Gefühle tiefster Dankbarkeit für das erreichte Ergebnis hingeben. Auch Irland müsse nun an die Reihe kommen, man dürfe keine Zeit mehr verlieren.

Gegen Osten hin begann es sich zu lichten und in der Richtung über den Fluß hin zeigten sich in der winterlichen Dämmerung ein paar rötliche Streifen. Eine überraschende Ruhe herrschte allenthalben, denn diese ungeheuere, von der durchwachten Nacht ermüdete und in der bitteren Kälte erstarrte Menge hatte, beherrscht von dem Gedanken an das, was ihrer wartete, keine Energie mehr zu unnützen Kraftäußerungen. Es wurde lichter und lichter, die elektrischen Globen verblichen mehr und mehr und die Dämmerung begann sich zu klären, nicht um das frische Blau, das man nach der kalten Nacht erhofft hatte, zu zeigen, sondern um ein farbloses, wolkiges, graues und mit dem Aufsteigen der kupferroten Sonnenscheibe aus dem Flusse mattrosa gefärbtes Gewölbe zu erschließen.

Um neun Uhr machte sich eine Erregung bemerkbar. Unter den Polizisten zwischen Whitehall und der Abtei, welche von ihren erhöhten, den Weg entlang verteilten Tribünen die Drahtumzäunungen überwachten und kontrollierten, konnte man eine gewisse Bewegung wahrnehmen, und eine Minute später eilte ein Polizeimotor über den umzäunten Platz und verschwand hinter den Abteitürmen. Nun begann Erwartung sich der murmelnden und vorandrängenden Menge zu bemächtigen, und Hochrufe begrüßten vier weitere Wagen mit dem Reichswappen, die in gleicher Richtung verschwanden. Gegen ein Viertel vor zehn stimmte die Volksmenge am Westende von Victoria Street einen Gesang an, die Glocken von den Türmen der Abtei begannen plötzlich zu läuten, und es verbreitete sich das Gerücht, Felsenburgh werde an der Zeremonie teilnehmen. Weder vorher noch später geschah irgend etwas, was zu dessen Entstehung Veranlassung hätte geben können; es war in der Tat, berichtete der »Evening Star«, ein weiterer Beweis für den erstaunlichen Instinkt menschlicher Massen, denn selbst die Regierung gelangte erst eine Stunde später zur Kenntnis der Tatsache. Und doch konnte nicht geleugnet werden, daß von halb elf an ununterbrochenes Schreien die Abtei umtobte, das, selbst die ehernen Stimmen der Glocken übertönend, rings um Whitehall herum sich bis nach Westminster Bridge hin erstreckte und nach Julian Felsenburgh verlangte. Und doch war man seit vierzehn Tagen absolut ohne Nachrichten über den Präsidenten von Europa, abgesehen von einem, jedoch auf keine Tatsachen sich stützenden Gerüchte, daß er sich irgendwo im Osten aufhalte.

Und nun strömten die Motore herzu von allen Seiten nach der Abtei hin und verschwanden unter dem Bogen von Deans Yard. Sie brachten jene bevorzugten Persönlichkeiten, deren Karte sie zum sofortigen Eintritt in die Kirche ermächtigte. Hochrufe erschollen und pflanzen sich die Reihen entlang fort, als man die Größen erkannte – Lord Pemberton, Oliver Brand mit Frau, Mr. Caldecott, Maxwell, Snowford mit den europäischen Delegierten, ja selbst den melancholisch dreinblickenden Mr. Francis, den Regierungs-Zeremoniarius, begrüßten einige Rufe. Doch um ein Viertel vor elf, als das Glockengeläute verstummte, hatte auch dies Zuströmen aufgehört, die Wege wurden mittels Barrieren abgesperrt, die Drahtumzäunungen zurückgezogen und die Haufen, einen Augenblick im Schreien innehaltend, atmeten ob des plötzlich verminderten Druckes erleichtert auf und ergossen sich in die nun freigegebenen Straßen. Dann setzte wieder das Schreien nach Julian Felsenburgh ein.

Noch fehlten fünf Minuten. Eine einzige Glocke schlug noch an, die Minuten verrannen, und auch diese schwieg. An das Ohr derer, die sich in Hörweite des großen Westtores befanden, drangen die ersten Töne der mächtigen, von Trompeten verstärkten Orgel. Und dann, plötzlich und tief, wie die Ruhe des Todes, senkte sich ein gewaltiges Schweigen hernieder.

2.

Als die Glocke fünf Minuten vor der vollen Stunde oben in den hohen Wölbungen feierlich gleichmäßig zu läuten begann, atmete Mabel tief auf und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, nachdem sie eine halbe Stunde lang in steifer Haltung auf das wunderbare Schauspiel hinabgestarrt hatte. Es schien ihr, als habe sie es endlich ihrem eigenen Wesen angepaßt, als sei ihr eigenes Ich zurückgekehrt, als habe sie sich nun gesättigt an dem Anblicke des Triumphes und der Schönheit. Sie kam sich vor wie jemand, der an einem Sommermorgen nach vorangegangenem Sturme auf das ruhige Meer herniederblickt. Man war dem Höhepunkt nahe.

Von einem Ende zum andern, von einer Seite zur andern, bot das Innere der Abtei den Anblick riesiger, aus menschlichen Gesichtern zusammengesetzter Mosaikstücke, lebender Spalten und Wände, Einschnitte und Kurven. Ihr gerade gegenüber im südlichen Seitenschiff erstreckte sich vom Fußboden bis hinauf zur Fensterrosette eine einzige, nur aus Köpfen bestehende Fläche, der Boden schien mit solchen bepflastert und durch den roten Teppich des Mittelganges, der von der Kapelle der heiligen Fides herführte, in zwei Hälften geteilt; zur Rechten, jenseits des freien Platzes vor dem Altarraum füllten den Chor weißgekleidete, in lange, faltige Gewänder gehüllte Gestalten; der hohe Orgelraum, von dem man die lange, abschließende Rampe entfernt hatte, war ebenso überfüllt, und weiter hinab erstreckte sich dasselbe endlose, bleiche, lebende Pflaster hin durch das düstere Seitenschiff bis in den Schatten des westlichen Fensters. Zwischen jeder Säulengruppe hinter den Chorstühlen, also vor ihr, zu ihrer Rechten, Linken und im Rücken schmiegten sich Tribünen an das Mauerwerk und die kunstvolle Decke, das Dächermaßwerk und das kühngeschwungene Kapitell; dies allein schon genügte, das Auge sich über das Menschliche hinaus erheben zu lassen. Den gesamten weiten Raum durchflutete, wie man den Eindruck hatte, zartes Sonnenlicht, das den außerhalb jedes einzelnen Fensters angebrachten künstlichen Lichtquellen entströmte und das Rubin und Purpur und Blau der alten Glasfenster in langen Farbstreifen durch den Staub der Atmosphäre warf und in unförmigen Flecken auf den Gesichtern und Gewändern dort unten ruhte. Das Summen von Zehntausenden von Stimmen erfüllte den Bau und bildete eine feierliche Begleitung zu jenen melodiösen Tonwellen, welche über sie hinzogen. Stärker aber und tiefer als all dieses wirkte der kahle, nur mit einem Teppich bekleidete Altarraum zu ihren Füßen, der mächtige Altar inmitten mit den zu ihm hinanführenden Stufen, der ungeheuere Vorhang und die noch leeren, altertümlichen Sitze.

Mabel bedurfte solch stärkender Eindrücke, denn die vergangene Nacht bis zur Heimkehr Olivers war wie ein entsetzlich erregender, wacher Traum an ihr vorübergegangen. Von dem ersten Stoße an, von dem, was sie dort vor der Kirche gesehen hatte, und all die Stunden des Wartens mit dem Bewußtsein, daß auf solche Weise nun der Geist des Friedens seine Überlegenheit bewies, bis zu jenem letzten Augenblick, wo sie in den Armen ihres Gatten den Fall Roms erfuhr, war es ihr vorgekommen, als sei diese neue Welt, welche sie umgab, plötzlich angefault. Es war unglaublich, sagte sie sich, daß dieses raubgierige, an Klauen und Zähnen von Blut triefende Ungeheuer, das da unter Brüllen sich in vergangener Nacht erhoben, jene Humanität sein sollte, die ihr zum Gott geworden. Sie hatte gedacht, Rache und Grausamkeit und Metzeleien seien nur Produkte jenes Aberglaubens, des Christentums, und nunmehr unter der Herrschaft des Lichtengels abgetan, tot und begraben, und jetzt schien es, daß all diese Ungeheuer noch lebten und umgingen.

Sie hatte mit sich gestritten. Zweifel waren in ihr aufgestiegen und sie hatte sie niedergekämpft; verzweifelte Akte des Glaubens hatte sie gemacht und sich bemüht, das Vertrauen, das aus ihrer Betrachtung erwachsen war, wieder zu gewinnen, sie hatte sich vorgehalten, daß Traditionen nur langsam absterben, sie hatte gekniet, aufgeschrien zu dem Geiste des Friedens, von dem sie wußte, daß er, wenn auch für den Augenblick unter bösen Leidenschaften vergraben, dennoch in jedes Menschen Herz wohnte.

Selbst an den Tod hatte sie gedacht, wie sie es ihrem Mann mitgeteilt. In allem Ernste hatte sie es vor; es wäre ein mit ihren Moralanschauungen vollkommen im Einklang stehendes Entkommen gewesen. Nach allgemeiner Übereinkunft wurden die zum Leben Untauglichen und Sterbenden aus der Welt geschafft, dazu waren ja die Euthanasiahäuser da. Nun, was sollte sie auch halten? … Sie konnte es ja nicht mehr ertragen! … Und dann war Oliver gekommen, sie hatte sich durchgekämpft, zurück zu Einsicht und Vertrauen, und das Phantom war wieder gewichen.

Wie gefühlvoll und ruhig er doch gewesen war, begann sie sich jetzt zu sagen, da der beruhigende Einfluß der in diesem Gotteshaus versammelten Menschenmassen sie neuerdings überwältigt hatte – wie vernünftig in seinen Darlegungen doch dieser Mann war, sogar jetzt, obwohl kaum genesen, und darum um so eher zur Schwäche geneigt. Immer und immer während der letzten Nacht hatte sie sich alles wiederholt, aber es war doch ganz anders, wenn er selbst es aussprach. Noch einmal hatte seine Persönlichkeit gesiegt und der Name Felsenburgh hatte das übrige getan.

»Wenn er nur hier wäre!« seufzte sie. Aber sie wußte, daß er fern war.

Nicht eher als eine Viertelstunde vor elf Uhr verstand sie, daß auch die Menge draußen nach ihm rief, und dieses Bewußtsein vermehrte noch ihre wiedererlangte Sicherheit. So wußten sie also doch, jene blutgierigen Tiger, bei wem ihre Erlösung lag; sie begriffen, was ihr Ideal war, wenn sie ihm auch eben noch entgegen gehandelt hatten. Oh, wenn doch er hier wäre, dann wäre alles wieder gut! Unter seinem Friedensrufe würden die erregten Wogen sich beruhigen, das dunkle Gewölk würde sich verziehen und der Donner der Stille weichen. Doch er war ferne – ferne in irgendeiner unbekannten Angelegenheit. Nun ja, er kannte seine Aufgabe und würde sicherlich bald zurückkehren zu seinen Kindern, die seiner so sehr bedurften.

Sie hatte das Glück, allein in einer Gruppe zu sein. Ein ergrauter alter Herr mit seinen Töchtern zur Seite war ihr einziger Nachbar und ihr unbekannt. Zu ihrer Linken erhob sich die rotdrapierte Brüstung, über die hin sie nach dem Altare und Vorhange sehen konnte, und ihr Platz auf der Tribüne, an die drei Meter hoch über dem Erdboden, benahm ihr jede Möglichkeit einer Unterhaltung. Sie war nur zu dankbar dafür, denn sie hatte wenig Lust zu sprechen; sie wünschte nur, stillschweigend sich über sich selbst klar zu werden, ihren Glauben wieder zu befestigen, hinauszublicken über die zahllose Menge, die sich zusammengefunden, um dem großen Geiste zu huldigen, an dem sie Verrat geübt, und ihren Mut und ihre Treue zu erneuern. Sie war neugierig, was der Redner sprechen, ob irgendeine Erwähnung von Buße erfolgen werde. Mutterschaft war sein Gegenstand – jener liebliche Ausdruck universellen Lebens – Zärtlichkeit, Liebe, Friede, Verlangen zu schützen, aufzunehmen, der Geist, der eher mildert, zurückhält als antreibt, der sich beschäftigt mit Werken des Friedens, der Licht und Wärme im Hause verbreitet, Ruhe bringt, Nahrung bietet und willkommen heißt …

Die Glocke verstummte, und in dem kurzen Zeitraum, bis die Musik begann, vernahm Mabel deutlich über dem Gesumme im Innern das Rufen der Menge draußen, die immer noch nach ihrem Abgotte verlangte. Dann schreckte sie plötzlich die durch Trompeten verstärkte Orgel auf, deren Töne betäubender Trommelschlag begleitete. Da gab es kein sanftes Vorspiel, kein leises Erwecken von Leben, das durch geheimnisvolle Labyrinthe zum höchsten Ausblick emporstrebt – hier war es vielmehr vollkommen Tag, der Zenit von Macht und Wissen, Sonnenaufgang von beherrschender Bergeshöhe aus gesehen, Erwachen bei vollem Mittag. Ihr Herz schlug ihm entgegen und ihre, wenn auch erst wieder erwachende Zuversicht regte sich und ward mit Freude erfüllt, als die dröhnenden Akkorde über sie hinbrausten und vom Triumphe erzählten. Gott war nun einmal der Mensch – ein Gott, der in vergangener Nacht zwar für eine Stunde gestrauchelt war, nun aber an diesem Morgen eines neuen Jahres wieder erstand, den Nebel zerteilend, siegend über seine eigene Leidenschaft, alle bezwingend und von allen geliebt, Gott war der Mensch, und in Felsenburgh hatte er seine Fleischwerdung vollzogen. Ja, sie mußte es glauben! Und sie glaubte es.

Schon wand sich die lange Prozession herauf, die Balustrade entlang, und in kaum wahrnehmbarer Weise nahm das Licht mehr und mehr an Stärke und Schönheit zu. So zogen sie denn heran, die Diener des reinen Kultes, ernste Männer, welche wohl wußten, was sie glaubten, welche, wenn sie auch in diesem Augenblicke nicht in ihren Gefühlen ergriffen wurden (sie wußte, daß in dieser Hinsicht z. B. auch ihr Mann ausschied), dennoch an die Prinzipien dieses Kultes glaubten und es für den größten Teil der Menschheit als ein Bedürfnis anerkannten, sie zum Ausdrucke zu bringen. Langsam schritten sie einher, zu vieren, in Paaren und einzeln, von uniformierten Kirchendienern angeführt, und stiegen, sich über die Stufen verteilend, diese hinan, in ihrer ganzen maurerischen Pracht von Schurzfell, Binde und Schmuck von den vielfarbigen Lichtstrahlen übergossen. Ja, hier konnte man hinreichende Beruhigung finden.

Im Sanktuarium befanden sich nur wenige Personen. Der ängstlich dreinblickende Mr. Francis in seiner Amtstracht schritt feierlich die Stufen hinab und blieb dort, die Prozession erwartend, stehen, indem er mit kaum bemerkbaren Bewegungen seine Satelliten dirigierte, die im Hauptgange dem sich heranwälzenden Strom seinen Weg wiesen. Die am äußersten gegen Westen liegenden Sitze begannen sich bereits zu füllen, als Mabel plötzlich gewahrte, daß irgend etwas vorgefallen sein müsse.

Das Schreien außerhalb der Abtei klang wie eine Art Baß zu der Musik im Innern, doch war es für sich allein nicht vernehmbar; man war sich desselben nur bewußt, sobald es aufhörte, und dieses Aufhören war jetzt eingetreten.

Zuerst dachte Mabel, das Signal für den Beginn der Handlung im Innern sei hinausgedrungen, dann aber erinnerte sie sich mit einer unbeschreiblichen, plötzlichen Erregung, daß ihres Wissens nur eines je imstande gewesen war, die tobende Menge zu beruhigen. Doch war sie nicht sicher; es mochte vielleicht nur Einbildung sein. Die Volksmenge tobte vielleicht auch jetzt noch, ohne daß ihr Ohr es vernahm; aber, beinahe außer sich, wie von tödlicher Angst befallen, bemerkte sie, daß auch das Stimmengewirr innerhalb der Abtei sich gelegt hatte und eine mächtige Woge der Erregung sich über diese lebenden Felder und Abhänge hinwälzte, wie der Wind über den Weizen dahinweht. Einen Moment später stand sie auf und klammerte sich an die Brüstung; ihr Herz hämmerte wie eine unter zu hohem Druck rasende Maschine, ungestüm und ohne Unterlaß jagte das Blut durch die Adern, denn wie eine sich erhebende Welle, begleitet von einem Seufzen, das selbst die triumphierenden Orgelklänge durchdrang, hatte die riesige Versammlung sich erhoben.

In der wohlgeordneten Prozession schien Verwirrung auszubrechen. Sie sah Mr. Francis rasch nach vorn eilen und wie einen Kondukteur gestikulieren und dann auf seinen Wink die lange Reihe sich wieder voranbewegen, sich zerteilen und zurückweichen; dann schob sie sich schnell wieder voran und zerfiel schließlich in zwanzig Teile, die sich die Sitze entlang bewegten und sie in einem Augenblicke füllten. Menschen rannten und stießen, Schürzen flatterten, Hände winkten, alles ohne Zusammenhang und wortlos.

Man hörte Fußgetrampel, den Krach eines umgeworfenen Stuhles und dann, als ob ein Gott ruhegebietend seine Hand erhoben hätte, brach die Musik plötzlich ab und hinterließ nur ein wildes Echo, das im gleichen Augenblicke zusammensank und erstarb. Das tiefe Seufzen nur hielt an, und in dem vielfarbigen Sonnenlichte, das die ganze ungeheure Länge des nun von Osten bis Westen freien Mittelganges überflutete, sah man weit unten am Ende des Schiffes eine einzelne Gestalt heranschreiten.

3.

Was Mabel an diesem ersten Morgen des neuen Jahres von elf bis halb ein Uhr sah, hörte und fühlte, dessen konnte sie sich niemals auch nur annähernd erinnern. Während dieses Zeitraumes hatte sie jedes Selbstbewußtsein, hatte sie jedes Reflektionsvermögen verloren, so sehr fühlte sie sich von dem vorangegangenen Kampfe geschwächt. Von dem Prozesse, Ereignisse aufzunehmen, zu sichten und sich dieselben wieder zu vergegenwärtigen, war bei ihr keine Rede mehr; sie war nicht mehr als ein Wesen, das in einem einzigen andauernden, von in unregelmäßigen Intervallen wiederkehrenden Erwägungen durchkreuzten Akte Beobachtungen anstellt. Auge und Ohr schienen ihre einzigen Funktionen zu sein und in unmittelbarer Verbindung mit ihrem lodernden Herzen zu stehen.

Sie wußte nicht einmal, in welchem Moment ihre Sinne ihr gesagt hatten, daß dies Felsenburgh sei. Es schien ihr, als habe sie es gewußt, noch ehe er eingetreten war, und sie verfolgte ihn, als er unter lautloser Stille entschlossen über den mit rotem Teppich belegten Gang heraufkam, allein die wenigen Stufen, die zum Chorraum emporführten, hinaufstieg und jetzt an ihr vorbeischritt. Seine Kleidung war die bei englischen Richtern übliche, Scharlach und Rot, was sie aber kaum bemerkte. Für sie existierte nichts anderes mehr, als er; die Riesenversammlung war verschwunden, hinabgesunken und in eine einzige bebende Atmosphäre ungeheurer menschlicher Erregung umgewandelt. Es gab niemand mehr als Julian Felsenburgh, und Licht und Freude strömten von ihm aus und umgaben ihn wie mit einem Glorienschein.

Nachdem er vorübergeschritten, verdeckte ihn einen Moment die Rednerbühne und wenige Sekunden später war er wieder sichtbar, die Treppe zu derselben hinaufsteigend. Nun hatte er seinen Platz erreicht – sie konnte sein Profil sehen, ein wenig zur Linken unterhalb ihres Platzes, rein und scharf wie die Klinge eines Messers und darüber das weiße Haar. Er hob den mit weißem Besatz gezierten Arm, machte eine kurze Bewegung und mit einem, dem Brausen einer Meereswoge ähnlichen Geräusch ließen sich die Zehntausend auf ihre Plätze nieder. Wieder ein Wink, und mit Gedonner hatten sie sich von neuem erhoben.

Nun war es wieder still. Er stand, vollkommen regungslos, die Hände nebeneinander auf die Brüstung gelegt, den Blick gerade vor sich hingerichtet; es schien, als warte er, der aller Augen auf sich vereinigt und jeden Ton zum Schweigen gebracht, bis die alles beherrschende Wirkung seiner Person vollständig geworden und es dann nur einen Willen, ein Sehnen gäbe, und dies lag in seiner Hand vereinigt. Dann begann er zu sprechen …

Auch von dem, was er gesprochen, war, wie Mabel nachher bemerkte, keine klare und wörtliche Erinnerung in ihr geblieben, kein bewußter Vorgang des Aufnehmens dessen, was sie gehört, des Prüfens oder Zustimmens. Das der Wirklichkeit am nächsten kommende Bild, unter dem sie das, was in ihr vorging, nachher zu beschreiben imstande war, schien ihr: als er sprach, war es ihr, als spräche sie selbst. Alle ihre eigenen Gedanken, ihre Gesinnung, ihr Kummer und ihre Verdrossenheit, ihre Leidenschaft, ihr Hoffen – alle diese innersten Akte ihrer Seele, deren sie sich selbst kaum bewußt war, bis hinab zu den verwickeltsten Verzweigungen ihrer Gedanken, wurden von diesem Manne gehoben, geklärt, entflammt und verkündet. Zum ersten Male in ihrem Leben begriff sie vollkommen, was es um die menschliche Natur war, denn es war ihr eigenes Herz, das hier hinausströmte, getragen von jener übermächtigen Stimme. Wieder schien es, wie einst auf einige Augenblicke in Pauls House, als habe die Schöpfung endlich, nachdem sie so lange nun gestöhnt, in artikulierten Worten gesprochen, als sei sie herangewachsen und zu zusammenhängendem Denken und vollkommenem Sprechen gelangt. Doch damals hatte er zu Menschen gesprochen; nun war es der Mensch selbst, der sprach. Nicht ein einzelner war es, der dort sprach, es war der Mensch im Bewußtsein seines Ursprungs, seiner Bestimmung und seiner dazwischenliegenden Pilgerfahrt, der Mensch, wieder gesund nach langer Nacht des Wahnsinns – seiner Kraft bewußt, sein eigenes Gesetz verkündend, der Mensch, der mit einem Ausdruck, so beredt, wie ihn nur Saiteninstrumente wiederzugeben vermögen, seine eigene Schwäche beklagte.

Kein Appellieren an das Grauen, kein Erinnern an zusammenstürzende Paläste, eilende Gestalten, krachende Explosionen, die bebende Erde oder das Sterben der dem Tode Verfallenen. Nein, er sprach vielmehr von jenen Heißblütigen, welche die Straßen Englands und Deutschlands und die Winterluft des fernen Italien mit ihrem Geschrei erfüllt hatten, er hielt ihnen vor das Häßliche der Leidenschaften, die dort gewütet, während die Flugschiffe an ihren Stationen sich bereits zur Abfahrt rüsteten, um Rache zu nehmen und zu verbreiten, um Anschlag mit Anschlag und Gewalt mit Gewalt zu vergelten. Denn es war der Mensch, so rief die Stimme, wie er gewesen, wieder zurückgesunken auf einen Augenblick in die Greuel jener alten Zeiten, ehe er sich selbst und seine Bestimmung erkannt hatte.

Für Reue war kein Platz, wiederholte der Redner, doch es gab etwas Besseres als diese; und als die harten, schneidenden Töne schwanden, füllten sich die vor Scham glühenden Augen des jungen Weibes mit Tränen. Hatte er keine Worte gespart, um das nackte Menschenherz zu geißeln und zu züchtigen, so sparte er jetzt auch keine Worte, um das blutende, sich windende Ding wieder aufzurichten und mit der Vision göttlicher Liebe zu trösten …

Historisch gesprochen, waren es ungefähr vierzig Minuten, ehe er sich dem verhüllten Bilde im Hintergrunde des Altars zuwandte.

»O Mutterschaft!« rief er aus, »Mutter von uns allen –«

Und nun vollzog sich an allen, die ihn hörten, das höchste Wunder, denn es schien jetzt plötzlich, als wäre es nicht mehr ein Mensch, der da sprach, sondern ein Wesen, das bereits auf der Stufe des Übernatürlichen stand. Der Vorhang flatterte an den Schnüren und ward von einem danebenstehenden Offizianten zurückgezogen, und nun standen sie sich gegenüber auf dem Altare, die Mutter, weiß, erhaben und schützend, und vor ihr die mitfühlende Inkarnation der Liebe, ihr Kind, das von seiner Tribüne zu ihr aufrief:

»O, unser aller Mutter, o, meine Mutter!«

Und dann pries er sie in ihrem Angesicht als das erhabene Prinzip des Lebens, legte ihre Herrlichkeiten und ihre Stärke dar, ihre Unbeflecktheit, die sieben Schwerter der Schmerzen – die Leidenschaften und Torheiten ihrer Söhne, die ihr Herz durchbohrten – und Großes versprach er ihr, die Anerkennung ihrer zahllosen Kinder, die Liebe und Dienstbarkeit und Sehnsucht der Ungeborenen. Er nannte sie die Weisheit des Allerhöchsten, welche lieblich alles ordnet, die Pforte des Himmels, das elfenbeinerne Haus, die Trösterin der Betrübten, die Königin der Welt, und den trunkenen Augen derer, die zu ihr aufblickten, schien es, als lächelten die ernsten Züge bei seinen Worten …

Ein keuchendes Atmen, wie von einem ungeheueren lebenden Wesen ausgehend, begann die Luft zu erfüllen, als die Menge ihm nachdrängte und der Strom seiner Rede dahinfloß. Wogen der Rührung fluteten auf und nieder, man vernahm Schreien und Schluchzen, das Brüllen eines in Wahnsinn Verfallenen aus der Mitte überfüllter Sitze, das Krachen einer Bank, und noch einer, und noch einer, die Gänge wurden überflutet, denn er hielt sie nicht länger als passive Zuhörer nieder: er drängte sie zu irgendeinem erhabenen Akt. Die Flut stieg höher und höher, und die Gesichter starrten nicht mehr nach dem Sohne, sondern nach der Mutter; das junge Weib auf der Galerie zerrte an der schweren Brüstung und fiel schluchzend auf die Knie. Und über all das hallte die Stimme hin – und die bis zu schattenlosem Weiß erblaßten Hände traten aus den weißen, kostbaren Ärmeln, als wollten sie den ganzen Raum bis hin zum Bilde durchmessen.

Nun stand er an den Stufen, die zum Altar emporführten, immer noch mit ausgestreckten Händen und immer noch sprechend, und die Menschen drängten ihm nach zu Tausenden, und zu Tausenden seufzten die Herzen ihm nach … Jetzt stand er vor dem Altare – jetzt auf demselben. In einem letzten Aufschrei rief er sie nochmals an als Königin und Mutter, während die Menge sich an den Stufen brach.

Und dann kam, was kommen mußte, das Ende, rasch und unvermeidlich. In dem Augenblicke, als Mabel, in Tränen aufgelöst, in der Galerie auf die Knie sank, sah sie die kleine Gestalt zu den Füßen des mächtigen Bildes kauernd, unter den erwartungsvoll ausgestreckten Händen, schweigend und verklärt in dem herniederströmenden Lichte. Noch sah sie die ragenden Säulen, das funkelnde Gold und die feurigen Farben, die wogenden Köpfe und emporgestreckten Hände. Es war ein Meer, das vor ihr wogte, darüber tanzten die Lichter hin, die Fensterrosette schien durcheinanderzuwirbeln, die Luft war wie von unzähligen Leben erfüllt, ein Blitz zuckte hernieder, und die Erde bebte in Ekstase.

Und dann, übergossen von überirdischem Lichte, unter dem krachend einfallenden Lärm der Trommeln, dem Schreien der Frauen und dem Beifallstampfen erfolgte ein donnernder Ausbruch der Gefühle, und die Tausende jubelten ihm entgegen und priesen ihn als ihren Herrn und Gott.


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