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Erstes Buch.
Die Ankunft


Erstes Kapitel

1.

Oliver Brand, der neue Abgeordnete für Croydon, saß in seinem Studierzimmer und sah über seine Schreibmaschine hinweg aus dem Fenster. Sein Haus, gegen Norden gerichtet, war am äußersten Ende eines Ausläufers der Surreyhügel, die jetzt infolge der Tunnels und Durchbrüche kaum mehr zu erkennen waren; nur einen Kommunisten konnte die jetzige Aussicht noch begeistern. Unmittelbar unterhalb der breiten Fenster fiel das umgrenzte Gelände auf etwa hundert Fuß hin und in eine Mauer ausgehend steil ab, während jenseits derselben, soweit das Auge reichte, die Welt – der Mensch und seine Werke – Triumphe feierte. Zwei breite Schienenwege, einer Rennbahn gleichend, jeder mindestens eine Viertelmeile breit und zwanzig Fuß tiefer als das umliegende Gelände gelegt, liefen nach einem, eine Meile weiter entfernten Vereinigungspunkt, wo sie sich kreuzten. Jenseits dieser großen Stränge dehnte sich ein unübersehbares Meer von Dächern hin, aus dem hier und da niedere Türme als Kennzeichen der öffentlichen Gebäude hervortraten, und von Caterham zur Linken bis zu dem geradeaus liegenden Croydon erschien alles rein und klar in der rauchfreien Luft; fern gegen Westen und Norden hoben sich die niederen Vorstadthügel vom Aprilhimmel ab.

Oliver war ein Freund jeglicher Art menschlicher Tätigkeit, von allem, was danach aussah oder klang, und so horchte er jetzt aufmerksam und lächelte, in die klare Luft hinausstarrend, vor sich hin. Dann kehrte die gewöhnliche Entschlossenheit in seine Züge zurück, seine Finger berührten von neuem die Tasten und fuhren in der Vorbereitung der Rede fort.

Er hatte es mit der Lage seines Hauses sehr günstig getroffen. Es stand in dem Mittelpunkt eines jener kolossalen Spinngewebe, die das Land bedeckten, und hätte seinen Zwecken nicht besser entsprechen können. Es befand sich nahe genug bei London, um außerordentlich billig zu sein, – denn alle wohlhabenden Leute hatten sich wenigstens hundert Meilen weit von dem geräuschvoll pulsierenden Herzen Englands niedergelassen – und doch hätte er es sich nicht ruhiger wünschen können. Für einen nicht gerade sehr bemittelten Politiker, der heute in Edinburgh und morgen in Marseille sprechen sollte, wohnte wohl kaum ein Mann in Europa so günstig wie er.

Er war von angenehmem Äußeren, ein beginnender Dreißiger, mit schwarzem, straffem Haar, glattrasiert, mager, männlich, sympathisch, hatte blaue Augen und weißen Teint. Heute nun schien er mit sich selbst und der Welt ganz besonders zufrieden zu sein. Seine Lippen bewegten sich ab und zu während der Arbeit, seine Augen wurden bald größer, bald kleiner vor Erregung, und mehr als einmal hielt er inne, starrte hinaus, lächelte und errötete.

Eine Türe öffnete sich; ein Mann mittleren Alters trat etwas ängstlich mit einem Stoß Papiere herein, legte diese, ohne ein Wort zu sagen, auf den Tisch und wandle sich wieder der Türe zu. Oliver machte ihm mit der Hand ein Zeichen, nachdem er noch die letzte Taste gedrückt hatte.

»Nun, Mr. Phillips?« begann er.

»Es sind Nachrichten aus dem Osten eingegangen, Sir«, erwiderte der Sekretär.

»Irgendwelche vollständige Nachricht?« fragte Oliver.

»Nein, es gab wieder eine Unterbrechung; Mr. Felsenburghs Name wird genannt.«

Oliver schien es nicht gehört zu haben; er nahm die dünnen, bedruckten Blätter plötzlich auf und fing an, sie durchzusehen.

»Der vierte von oben, Mr. Brand«, sagte der Sekretär.

Oliver machte eine ungeduldige Bewegung, und wie auf ein gegebenes Zeichen verließ der andere das Zimmer.

Der vierte Bogen von oben, grün mit rotem Druck, schien Olivers volle Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen, denn zwei- oder dreimal las er ihn durch, während er regungslos in seinem Stuhl zurücklehnte. Dann seufzte er und ließ seinen Blick wieder durchs Fenster schweifen, als sich abermals die Türe öffnete und eine junge Dame von stattlicher Erscheinung eintrat.

»Nun, mein Lieber?« begann sie.

Oliver schüttelte den Kopf und biß die Lippen zusammen.

»Nichts Bestimmtes«, sagte er, »sogar weniger als sonst. Höre!«

Den grünen Bogen zur Hand nehmend, fing er an, laut zu lesen, während die junge Dame zu seiner Linken in einem Stuhl am Fenster Platz nahm. Sie war ein Geschöpf von ausnehmender Anmut, groß und schlank, mit ernsten, seelenvollen, grauen Augen, wohlgeformten Lippen und einer würdevollen Haltung in Kopf und Schultern. Sie schien mit einem wohlüberlegten Ausdruck der Geduld zuzuhören, aber aus ihren Augen sprach ein reges Interesse.

»Irkutsk, – 14. April. – Gestern – wie – gewöhnlich – aber – mutmaßlicher – Abfall – von Sufi – Partei. – Truppen – weiter – zusammenziehen. – Felsenburgh – Ansprache – Buddhisten – Menge. – Vorigen Freitag – Anschlag – auf – Llama – durch – Anarchisten. – Felsenburgh – abgereist – nach – Moskau – wie – verabredet, – er … So, das ist alles«, schloß Oliver ärgerlich. »Wie gewöhnlich, eine Unterbrechung.«

»Ich verstehe nicht das mindeste«, sagte sie, »wer ist eigentlich Felsenburgh?«

»Mein liebes Kind, das frägt man sich allgemein. Man weiß nur, daß er im letzten Moment der amerikanischen Abordnung beigegeben wurde. Der ›Herald‹ brachte vorige Woche seine Lebensbeschreibung, die aber als nicht den Tatsachen entsprechend bezeichnet wurde. Soviel ist gewiß, daß er noch sehr jung und bisher nie hervorgetreten ist.«

»Nun, jetzt ist er hervorgetreten.«

»Gewiß, es scheint, als wäre er der Macher der ganzen Sache. Von den anderen hört man nie ein Wort. Es ist ein Glück, daß er auf der richtigen Seite steht.«

»Und was ist deine Meinung?«

Oliver blickte wieder nachdenklich durch das Fenster. »Ich glaube, es ist ein Versteckspielen«, sagte er. »Das einzige Eigentümliche an der Sache ist nur, daß kaum jemand sie sich wirklich vorzustellen scheint. Sie übersteigt allem Vermuten nach jede Einbildungskraft. Daran ist nicht zu zweifeln, daß der Osten während der letzten fünf Jahre sich zu einem Einfall in Europa gerüstet hat. Nur durch Amerika wurde er davon zurückgehalten; es ist ein letzter Versuch, ihn wenigstens zu hemmen. Warum aber Felsenburgh sich vordrängt –« brach er ab. »Jedenfalls muß er ein guter Linguist sein. Dies ist wenigstens das fünftemal, daß er zu einer Menge spricht. Vielleicht ist er nur der amerikanische Dolmetscher. Gott! Ich möchte wissen, wer er ist.«

»Hat er noch einen anderen Namen?«

»Julian, glaube ich, eine Depesche sagte es.«

»Wie gelangte diese her?«

Oliver schüttelte den Kopf.

»Privatunternehmen«, sagte er. »Die europäischen Agenturen haben die Arbeit eingestellt. Jedes Telegraphenamt wird Tag und Nacht bewacht. Scharen von Flugschiffen kreuzen an jeder Grenze. Das Reich hat offenbar die Absicht, die Angelegenheit ohne uns zu ordnen.«

»Und wenn es schlimm geht?«

»Meine liebe Mabel – wenn die Hölle losbricht –« er machte eine abwehrende Bewegung.

»Und was tut die Regierung?«

»Man arbeitet Tag und Nacht; ebenso das übrige Europa; es wäre fürchterlich, wenn es zum Kriege käme.«

»Und siehst du keinen Ausweg?«

»Ich sehe zwei Wege«, antwortete Oliver langsam. »Entweder sie fürchten sich vor Amerika und überlegen es sich, das Feuer zu schüren, oder sie werden durch die Nächstenliebe dazu gebracht, ihre Hand zurückzuhalten; wenn man sie nur dazu bringen könnte, zu begreifen, daß im Zusammenarbeiten die einzige Hoffnung für die Welt liegt. Aber ihre verdammten Religionen –«

Die junge Frau seufzte und sah hinaus über das weite Dächermeer zu ihren Füßen.

Die Lage war in der Tat so ernst, als sie nur sein konnte. Jenes gewaltige Reich, bestehend aus einem Staatenbund unter der Leitung des Sohnes des Himmels – es war durch Verschmelzung der japanischen mit der chinesischen Dynastie und den Fall Rußlands entstanden – hatte seine Kräfte gefestigt und war sich seiner eigenen Macht während der letzten fünfunddreißig Jahre bewußt geworden, seitdem in der Tat es seine dürre gelbe Hand auf Australien und Indien gelegt hatte. Während die übrige Welt die Unvernunft des Kriegführens kennengelernt, hatte jene, nachdem die russische Republik dem vereinten Angriff der gelben Rasse unterlegen war, an sich gerissen, was ihr erreichbar war. Es lag außerdem etwas Grimmerregendes in dem Gerücht, daß religiöser Fanatismus die Triebfeder der Bewegung sei, und daß der so lange geduldige Osten sich endlich daran mache, durch die modernen Ausgleichsmittel von Feuer und Schwert diejenigen zu bekehren, die zum größten Teile jeden religiösen Glauben, außer den an die Menschheit, abgelegt hatten.

Für Oliver war die Sache einfach zum Verstandverlieren. Wenn er aus seinem Fenster herniederblickte und, soweit der Horizont reichte, dieses London so friedlich vor sich liegen sah, wenn seine Gedanken über Europa hinflogen und überall dem vollkommenen Triumph des Menschenverstandes und seiner Werke über die ungenießbaren Ammenmärchen des Christentums begegneten, da schien es ihm unerträglich, daß es auch nur eine Möglichkeit geben sollte, all das wieder zurückzuwerfen in das unmoderne, ja barbarische Gestreite der Sekten und Dogmen, denn nichts anderes als dieses würde die Folge sein, wenn der Osten seine Hand auch noch auf Europa legte. Diese Aussicht beunruhigte ihn in seinem Innersten weit mehr als der Gedanke an die physische Katastrophe und das Blutvergießen, das mit dem Heraufziehen des Ostens über Europa hereinbrechen mußte. Es gab nur eine Hoffnung, von religiöser Seite her, wie er Mabel dutzendmal auseinandergesetzt hatte, und sie bestand darin, daß es dem quietistischen Pantheismus, der im Verlaufe des letzten Jahrhunderts im Osten wie im Westen, unter Mohammedanern, Buddhisten, Hindus, unter den Anhängern des Konfuzius und anderer Religionen solche Riesenfortschritte gemacht hatte, gelingen würde, den religiösen Wahnsinn, von dem diese exoterischen Brüder des Ostens befallen waren, zu besiegen.

Die beiden Ehegatten waren in gewissem Sinne sehr weit entfernt von der dumpfen Trägheit, die man bei reinen Materialisten zu finden pflegt. Für sie pulsierte in der Welt ein einziges heißes, glühendes Leben, das, je nachdem, zu Blumen und Tieren und Menschen erblüht, ein Strom herrlicher Lebenskraft, der, einer tiefen Quelle entspringend, alles bewässert, was Bewegung und Gefühl in sich trägt. Diese Weltanschauung war um so bestechender, fand um so mehr Anklang, als sie den Sinnen derer verständlich war, die aus ihr geboren waren. Für Oliver und sein Weib erschien das abgelaufene Jahrhundert wie eine Offenbarung; immer mehr waren die alten, abergläubischen Vorstellungen abgebröckelt, immer weiter war das neue Licht gedrungen; der Geist der Welt war aufgegangen, die Sonne war im Westen versunken und nun – mit Schrecken und Abscheu mußten sie von neuem die Wolken sich zusammenziehen sehen, von dort, wo aller Aberglaube ausgegangen war.

Mabel stand plötzlich auf und kam zu ihrem Manne herüber.

»Mein Lieber«, sagte sie, »du mußt nicht verzagt sein; es wird auch das vorübergehen, wie alles andere vorübergegangen ist. Es ist schon sehr viel gewonnen, daß sie auf Amerika überhaupt hören, und dieser Mr. Felsenburgh scheint mit auf der richtigen Seite zu stehen.«

Oliver ergriff ihre Hand und küßte sie.

2.

Oliver schien während des Mittagstisches eine halbe Stunde später in sehr gedrückter Stimmung zu sein. Seine Mutter, eine alte Frau von nahezu achtzig Jahren, die sich nie vor Mittag sehen ließ, schien es sofort zu bemerken, denn, nachdem sie ihn ein paarmal angesehen und einige Worte mit ihm gewechselt, versank sie in Schweigen und widmete sich ihrem Teller.

Ein angenehmes, kleines Zimmer war es, in dem sie saßen, dicht hinter jenem Olivers und, dem allgemeinen Brauch zufolge, ganz in Grün gehalten. Die Fenster gingen auf einen kleinen Garten hinter dem Hause und auf die mit wildem Wein bewachsene Mauer, die dieses Besitztum von dem nächsten trennte. Auch die Möbel waren ganz dem allgemeinen Gebrauch entsprechend; ein bequemer, runder Tisch stand in der Mitte, um ihn drei hohe Lehnstühle mit heraufgeschlagenen Armstützen, während das Mittelstück desselben, auf einer runden Säule von ziemlichem Umfang ruhend, das Geschirr trug.

Mabel brach das Schweigen.

»Und deine Rede für morgen?« fragte sie, indem sie zu ihrer Gabel griff.

Oliver nahm einen etwas lebhafteren Ausdruck an und wurde gesprächiger.

Wie es schien, fing Birmingham an, unruhig zu werden. Von neuem erhob man die Forderung des Freihandels mit Amerika; man begnügte sich nicht mehr mit den innereuropäischen Verkehrserleichterungen, und es war Olivers Aufgabe, sie zu beruhigen.

»Dickköpfe sind sie«, sagte er ärgerlich, »hartnäckig und selbstsüchtig; sie sind wie die Kinder, die zehn Minuten vor Tisch noch nach dem Essen schreien; es wird ja unbedingt dazu kommen, wenn sie nur ein wenig Geduld haben wollten.«

»Und wirst du ihnen dieses sagen?«

»Daß sie Dickköpfe sind? Selbstverständlich!«

Mabel blickte ihren Gatten mit einem wohlgefälligen Lächeln an. Sie wußte nur zu gut, daß er seine Beliebtheit zum großen Teile seiner Offenherzigkeit verdankte: den Leuten gefiel es, sich von einem genialen, kühnen Manne, der in magnetischer Ereiferung vor ihnen herumsprang und gestikulierte, Scheltworte und Grobheiten sagen zu lassen.

»Wie wirst du hinfahren?« fragte sie.

»Flugschiff. Ich werde mit dem um achtzehn von Blackfriars abfahren; um neunzehn ist die Versammlung, und um einundzwanzig bin ich wieder zurück.«

Mabel begann leise mit den Fingern auf der Damastdecke zu trommeln.

»Sei so gut und beeile dich, mein Lieber«, sagte sie, »ich muß um fünfzehn Uhr in Brighton sein.«

Oliver schluckte den letzten Bissen hinab, schob seinen Teller in die Mitte der Tischplatte zurück, blickte umher, ob auch die übrigen Teller dort untergebracht seien und griff mit der Hand unter den Tisch.

Sofort und ohne Geräusch verschwand das Mittelstück, und die drei warteten mit der gewohnten Gleichgültigkeit, während das Klirren der Teller von unten heraufklang.

Die alte Mrs. Brand war eine rüstig aussehende Dame und trotz der Runzeln noch von frischer Gesichtsfarbe; sie trug eine auf dem Haupt befestigte Mantilla, wie sie etwa vor fünfzig Jahren Mode war; doch auch an ihr konnte man diesen Morgen eine gedrückte Stimmung bemerken. Die Vorspeise war nach ihrer Ansicht nicht recht gelungen, der neue Nährstoff nicht so gut wie der frühere, er war ein klein wenig sandig; nach Tisch wollte sie einmal danach sehen.

Da vernahm man wieder das Klirren, ein schwaches, schiebendes Geräusch, und das Mittelstück erschien wieder an seinem Platze, eine wunderbare Nachahmung eines Brathuhnes tragend. –

Oliver und seine Gattin befanden sich nach Tisch auf einige Minuten allein, ehe Mabel sich auf den Weg machte, um den vierzehneinhalb Uhr abgehenden Zug der zweiten Hauptlinie nach dem Kreuzungspunkt zu erreichen.

»Was ist denn mit Mutter?« sagte er.

»Ach, es ist wieder das Nährstoffpräparat; sie kann sich nicht daran gewöhnen, sie meint, es bekommt ihr nicht gut.«

»Weiter nichts?«

»Nein, Lieber, ich bin sicher, nichts weiter. Sie hat sonst kein Wort gesagt.«

Oliver blickte seiner Frau beruhigt nach, als sie den Pfad entlang ging. In letzter Zeit hatten ihm hier und da ein paar sonderbare Äußerungen seiner Mutter zu denken gegeben. Sie war während einiger Jahre im Christentum erzogen worden, und manchmal schien es ihm, als hätte dies einen Eindruck zurückgelassen. Sie hatte ein altes Gebetbuch, »Seelengarten«, das sie gern bei sich trug, obwohl sie immer mit einem Anschein von Geringschätzung protestierte, es sei nur Unsinn.

Oliver selbst war, soweit er nur zurückdenken konnte, stets ein heftiger Gegner aller Zugeständnisse an Rom und Irland gewesen. Es war unerträglich, daß diese beiden Gebiete endgültig jenen Narrheiten, jenem hinterlistigen Blödsinn preisgegeben sein sollten; waren sie doch Pflanzstätten des Aufruhrs, Pestbeulen auf dem Angesichte der Menschheit. Nie war er mit jenen einverstanden, welche meinten, es sei besser, daß all das Gift des Westens sich an einem Orte vereinigt finde, als daß es überall verstreut sei. Auf jeden Fall war es nun einmal da. Rom war gänzlich jenem alten Manne im weißen Talar überlasten und hatte dafür sämtliche Pfarrkirchen und Kathedralen in Tausch gegeben, und es galt als ausgemacht, daß mittelalterliche Finsternis dort unumschränkt herrschte. Und Irland hatte, nachdem es vor dreißig Jahren sich selbst zur eigenen Verwaltung überlasten worden war, sich für den Katholizismus erklärt und seine Arme dem Individualismus in seiner bösartigsten Form geöffnet. Komische Dinge aller Art ereigneten sich dort. Oliver hatte, belustigt und zugleich erbittert, von dort erfolgten neueren Erscheinungen einer in Blau gekleideten Frau gelesen, und daß, wo ihr Fuß geruht hatte, Kapellen errichtet worden waren. Einen weniger belustigenden Eindruck machte auf ihn Rom, denn durch Verlegung der italienischen Regierung nach Turin hatte die Republik beträchtlich an Gefühlswert verloren und dem alten Religionsschwindel neuerdings zu dem ganzen verlockenden Nimbus einer historischen Erscheinung verholfen. Immerhin, das war unverkennbar, konnte dieser Zustand nicht von langer Dauer sein; die Welt hatte endlich angefangen, zur Einsicht zu kommen.

Einige Augenblicke noch, nachdem seine Frau weggegangen war, stand er an der Türe, Beruhigung schöpfend aus dem herrlichen Anblick besten, was die Herrschaft gesunder Vernunft hier geschaffen und vor ihm niedergelegt hatte: die endlosen Dächerreihen, die hohen Glaskuppeln der öffentlichen Badeanstalten und Turnhallen, die mit Spitztürmen versehenen Schulen, in denen jeden Morgen das Bürgerrecht gelehrt wurde, die spinnenartigen Kräne und die Gerüste, die da und dort sich erhoben; selbst die wenigen Kirchtürme störten ihn in diesem Augenblick nicht. Da wogte er hin, im grauen Dunste Londons entschwindend, ein Bild wahrhaftiger Schönheit, dieser unermeßliche Strom von Männern und Frauen, die endlich die Grundlehre des Evangeliums begriffen hatten: es gibt keinen Gott außer dem Menschen, keinen anderen Priester als den Politiker, keinen anderen Propheten als den Schulmeister …

Dann machte er sich wieder an die Ausarbeitung seiner Rede. –

Auch Mabel war ein wenig nachdenklich, als sie mit ihrer Zeitung auf den Knien im Zuge nach Brighton saß. Diese Nachrichten aus dem Osten hatten sie mehr beunruhigt, als sie es vor ihrem Gatten hatte merken lassen; und doch schien es unglaublich, daß von der Gefahr einer Invasion wirklich die Rede sein könne. Hier im Westen war das Leben so vernünftig und ruhig; endlich hatte der Mensch sich hier auf festen Grund hinaufgearbeitet, und es war undenkbar, daß er je wieder in die Lehmhütten zurückgedrängt werden könnte; das wäre ja im direkten Gegensatz zu den Gesetzen der Entwicklung. Und doch mußte sie zugeben, daß Katastrophen in der Methode der Natur liegen …

Sie saß ganz ruhig, ein paarmal einen flüchtigen Blick auf die dürftigen, unzusammenhängenden Nachrichten werfend, um sich dann in den diese behandelnden Leitartikel zu vertiefen, der ebenfalls in Befürchtungen sich erging. Einige Herren im jenseitigen Halbabteil sprachen über denselben Gegenstand; einer beschrieb die von der Regierung betriebenen Maschinenfabriken, die er eben besucht hatte, und die fieberhafte Eile, mit der dort gearbeitet wurde, während seine Mitreisenden ihn mit Zwischenfragen bestürmten. Dort war also auch keine Ermutigung zu holen. Da erklang schon das große Signal, die schwache Vibration verstärkte sich ein wenig, einen Augenblick später sprangen die automatischen Türen zurück, und sie trat auf den Bahnsteig der Station Brighton hinaus.

Als sie die zum Bahnhofplatze führende Treppe hinabstieg, bemerkte sie einige Schritte vor sich einen Priester. Er schien ein sehr rüstiger und von den Jahren nicht gebeugter, alter Mann zu sein, denn trotz seines weißen Haares war sein Schritt fest und gleichmäßig. Sie blieb am Fuße der Treppe einen Augenblick stehen, und, halb zur Seite gewandt, sah sie zu ihrer Überraschung, daß sein Gesicht das eines jungen Mannes war, mit feinen, doch energischen Zügen, dunklen Augenbrauen und sehr lebhaften, grauen Augen. Dann schritt sie wieder voran und schlug, den Platz überschreitend, die Richtung nach dem Hause ihrer Tante ein.

Da geschah, ohne die geringste Warnung, ausgenommen einen schrillen Schrei von oben her, eine Folge von Ereignissen.

Ein großer Schatten wirbelte durch das Sonnenlicht nieder, ein Ton des Zerberstens erschütterte die Luft, dann folgte ein Laut wie das Ächzen eines Riesen, und während sie entsetzt und verwirrt dastand, krachte ein ungeheurer Gegenstand mit dem Getöse von tausend berstenden Kesseln auf das Kautschukpflaster vor ihr nieder, der, den halben Platz bedeckend, liegen blieb, mit den langen, an seiner oberen Seite befindlichen Schwingen blätternd und schlagend, einem verendenden, grausigen, beflügelten Untiere gleich, menschliche Schreie ausstoßend und fast sofort beginnend, in gebrochener Lebenskraft einherzukriechen.

Mabel wußte kaum mehr, was nun geschah; aber einen Augenblick später ward sie durch einen heftigen Druck von rückwärts nach vorn gedrängt, bis sie, vom Kopf bis zu den Füßen zitternd, vor einer formlosen Masse, dem zermalmten, stöhnenden und sich windenden Körper eines zu ihren Füßen liegenden Mannes stand. Etwas wie artikulierte Laute stieß er aus; sie unterschied deutlich die Namen: Jesus und Maria.

»Lassen Sie mich durch, ich bin ein Priester«, drang es plötzlich an ihr Ohr.

Einen Augenblick stand sie still, betäubt durch die Plötzlichkeit all dieser Dinge, und beobachtete beinahe verständnislos den grauhaarigen jungen Priester, der, auf den Knien liegend, dem geöffneten Überrocke ein Kruzifix entnommen hatte. Sie sah ihn sich tief niederbeugen, mit der Hand ein kurzes Zeichen machen und hörte ihn in einer ihr unbekannten Sprache murmeln. Dann stand er wieder auf, das Kruzifix hochhaltend, und sie sah, wie er sich voran bewegte nach der Mitte des in Blut schwimmenden Platzes, da und dorthin, wie nach einem bestimmten Zeichen ausschauend. Jetzt kamen über die Treppen des großen, zu ihrer Rechten gelegenen Hospitals Leute herabgerannt, ohne Hut, und ein jeder einen, einer altmodischen Handkamera ähnlichen Gegenstand tragend. Sie wußte, wer diese Männer waren, und ihr Herz schlug erleichtert; es waren Sanitätsdiener, die den Verunglückten den Tod erleichtern sollten. Dann fühlte sie sich bei den Schultern gepackt und zurückgestoßen und fand sich sofort wieder in der vordersten Reihe einer hin- und herschwankenden, schreienden Menge und hinter einer Kette, die sich aus Polizisten und Zivilisten gebildet hatte, um den Andrang abzuwehren.

3.

Oliver war von einem panischen Schrecken befallen, als seine Mutter eine halbe Stunde darauf mit der Nachricht hereinstürzte, eines der Regierungsflugschiffe sei eben, als der Vierzehneinhalb-Uhr-Zug seine Passagiere in Brighton abgesetzt hatte, auf den Bahnhofsplatz herabgestürzt. Das bedeutete, daß jedes darauf befindliche lebende Wesen getötet war und wahrscheinlich noch viele andere, die sich auf dem Platze, auf den es gestürzt war, befunden hatten, – und was dann? Der Bericht war nur zu klar: sie mußte um diese Zeit auf dem Platze gewesen sein.

Er sandte eine verzweifelte Depesche an ihre Tante und wartete, auf seinem Stuhl hin- und herrückend, auf die Antwort. Seine Mutter saß bei ihm.

»Gebe Gott –« schluchzte sie auf und hielt verlegen inne, als er sich plötzlich nach ihr wandte.

Aber das Schicksal war gnädig gewesen, und drei Minuten, bevor Mr. Phillips mit der Antwort den Pfad entlanghumpelte, trat Mabel selbst ins Zimmer, ziemlich blaß und lächelnd.

»Himmel!« rief Oliver, tief aufatmend, während er aufsprang.

Sie hatte ihm nicht viel zu erzählen; es war noch keine Erklärung des Unglückes veröffentlicht.

Sie beschrieb den Schatten, das Zischen und den Krach des Falles. Dann stockte sie.

»Nun, meine Liebe?« fragte ihr Gatte, dessen Wangen noch von einer ziemlichen Blässe bedeckt waren, während er sich nahe zu ihr heransetzte und ihre Hand streichelte.

»Es war ein Priester dabei«, sagte Mabel, »ich sah ihn schon vorher auf der Station.«

Oliver konnte sich eines etwas krampfhaften Lachens nicht enthalten.

»Er lag mit seinem Kruzifix sofort auf den Knien«, fuhr sie fort, »noch ehe die Ärzte erschienen. Sag' mir einmal, mein Lieber, glauben die Leute tatsächlich alles dieses?«

»Warum nicht? Sie denken wenigstens, es zu glauben«, sagte Oliver.

»Es kam alles so – so plötzlich, und er stand da, wie wenn er alles erwartet hätte. Oliver, wie können sie nur?«

»Weshalb? Die Leute werden an alles glauben, wenn sie nur frühzeitig damit beginnen.«

»Und der Mann schien ebenfalls daran zu glauben, – der Sterbende, meine ich. Ich sah es in seinen Augen.«

Sie stockte.

»Nun, meine Liebe?«

»Oliver, was würdest du einem Sterbenden sagen?«

»Sagen? Nichts, natürlich! Was könnte ich sagen? Aber ich glaube nicht, daß ich jemals jemanden sterben sah.«

»Auch ich nicht, bis heute«, sagte die junge Dame und schauderte ein wenig. »Die Euthanasialeute waren bald an der Arbeit.«

Oliver nahm sie sanft bei der Hand.

»Mein Liebling, es mußte entsetzlich gewesen sein. Wie, du zitterst ja immer noch?«

»Nein, aber höre einmal … Weißt du, wenn ich irgend etwas hätte sagen sollen, hätte ich es auch tun können. Sie lagen alle gerade vor mir, ich war verwirrt; dann aber wußte ich, daß ich nichts zu sagen hatte. Ich hätte doch nicht gut von Humanität sprechen können.

»Meine Liebe, es ist ja bedauerlich, aber du weißt, es liegt wirklich nicht viel daran. Es ist ja alles schon vorüber.«

»Und – und sie haben sogleich ein Ende gemacht?«

»Freilich, ja!«

Mabel preßte ihre Lippen ein wenig zusammen, denen ein schwerer Seufzer entfuhr. Eine Art innerer Unruhe, die sie nachdenklich machte, war während der Rückfahrt über sie gekommen. Sie wußte bestimmt, es waren nur die Nerven, aber sie konnte derselben noch nicht Herr werden. Es war, wie sie gesagt, das erstemal, daß sie den Tod gesehen hatte.

»Und jener Priester – jener Priester denkt auch so?«

»Meine Liebe, laß dir sagen, was er glaubt. Er glaubt, daß der Mann, dem er das Kruzifix vorgehalten und über den er jene Worte gesprochen hat, nun irgendwo anders lebt, obwohl sein Gehirn tot ist; er weiß nicht ganz sicher wo, aber entweder ist er in einer Art Hochofen, um langsam verbrannt zu werden, oder, wenn er Glück gehabt und jenes Stück Holz seine Wirkung getan hat, irgendwo über den Wolken vor drei Personen, die aber nur eins sind, obwohl es drei sind; er glaubt, daß dort noch eine große Menge andrer Leute sind, ferner eine in Blau gekleidete Frau, viele andere in Weiß, welche ihren Kopf unter dem Arm tragen, und viele andere mit zur Seite geneigtem Haupte, und daß sie alle Harfen haben und immerfort singen und auf den Wolken wandeln, was ihnen viel Vergnügen macht. Wie du weißt, ist das nicht sehr wahrscheinlich; derartige Dinge mögen ja ganz hübsch sein, wahr sind sie nicht.«

Mabel lächelte. Sie hatte nie eine so gute Auslegung gehört.

»Nein, Liebster, du hast ganz recht. Dergleichen Dinge sind nicht wahr. Wie kann er nur daran glauben? Er sah doch so intelligent aus.«

»Liebes Kind, wenn ich dir, als du noch in der Wiege lagst, erzählt hätte, der Mond sei nichts weiter als frischer Käse, und dir das jeden Tag von früh bis abends eingebleut hätte, so würdest du es jetzt wohl beinahe glauben. Übrigens bist du ja selbst überzeugt, daran zweifle ich keinen Augenblick, daß die Euthanasier die wahren Priester sind.«

Mabel atmete befriedigt auf und erhob sich.

»Oliver, du verstehst es wirklich, einen zu trösten. Ich habe dich sehr lieb. So, und nun muß ich in mein Zimmer gehen, ich zittere immer noch.« –

In der Mitte des Zimmers hielt sie an und sah auf einen ihrer Schuhe.

»Wie –«, bemerkte sie leise.

Ein sonderbarer, rostfarbener Fleck war darauf, und ihr Gatte bemerkte, daß sie erbleichte. Er stand hastig auf.

»Meine Liebe«, sagte er, »sei nicht töricht.«

Sie sah ruhig lächelnd zu ihm auf und verließ das Zimmer.

Nachdem sie gegangen war, blieb er noch einen Augenblick ruhig sitzen. Wie glücklich er doch war! Er konnte sich das Leben ohne sie gar nicht vorstellen. Vor sieben Jahren – sie war damals zwölf Jahre alt – hatte er sie kennengelernt, und voriges Jahr waren sie zusammen zum Standesbeamten gegangen, um den Ehebund zu schließen. Sie war ihm wirklich unentbehrlich geworden. Freilich hätten die Welt und er auch ohne sie fortbestehen können, aber es wäre ihm doch nicht lieb gewesen, es versuchen zu müssen. Ja, mehr als glücklich war er, daß sie durch einen gütigen Zufall dem herabstürzenden Flugschiff entkommen war.

Über seine Darlegung des christlichen Glaubens machte er sich keine Gedanken mehr; für ihn galt es als ausgemacht, daß Katholiken diese Art Dinge glaubten; sie so darzustellen, wie er getan hatte, kam ihm ebensowenig blasphemisch vor, als wenn man über einen Fidschigötzen mit Perlmutteraugen und einer Perücke aus Pferdehaaren lachen würde; es war einfach unmöglich, dabei Ernst zu bewahren. Es war auch wieder dieses abscheuliche Ding, dieses Christentum, welches so lange das Umsichgreifen der Bewegung zugunsten der Euthanasia mit all ihren so wohltätigen Folgen gehemmt hatte.

Seine Augenbrauen zogen sich zu einer Falte zusammen bei dem Gedanken an den Ausruf seiner Mutter: »Gebe Gott!« Er lächelte über die arme, alte Frau mit ihrem pathetisch-kindischen Wesen und wandte sich wieder seinem Schreibtische zu. Unwillkürlich kehrten seine Gedanken zu Mabel zurück, zu ihrem Erbleichen, als sie des Blutfleckens auf ihrem Schuh gewahr geworden war. Ja, es war eine Tatsache, die sich nicht leugnen ließ. Wie sollte man sie erklären? Wohl am einfachsten durch den erhabenen Glauben an die Menschheit, an diesen wundervollen Gott, der an die zehntausendmal im Tage starb und auferstand, der täglich gestorben war, seitdem die Welt bestand, wie einst jener alte, verrückte Fanatiker Saulus von Tarsus, und sich wieder erhob, nicht nur einmal, wie der Sohn jenes Zimmermanns, sondern mit jedem Kinde, das neu zur Welt kam. Das war die Antwort; und war sie etwa nicht überwältigend erschöpfend?

Eine halbe Stunde später trat Mr. Phillips ein, wieder mit einem Bündel Papiere.

»Keine weiteren Nachrichten aus dem Osten?« fragte er ihn.


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