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Zweites Kapitel

1.

Um dreiundzwanzig Uhr dieses Abends ging der syrische Priester hinaus, um nach dem Boten von Tiberias auszuschauen. Vor ungefähr zwei Stunden hatte er das Signal des Flugschiffes gehört, das zwischen Damaskus, Tiberias und Jerusalem verkehrte, und es schien, daß der Bote sich heute ein wenig verspätet habe.

Man hatte hier noch sehr primitive Verhältnisse, aber Palästina lag eben außerhalb der Welt – ein Strich nutzlosen Landes – und ein Mann mußte jede Nacht mit den Papieren von Kardinal Corkran für den Papst von Tiberias nach Nazareth herüberreiten und die Korrespondenz zurückbringen. Es war eine gefährliche Aufgabe und die Mitglieder des neuen Ordens aus der Umgebung des Kardinals übernahmen sie abwechselnd. Auf diese Weise konnte alles, was des Papstes persönliche Kenntnisnahme und etwas mehr Zeit erforderte und auch nicht gerade dringend war, von diesem mit Muße erledigt und nach vierundzwanzig Stunden die Antwort zurückgesandt werden.

Es war eine herrliche, mondhelle Nacht. Die große, goldene Scheibe stand hoch über dem Tabor und goß ihr seltsames metallisches Licht über die langgestreckten Abläufe und über das moorgleiche Land, das in sanfter Steigung vor dem Hause sich ausdehnte, und warf seine schweren, schwarzen Schatten, die weit konkreter und solider erschienen als die leuchtenden, bleichen Flächen der Felsen oder selbst der diamantene Schimmer von Quarz und Kristall, der hier und da von dem steinigen Pfade aufblitzte. Und der Priester, an den Türpfosten gelehnt, mit leuchtenden Augen in dem dunklen Gesicht, sank endlich nieder, um mit einer Art orientalischer Empfänglichkeit sich an dieser Herrlichkeit zu laben, und seine dürren, braunen Hände nach ihr auszustrecken.

Er war ein sehr einfacher Mann, in seinem Glauben sowohl, als auch in seinem Leben. Für ihn gab es weder die Ekstasen, noch die Trostlosigkeit seines Herrn. Es war eine außerordentliche und hohe Freude für ihn, hier an dem Orte der Menschwerdung Gottes und im Dienste von dessen Statthalter zu leben. Er betrachtete die Vorgänge der Welt wie ein Mann von einem Schiffe aus das Steigen und Fallen der Wogen weit unter sich beobachtet. Es war natürlich, daß die Welt ruhelos war. Und was das Ende betraf, so beunruhigte es ihn nicht besonders. Es konnte wohl der Fall eintreten, daß das Schiff umschlug, aber der Augenblick der Katastrophe würde zugleich das Ende aller irdischen Dinge sein. Die Pforten der Hölle werden es nicht überwältigen; wenn Rom fällt, fällt auch die Welt, und wenn die Welt zu Fall kommt, dann erscheint Christus in seiner Macht. Seinem Dafürhalten nach war das Ende nicht mehr fern. Als er diesen Nachmittag von Megiddo gesprochen hatte, hatte er daran gedacht; ihm erschien es nur natürlich, daß am Ende der Zeiten der Statthalter Christi dort zu wohnen hatte, wo sein König zur Welt gekommen war, und daß der Zufluchtsort des Heiligen Vaters im Angesichte des Ortes liegen müsse, wo Christus zuerst sein weltliches Zepter ergriffen hatte und es wieder ergreifen würde. Es würde übrigens nicht die erste Schlacht sein, die bei Megiddo geschlagen wurde: Israel und Amalek hatten sich hier getroffen; Israel und Assyrien. Sesostris und Senacherib waren hier geritten, Christen und Türken hatten hier miteinander gekämpft gleich Michael und Satan, über dem Orte, an dem einst der Leib des Gottmenschen ruhte. Hinsichtlich der Art, wie dies Ende sich vollziehen würde, hatte er keine klare Meinung; es würde wohl eine Schlacht irgend einer Art sein, und welches Schlachtfeld konnte dazu mit größerer Berechtigung bestimmt werden, als diese mächtige, flache, abgerundete Ebene von Jezrael mit ihrem Durchmesser von zwanzig Meilen, groß genug, um sämtliche Armeen der Erde zu umspannen? Für ihn, der mit dem gegenwärtigen Stand der Dinge unbekannt war, war die Welt in zwei große Heerlager geteilt, Christen und Heiden, und er hielt sie beide für gleich umfangreich. Etwas würde geschehen, Truppen würden vielleicht in Khaifa landen, sie würden sich von Tiberias, Damaskus und dem fernen Asien her südwärts ergießen, von Jerusalem, Ägypten und Afrika nach Norden; nach Osten von Europa herüber und westlich wiederum von Asien und den beiden fernen Amerika. Und die Zeit konnte sicherlich auch nicht mehr fern sein, denn hier war bereits der Stellvertreter Christi, und wie dieser selbst in seinem Adventevangelium gesagt hatte: Ubicumque fuerit corpus, illic congregabuntur et aquilae.

Eine tiefere Auslegung der Weissagung ging ihm ab. Für ihn waren Worte Dinge, nicht nur Aufschriften für Ideen. Für diesen Mann, der da im Mondlicht saß und dem fernen Hufschlage des über die Hügel von Kana heraufkommenden Boten lauschte, war der Glaube so einfach wie eine exakte Wissenschaft. Hier war auf weit ausgebreiteten Federflügeln der Erzengel Gabriel vom Throne Gottes, der über den Sternen sich befand, herabgestiegen, der Heilige Geist hatte in einem Strahle unbeschreiblichen Lichtes sich geäußert, das Wort war Fleisch geworden, während Maria die Hände faltete und ihr Haupt senkte vor dem Beschlusse des Ewigen. Und hier setzte wiederum, so dachte er, obwohl es nicht mehr als eine bloße Vermutung war – und doch glaubte er bereits das Rasseln der Streitwagen zu hören, den Lärm der Feinde Gottes, die sich um das Feld der Heiligen zusammenzogen –, hinter den Schranken der Finsternis bereits der Erzengel Gabriel die Trompete des Gerichtes an die Lippen, und der Himmel war in Bewegung. Er mochte sich diesmal täuschen, wie andere sich schon früher getäuscht hatten; doch weder diese, noch er selbst, konnten sich ein für allemal getäuscht haben, es mußte der Tag kommen, an dem die Geduld Gottes ihr Ende erreichte, auch wenn diese Geduld der Ewigkeit seiner Natur entsprang.

Er stand auf, als auf dem vom Monde hell erleuchteten Pfade in einer Entfernung von hundert Metern die helle Gestalt eines Reiters mit einer am Gurt festgeschnallten Ledertasche erschien.

2.

Es mochte ungefähr drei Uhr morgens sein, als der Priester in seinem kleinen, aus Lehmwänden bestehenden und neben dem des Heiligen Vaters gelegenen Zimmer erwachte und Schritte die Treppe herabkommen hörte. Er hatte gestern abends seinen Herrn verlassen, als dieser, wie gewöhnlich, den Stoß der von Kardinal Corkran angekommenen Briefe zu öffnen begann und war selbst sofort zu Bett gegangen und eingeschlafen. Er lag noch schlaftrunken einige Augenblicke und lauschte den Schritten, um eine Sekunde später sich rasch aufzusetzen, denn ein Schlag ertönte an seiner Türe. Noch ein Schlag, er sprang in seiner langen Nachttunika vom Lager, raffte sie hastig in seinen Gürtel auf, ging zur Türe und öffnete.

Der Papst stand vor ihm mit einer kleinen Lampe in der einen und ein Stück Papier in der anderen Hand – der Morgen begann erst schwach zu dämmern.

»Entschuldigen Sie, Father, aber hier ist eine Mitteilung, die sofort an Seine Eminenz abgehen muß.«

Sie durchschritten miteinander das Zimmer des Papstes, der Priester noch halb blind vom Schlaf, stiegen die Treppen hinan und traten auf das Dach in die kalte Morgenluft hinaus. Der Papst blies die Lampe aus und stellte sie auf die das Geländer bildende Mauer.

»Es wird Ihnen zu kalt werden, Father; holen Sie Ihren Mantel.«

»Und Sie, Heiligkeit?«

Dieser machte eine kurze, abwehrende Bewegung und trat zu dem kleinen Schutzdach, unter dem sich der Apparat für drahtlose Telegraphie befand.

»Holen Sie Ihren Mantel, Father«, wiederholte er über die Schulter zurück, »ich will inzwischen anläuten.«

Als der Priester nach drei Minuten in Pantoffeln und Mantel, einen zweiten Mantel für seinen Herrn über dem Arme, zurückkehrte, saß der Papst noch am Tische. Er bewegte nicht einmal das Haupt, als jener kam, sondern drückte nochmals auf den Hebel, der mit dem vier Meter hohen, aus dem Schutzdache herausragenden Maste den zitternden Strom durch die achtzig Meilen klarer Luft sandte, die zwischen Nazareth und Damaskus lagen. Der einfache Priester hatte sich selbst jetzt noch nicht ganz an diese außerordentliche Erfindung gewöhnt, die vor einem Jahrhundert gemacht und im Verlaufe all der Jahre bis zu dieser präzisen Genauigkeit vervollkommnet worden war – jene Erfindung, durch welche mit Hilfe einer Stange, eines Bündels Draht und eines Kistchens mit Spulen darin, etwas, das allen Dingen, wenn nicht sogar dem physischen Leben als zugrunde liegend, endlich festgestellt worden war, durch den Wellenraum sprach, hin zu einem winzigen Empfänger, der, bis zu dem Hauche eines Haares auf seine Vibration abgestimmt, damit in Verbindung stand.

Die Luft war überraschend kalt, wenn man die Hitze bedachte, die ihr vorangegangen war und wieder folgen würde, und der Priester fröstelte ein wenig, als er auf dem freien Dache stand und bald nach der regungslosen Figur im Stuhle vor ihm, bald nach der weiten Wölbung des eben jetzt aus einer kalten, farblosen Helle in einen zarten, gelben Ton übergehenden Himmels blickte, mit dem nun über dem Tabor und Moab der Tag anzubrechen begann. Aus dem Dorfe, eine halbe Meile weit weg, drang das Krähen eines Hahnes herüber, dünn und metallisch wie eine Trompete; ein Hund bellte und verstummte wieder, und dann brachte ein kurzer Schlag an einer im Dache angebrachten Glocke ihn plötzlich zur Wirklichkeit und zum Bewußtsein zurück, daß er seine Arbeit zu beginnen habe.

Der Papst drückte bei dem Glockenschlage nochmals die Taste, noch zweimal und dann nach einer Pause von neuem, wartete einen Moment auf die Antwort, stand dann, als dieselbe kam, auf und bedeutete dem Priester, seinen Platz einzunehmen.

Der Syrer setzte sich, nachdem er den zweiten Mantel seinem Herrn gereicht, und wartete, bis dieser sich in seinem Stuhle zurecht gesetzt hatte, und zwar so, daß jeder das Gesicht des anderen sah. Dann harrte er, die braunen Finger auf der Tastenreihe, und blickte sein Gegenüber an, das sich anschickte zu sprechen. Dieses Gesicht, dachte er, dort in der Kapuze schien in diesem kalten Dämmerlichte bleicher als je; die dunklen, gewölbten Augenbrauen hoben diesen Eindruck noch mehr hervor, und selbst die regelmäßigen Lippen, die im Begriffe waren, zu sprechen, schienen weiß und blutleer. Er hatte sein Papier in der Hand und seine Augen darauf geheftet.

»Versichern Sie sich, ob es der Kardinal ist«, sagte er kurz.

Der Priester fragte an und las die gedruckte Antwort ab, die sich wie von Zauberhand auf den großen, weißen Bogen Papiers vor ihm schrieb.

»Es ist Se. Eminenz, Heiligkeit«, sagte er sanft, »er ist allein am Apparat.«

»Sehr gut. Beginnen wir also.«

»Wir erhielten den Brief Ew. Eminenz und haben die Mitteilungen zur Kenntnis genommen … Sie hätten auf telegraphischem Wege übermittelt werden sollen – warum ist dies nicht geschehen?«

Die Stimme setzte ab, und der Priester, der die Depesche rascher abgesandt, als ein Mensch sie hätte niederschreiben können, las laut die Antwort.

»Ich wußte nicht, daß es dringend war. Ich dachte, es handle sich nur um einen weiteren Ansturm; ich beabsichtigte, sobald ich Näheres erfahren, es mitzuteilen.«

»Natürlich war die Sache dringend«, fuhr die Stimme fort in dem bestimmten Tone, der im Falle von zu übermittelnden Mitteilungen zwischen diesen beiden üblich war. »Merken Sie sich, daß alle Nachrichten dieser Art dringend sind.«

»Ich werde es in Zukunft beachten«, las der Priester, »ich bedauere meinen Fehler.«

»Sie sagen Uns«, fuhr der Papst fort, das Auge nicht von seinem Papier erhebend, »daß diese Maßregel bereits beschlossen sei; Sie nennen Uns nur drei Gewährsmänner. Geben Sie Mir alle an, wenn Sie nun deren mehr haben.«

Es folgte eine kurze Pause. Dann begann der Priester die Namen herabzulesen.

»Außer den drei Kardinälen, deren Namen ich schriftlich mitteilte, haben die Erzbischöfe von Tibet, Kairo, Kalkutta und Sydney angefragt, ob die Nachricht auf Wahrheit beruhe, und um Verhaltungsmaßregeln gebeten, falls dies zutreffe. Weitere Namen könnte ich angeben, wenn ich den Tisch auf einen Augenblick verlassen darf.«

»Tun Sie es«, sagte der Papst.

Wieder herrschte Schweigen, dann folgten die weiteren Namen.

»Die Bischöfe von Bukarest, den Marquesasinseln und Newfoundland, die Franziskaner in Japan, die Trinitarier in Marokko, die Erzbischöfe von Manitoba und Portland und der Kardinalerzbischof von Peking. Ich habe zwei Mitglieder vom Orden Christi des Gekreuzigten nach England abgesandt.«

»Sagen Sie Uns, wann und wie die erste Nachricht ankam.«

»Ich wurde gestern abend gegen zwanzig Uhr angerufen. Der Erzbischof von Sydney fragte durch unsere Station in Bombay an, ob die Meldung auf Wahrheit beruhe. Ich erwiderte, ich wüßte davon noch nichts. Innerhalb zehn Minuten kamen vier weitere Anfragen gleichen Inhaltes und drei Minuten später sandte Kardinal Ruspoli die positive Meldung von Turin. Diese war begleitet von einer ähnlich lautenden von Father Petrovski in Moskau. Dann –«

»Halt! Weshalb meldete sich Kardinal Dolgorovski nicht?«

»Er tat dies drei Stunden später.«

»Warum nicht sofort?«

»Seine Eminenz hatte die Mitteilung nicht eher vernommen.«

»Stellen Sie fest, um welche Stunde die Nachricht in Moskau eintraf – nicht jetzt – im Laufe des Tages.«

»Soll geschehen.«

»Also weiter.«

»Kardinal Malpas meldete sie fünf Minuten nach Kardinal Ruspoli, und die übrigen Anfragen kamen noch vor Mitternacht. China meldete sie um dreiundzwanzig.«

»Und wann vermuten Sie, daß die Sache bekanntgegeben wurde?«

»Sie wurde zuerst in der geheimen Konferenz in London beschlossen, gestern, um ungefähr sechzehn Uhr nach unserer Zeit. Die Bevollmächtigten scheinen um diese Stunde unterzeichnet zu haben. Danach wurde die Welt davon in Kenntnis gesetzt. Hier wurde sie eine halbe Stunde nach Mitternacht bekanntgegeben.«

»Felsenburgh war somit in London?«

»Ich bin dessen noch nicht sicher. Kardinal Malpas sagte mir, Felsenburgh habe seine vorläufige Zustimmung bereits am vorhergehenden Tage gegeben.«

»Sehr gut. Das ist alles, was Sie wissen?«

»Ich wurde vor einer Stunde nochmals von Kardinal Ruspoli angerufen. Er sagte mir, er fürchte einen Aufstand in Florenz; es wird dies die erste von vielen weiteren Revolutionen sein, meint er.«

»Wünschte er sonst nichts?«

»Nur Verhaltungsmaßregeln.«

»Sagen Sie ihm, Wir senden ihm den Apostolischen Segen und werden innerhalb zwei Stunden Verhaltungsmaßregeln geben. Wählen Sie zu sofortiger Dienstleistung zwölf Ordensmitglieder aus.«

»Wird geschehen.«

»Übermitteln Sie diese Nachricht, sobald Wir geendet haben, dem gesamten Heiligen Kollegium und beauftragen Sie es, dieselbe mit aller Vorsicht allen Metropoliten und Bischöfen mitzuteilen, damit Priester und Volk wissen, daß Wir sie in Unserem Herzen eingeschlossen haben.«

»Soll geschehen, Heiligkeit.«

»Sagen Sie ihnen endlich, daß Wir dies längst vorhergesehen haben; daß Wir sie alle dem ewigen Vater empfehlen, ohne dessen Vorsehung kein Sperling vom Dache fällt. Sagen Sie ihnen, sie sollen ihre Ruhe und ihr Vertrauen bewahren, und, wenn sie gefragt werden, nichts tun, als ihren Glauben bekennen. Alles weitere werde ihren Oberhirten alsbald bekanntgegeben werden.«

»Es soll geschehen, Heiligkeit.«

Wieder trat Stille ein.

Der Papst hatte mit der äußersten Ruhe gesprochen, wie jemand, der im Traum spricht. Seine Augen ruhten auf dem Papiere, sein ganzer Körper war bewegungslos wie eine Bildsäule. Dennoch schien es dem lauschenden Priester, der die lateinischen Depeschen absandte und laut die Antworten verlas, als ob, wenn er auch noch so wenig von den Dingen verstanden hatte, irgend etwas sehr Merkwürdiges und Großes bevorstehe. Es lag etwas wie eine besondere Spannung in der Luft, und obwohl er keine Schlüsse aus der Tatsache zog, daß anscheinend der ganze katholische Erdkreis in fieberhafter Verbindung mit Damaskus stand, so erinnerte er sich doch seiner Betrachtungen vom Abend vorher, als er auf den Boten gewartet hatte.

Es schien, als erwogen die Mächte dieser Welt einen weiteren Schritt – über dessen Natur machte er sich vorläufig keine Gedanken.

Der Papst fuhr in seinem natürlichen Tone fort.

»Father«, sagte er, »was ich jetzt sagen werde, ist wie unter dem Beichtsiegel gesprochen. Sie verstehen? – Sehr gut. Fahren Sie fort.«

Und die Stimme diktierte weiter.

»Eminenz, in einer Stunde von diesem Augenblicke an gerechnet, werden Wir die Messe vom Heiligen Geist lesen. Bis dahin werden Sie veranlassen, daß das gesamte Kollegium mit Ihnen verbunden ist und dann auf weitere Befehle warten. Diese neue Maßregel ist etwas anderes als all die vorhergehenden. Ich bin überzeugt, Sie sehen das bereits selbst ein. Zwei oder drei Pläne haben Wir erwogen, doch sind Wir noch nicht sicher, welches derjenige ist, der dem Herrn gefällt. Nach der Messe werden Wir Ihnen jenen mitteilen, welchen er uns als seinem Willen entsprechend zeigen wird. Wir fordern Sie auf, ebenfalls sofort die heilige Messe nach Unserer Meinung zu lesen. Was immer zu geschehen hat, es muß schnell geschehen. Die Sache mit Kardinal Dolgorovski mögen Sie für später lassen. Doch wünschen Wir das Resultat Ihrer Erkundigungen, besonders in England, vor Mittag zu erfahren. Benedicat te Omnipotens Deus, Pater et Filius et Spiritus Sanctus.«

» Amen!« murmelte der Priester, vom Blatte ablesend.

3.

Die kleine Kapelle im Hause unten unterschied sich in fast nichts von den anderen Räumen. An Schmuck war außer dem absolut Notwendigen, außer dem, was ihr Zweck als Andachtsstätte und die Liturgie erforderten, nichts vorhanden. In dem Verputz der Wände waren in schwachem Relief die vierzehn Kreuzwegstationen eingedrückt, eine kleine, steinerne Statue der Mutter Gottes stand in einer Ecke mit einem schmiedeeisernen Leuchter davor und auf dem soliden, schmucklosen Steinaltare, der sich über einer Steinstufe erhob, standen sechs weitere eiserne Leuchter und ein ebensolches Kruzifix. Ein Tabernakel, gleichfalls aus Eisen und mit leinenen Vorhängen versehen, befand sich unter dem Kreuze, und eine kleine, aus der Wand herausragende Steinplatte diente als Kredenz. Es gab nur ein Fenster, und zwar nach dem Hofe hinaus, so daß es dem Auge Unberufener unmöglich war, einzudringen.

Dem syrischen Priester kam es vor, als er seine Obliegenheiten verrichtete, als ob ihm selbst diese unbedeutende Arbeit schwer falle. Es lag etwas wie ein Druck in der Luft. Wie weit dies die Folge seiner unterbrochenen Nachtruhe war, konnte er nicht entscheiden, doch fürchtete er, daß der kommende Tag wieder Schirokko brächte. Jene gelbliche Färbung bei Tagesanbruch war auch nach Sonnenaufgang nicht vergangen, und während er müßig und mit bloßen Füßen zwischen der Altarstufe und dem Betschemel, auf dem regungslos die weiße Gestalt kniete, hin- und herging, warf er ab und zu einen Blick über das Dach jenseits des kleinen Hofes auf den matten, sandfarbigen Himmel, den Vorboten von Hitze und Schwüle.

Endlich war er fertig, zündete die Kerzen an, beugte das Knie und stand, gesenkten Hauptes harrend, daß der Heilige Vater sich von den Knien erhebe. Die Schritte eines der Diener, der herüberkam, die Messe zu hören, ertönten im Hofe, und gleichzeitig erhob sich der Papst und schritt der Sakristei zu, wo die roten Gewänder für das Opfer bereit lagen.

Silvesters Verhalten bei der Messe war gänzlich unauffällig. Seine Bewegungen waren so rasch, wie die eines jungen Priesters, seine Stimme ebenso gleichmäßig wie leise, und sein Schritt weder eilig noch feierlich. Der Tradition entsprechend brauchte er eine halbe Stunde ab amictu ad amictum; und selbst in der winzigen leeren Kapelle hielt er daran fest, die Augen stets gesenkt zu halten. Und dennoch diente der Priester niemals seiner Messe, ohne einen Schauer, etwas wie Furcht, zu empfinden; es war nicht nur der Gedanke an die furchtbare Würde dieses einfachen Zelebranten, sondern es war, wenn er es auch nicht so hätte ausdrücken können, ein lebendes Aroma, das die Priestergestalt umfloß und sich nahezu physisch fühlbar machte – eine gänzliche Abwesenheit des Selbstbewußtseins und an dessen Stelle das Bewußtsein einer anderen Gegenwart, eine Sicherheit und Vollendung im Benehmen, selbst in den kleinsten Einzelheiten, wie sie nur die Folge absoluter innerer Sammlung sein konnte.

Heute war alles wie sonst, nur bei der Kommunion blickte der Priester plötzlich auf, in dem Moment, als die heilige Hostie konsumiert war, mit einem Ausdruck, den entweder ein Geräusch oder eine Bewegung in ihm hervorgerufen hatte; und während er aufsah, begann sein Herz heftig zu pochen und er fühlte seine Kehle wie zusammengepreßt. Und doch konnte das äußere Auge nichts Ungewöhnliches entdecken. Die Gestalt stand dort mit gesenktem Haupte, das Kinn ruhte auf den Spitzen der langen Finger, der Körper stand vollkommen aufrecht und in jener seltsamen leichten Haltung, als ruhe keinerlei Gewicht auf den Füßen. Aber die inneren Sinne nahmen etwas wahr; der Syrer war nicht imstande, sich dies auch nur annähernd vorzustellen, späterhin jedoch überlegte er sich, daß er in Erwartung von irgend etwas Sichtbarem oder Hörbarem in Starren versunken sein mochte. Es war ein Eindruck, der sich eher mit den Ausdrücken von Licht und Ton wiedergeben ließe. Es schien, als wolle diese zarte lebendige Kraft, die, nur dem Auge der Seele sichtbar, unter dem roten Meßgewands und der weißen Albe brannte, jeden Moment herauswallen gleich einem Strom strahlenden Lichtes, um nicht nur das reine, braune Fleisch unter dem weißen Haar, sondern selbst das Gewebe des groben, leblosen, gefärbten Stoffes, das den Körper umgab, leuchten zu machen. Oder er mochte sich vielleicht in einem anhaltend tönenden Saitenakkord äußern, gleich als ob die mystische Vereinigung der sich hingebenden Seele mit der unaussprechlichen Gottheit und Menschheit Jesu Christi einen Ton erzeuge, wie er unaufhörlich mit dem Strome des Lebens unter dem Throne des Lammes hervorquillt. Oder es hätte sich als Wohlgeruch fühlbar machen können – als die Quintessenz aller Süßigkeit – ein Hauch gleich jenem, der dem Tabernakel des Körpers eines Heiligen entströmt und jenen, die ihn wahrnehmen, als ein Duft von himmlischen Rosen erscheint.

Als er endlich eine Bewegung machte, um das kostbare Blut aufzudecken, seine Hände auf den Altar zu legen und anzubeten, war es, als wäre eine Statue zum Leben erwacht, und der Priester erschrak beinahe darüber.

Und dann, als der Kelch geleert war, kehrte nochmals jener frühere Eindruck wieder; das Menschliche und Äußerliche starb in der Umarmung des Göttlichen und Unsichtbaren, und ein zweites Mal füllte jenes lebende Schweigen den Raum … Und während die geistige Energie wieder in ihren Ursprung zurücksank, reichte Silvester den Kelch hin.

Mit zitternden Knien, die Augen in Erwartung weit geöffnet, stand der Priester auf, betete an und schritt zum Kredenztisch.

Nach der Messe des Papstes pflegte in dessen Gegenwart der Priester selbst das Opfer darzubringen, heute aber, als die Gewänder, eines nach dem anderen, auf die einfache Truhe gelegt waren, wandte sich Silvester an diesen.

»Rasch«, sagte er sanft, »gehen Sie sofort auf das Dach, Father, und sagen Sie dem Kardinal, er solle sich bereit halten. In fünf Minuten komme ich hinauf.«

Es war ohne Zweifel Schirokko, dachte der Priester, als er auf das flache Dach hinaustrat. Über ihm lag an Stelle der klaren Bläue, wie sie sonst dieser Morgenstunde eigen war, ein gelber, fahler Himmel, der gegen den Horizont sogar ins Bräunliche spielte. Geradeaus, durch die sanderfüllte, verdünnte Atmosphäre, erblickte er den Tabor, heute ferne und düster, und als er nach rückwärts über die Ebene hinsah, konnte er jenseits der weißen Linie von Naim nichts unterscheiden, als die schwachen, hellen Umrisse der Hügel auf dem matten Hintergrunde. Selbst um diese Morgenstunde war die Luft schon heiß und drückend, bewegt nur ab und zu von dem sich erhebenden und das Atmen immer mehr erschwerenden Südwestwind, der aus dem fernen Ägypten herauf über endlose Sandwüsten dahinfegte, die Hitze des riesigen wasserlosen Kontinents mit sich riß und fast ohne einen Streifen Meeres, das seine Bösartigkeit zu mildern imstande gewesen wäre, zu berühren, sich auf diesen armen Flecken Landes warf. Auch den Kardinal hüllte, als er sich umwandte, halb trockener, halb feuchter Dunst ein, und herausfordernd reckte der Berg seinen langgestreckten Stierkopf gegen den westlichen Himmel. Selbst der Tisch, den der Priester berührte, war trocken und fühlte sich heiß an, bis Mittag mußte es geradezu unerträglich werden. Er drückte den Hebel und wartete, drückte nochmals und wartete wieder. Das Antwortläuten kam zurück und er teilte durch die achtzig Meilen Luftraum mit, daß die sofortige Gegenwart Sr. Eminenz verlangt werde. Einige Minuten vergingen und dann, nach einem weiteren Glockenzeichen erschien eine Zeile auf dem frischen, weißen Blatte.

»Ich bin hier. Ist Seine Heiligkeit dort?«

Er fühlte eine Hand auf seiner Schulter, und als er sich umwandte, erblickte er Silvester in Weiß mit übergezogener Kapuze hinter seinem Stuhle.

»Sagen Sie ihm, ja. Fragen Sie ihn, ob weitere Nachrichten vorliegen.«

Der Papst begab sich wieder zu seinem Stuhle, setzte sich, und eine Minute später verlas der Priester mit steigender Erregung die Antwort.

»Die Anfragen häufen sich. Viele warten auf eine Äußerung Eurer Heiligkeit. Meine Sekretäre sind seit vier Uhr beschäftigt. Die Angst ist unbeschreiblich. Einige behaupten bereits, es gäbe überhaupt keinen Papst mehr. Etwas muß sofort geschehen.«

»Ist dies alles?« fragte der Papst.

Der Priester las weiter: »Ja und nein. Das Gerücht ist Wahrheit. Es wird sofort in Wirkung treten. Wenn nicht sogleich irgend ein Schritt getan wird, greift die Apostasie immer weiter um sich.«

»Sehr gut«, murmelte der Papst in seiner diktierenden Stimme. »Hören Sie nun, Eminenz!« Er schwieg einen Augenblick und faltete seine Hände unter dem Kinn, wie eben noch bei der Messe. Dann begann er.

»Wir geben Uns rückhaltlos in die Hände Gottes. Menschliche Klugheit soll nicht länger sprechen. Wir befehlen Ihnen also, unter Beobachtung aller Ihnen möglichen Diskretion, diese Unsere Wünsche den folgenden Personen, und sonst keinem anderen, sub secreto mitzuteilen. Und zu diesem Dienste werden Sie Boten verwenden, die Sie dem Orden Christi des Gekreuzigten entnehmen, zwei für jede Botschaft; diese darf in keiner Art schriftlich wiedergegeben werden. Die Mitglieder des Heiligen Kollegiums, zwölf an der Zahl; die Metropoliten und Patriarchen des ganzen Erdkreises, insgesamt zweiundzwanzig; die Generäle der religiösen Orden: der Gesellschaft Jesu, der Minderbrüder, der Mönche des gewöhnlichen und beschaulichen Ordens – vier. Diese Personen, achtunddreißig an der Zahl, mit dem Kaplan Ew. Eminenz, der als Notar zu fungieren haben wird, wobei ihm Mein eigener zur Seite steht – zusammen einundvierzig, Uns inbegriffen – diese Personen haben sich spätestens am Vorabende des Pfingstfestes hier in Unserem Palaste Nazareth einzufinden. Wir fühlen Uns nicht gewillt, über die Schritte, welche angesichts des neuen Dekretes notwendig sind, zu entscheiden, ohne zuerst Unsere Ratgeber zu hören und ihnen eine Gelegenheit zu geben, sich frei darüber auszusprechen. Diese Worte sind so, wie Wir sie gesprochen haben, allen jenen Personen, welche Wir genannt haben, weiter zu geben und Ew. Eminenz werden letztere außerdem benachrichtigen, daß Unsere Beratungen nicht mehr als vier Tag beanspruchen werden.

»Was die Verpflegung des Konzils und alle Fragen dieser Art betrifft, so werden Ew. Eminenz den Kaplan, von dem Wir gesprochen, abordnen; dieser wird gemeinsam mit Meinem eigenen die nötigen Vorbereitungen treffen. Nach spätestens vier Tagen werden Ew. Eminenz selbst folgen und Father Marabouth während Ihrer Abwesenheit mit Ihrer Vertretung betrauen.

»Endlich teilen Sie die folgenden Worte – und nur diese – allen jenen mit, welche nach genauen Verhaltungsmaßregeln gegenüber dieser neuen Maßnahme fragen:

›Verliert nicht euer Vertrauen, das eines großen Lohnes sicher ist. Denn nur noch eine Weile, und Er, der kommen wird, kommt und wird nicht länger zögern. Silvester, Bischof, Diener der Kirche Gottes.‹«


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