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Viertes Kapitel

1.

Oliver Brand saß in seinem kleinen Arbeitszimmer in Whitehall und erwartete einen Besuch. Es war bereits nahe an zehn Uhr, und um halb elf mußte er in der Sitzung sein. Er hatte gehofft, daß dieser Mr. Francis, wer immer er auch sein mochte, ihn nicht lange aufhalten würde. Gerade jetzt war jeder Augenblick kostbar, denn die Arbeit war in den letzten Wochen einfach enorm gewesen.

Aber er hatte kaum mehr als eine Minute gewartet, denn der letzte Glockenschlag vom Viktoriaturm war noch nicht verhallt, als sich die Türe öffnete und eine salbungsvolle Stimme den Namen dessen aussprach, den er erwartet hatte.

Oliver warf einen raschen Blick auf den Fremden, seine gesenkten Augenlider und die nach abwärts gezogenen Mundwinkel, faßte, während man sich setzte, seinen Eindruck, so gut und genau es möglich war, zusammen und begann ohne weitere Einleitung:

»In fünfundzwanzig Minuten muß ich weggehen, Sir. Bis dahin –« er machte eine leichte Handbewegung.

Mr. Francis beruhigte ihn.

»Ich danke Ihnen, Mr. Brand – das ist Zeit genug. Wenn Sie mir also gestatten.« – Er griff in seine Brusttasche und zog ein langes Kuvert heraus. »Ich will Ihnen dies hier lassen«, sagte er. »Es legt unsere Wünsche und Namen ausführlich dar. Und was ich Ihnen zu sagen habe, Sir, ist folgendes.«

Er lehnte sich zurück, kreuzte die Beine und fuhr, mit einem Anflug von Hast in seiner Stimme, fort.

»Sie müssen wissen, ich bin so etwas wie eine Deputation. Wir haben sowohl etwas zu erbitten wie anzubieten. Ich wurde ausgewählt, weil die Idee von mir stammte. Darf ich mir zuerst eine Frage erlauben?«

Oliver verbeugte sich.

»Ich möchte keine indiskreten Fragen stellen. Aber ich glaube, es ist sozusagen sicher, nicht wahr? – daß der neue Kult im ganzen Königreich zur Einführung gelangen soll.«

Oliver lächelte.

»Ich glaube, ja«, sagte er. »Die Vorlage hat bereits die dritte Lesung passiert, und wie Sie wissen, soll der Präsident diesen Abend darüber sprechen.«

»Er wird sie nicht verbieten?«

»Es ist nicht anzunehmen. In Deutschland hat er sie bewilligt.«

»Richtig«, sagte Mr. Francis. »Und wenn er sie hier bewilligt, so wird dies, vermute ich, sofort Gesetz werden.«

Oliver lehnte über seinen Tisch und zog das grüne Papier heraus, das die Vorlage enthielt.

»Sie haben dies, selbstverständlich –« sagte er. »Nun, es wird sofort Gesetz werden, und das erste Fest wird am ersten Oktober stattfinden. ›Vaterschaft‹, nicht wahr? Ja, ›Vaterschaft‹.«

»Es wird dann wohl eine ziemliche Konfusion geben«, fragte der andere in hastigem Tone. »Es ist ja bereits in einer Woche.«

»Diese Angelegenheit gehört nicht zu meinem Ressort«, erwiderte Oliver, indem er die Vorlage beiseite legte. »Aber soviel ich gehört habe, soll das bereits in Deutschland eingeführte Rituale in Gebrauch kommen. Es liegt kein Grund vor, weshalb wir ein besonderes haben sollen.«

»Und man wird die Abtei dazu benützen?«

»Ja, natürlich.«

»Nun, Sir«, sagte Mr. Francis, »ich weiß wohl, daß die Regierungskommission alles sehr eingehend studiert und zweifelsohne ihre eigenen Pläne hat. Doch scheint es mir, daß sie soviel erfahrene Leute als möglich brauchen werde.«

»Ohne Zweifel.«

»Die Gesellschaft, Mr. Brand, die ich vertrete, besteht ausschließlich aus Männern, die einst katholische Priester waren. In London sind wir ungefähr zweihundert an der Zahl. Wenn Sie mir erlauben, werde ich Ihnen eine Broschüre hier lassen, welche unseren Zweck, unsere Verfassung und weiteres darlegt. Es schien uns, daß es sich hier um eine Sache handele, in welcher unsere Erfahrung der Regierung große Dienste leisten könnte.«

Er hielt inne.

»Ja, Mr. Francis?«

»Ich bin überzeugt, die Regierung ist sich bewußt, von welch ungeheurer Wichtigkeit es ist, daß alles sich in Ordnung abwickle. Würde die gottesdienstliche Handlung auch nur ein wenig durch Unordnung und Lächerlichkeiten gestört werden, so könnte dies eine ganz bedeutende Rückwirkung auf den Gegenstand der Handlung ausüben.«

Oliver konnte nicht umhin, seine Mundwinkel zu einem Lächeln zu verziehen. Es lag eine grausame Ironie darin, dachte er, aber immerhin war die Idee ganz vernünftig.

»Ich begreife vollkommen, Mr. Francis, und die Anregung scheint mir sehr vernünftig. Aber ich glaube nicht, daß Sie sich an die richtige Person gewandt haben. Mr. Snowford –«

»Ja, ja, Sir, ich weiß. Aber Ihre Rede von neulich hat uns alle mit Begeisterung erfüllt. Sie haben uns vollkommen aus dem Herzen gesprochen, als Sie sagten, daß die Welt, ohne eine Gottesverehrung zum Ausdruck zu bringen, undenkbar, und dieser Gott nun endlich gefunden worden sei. –«

Oliver winkte ab. Auch nur eine Andeutung von Schmeichelei war ihm verhaßt.

»Sie sind sehr liebenswürdig, Mr. Francis. Ich werde gewiß mit Mr. Snowford sprechen. Ich irre nicht in der Annahme, daß Sie selbst sich als – als Zeremonienmeister anbieten?«

»Ja, Sir; und auch als Sakristan. Ich habe das deutsche Rituale sehr sorgfältig studiert; es ist komplizierter, als ich gedacht hatte, und wird ziemliche Geschicklichkeit erfordern. Wenn ich mir die Sache vorstelle, werden Sie in der Abtei mindestens ein Dutzend Zeremonienmeister benötigen; und ein weiteres Dutzend für die Sakristei dürfte kaum zuviel sein.«

Oliver nickte rasch und blickte mit gemischten Gefühlen in das kalte, pathetische Gesicht des ihm gegenübersitzenden Mannes; und doch hatte auch dieses etwas von dem geheimnisvollen Priesterblick, den er schon des öfteren bei jenesgleichen gefunden. Allem Anschein nach war dies ein Frömmler.

»Selbstverständlich sind Sie alle Freimaurer?« fragte er.

»Ja, natürlich, Mr. Brand.«

»Sehr gut; ich werde heute noch mit Mr. Snowford sprechen, wenn ich ihn treffen kann.«

Er blickte nach der Uhr. Er hatte noch drei oder vier Minuten übrig. »Sie kennen schon die neuen Beschlüsse Roms, Sir?« fuhr Mr. Francis fort.

Oliver schüttelte den Kopf. Er hatte gerade jetzt wenig Interesse für Rom.

»Kardinal Martin ist tot – er starb Dienstag – und sein Platz ist bereits besetzt.«

»Wirklich, Sir?«

»Ja. Der neue Kardinal war einst einer meiner Freunde – Franklin ist sein Name – Percy Franklin.«

»Wie?«

»Was gibt es, Mr. Brand? Kannten Sie ihn?«

Oliver, etwas bleich, zog die Augenbrauen zusammen.

»Ja, ich kannte ihn«, erwiderte er ruhig, »ich glaube wenigstens.«

»Noch vor ein oder zwei Monaten war er in Westminster.«

»Ja, ja«, sagte Oliver, ohne den Blick von ihm zu wenden. »Und Sie waren mit ihm bekannt, Mr. Francis?«

»Ich kannte ihn, ja.«

»Ah – gut, ich würde mich freuen, einmal darüber mit Ihnen zu reden.«

Er brach ab. Es fehlte noch eine Minute.

»Und das ist alles?« fragte er.

»Für jetzt habe ich meinen Auftrag erledigt, Sir«, antwortete jener. »Aber ich darf mir wohl gestatten, auszusprechen, wie sehr wir alle das, was Sie getan haben, zu schätzen wissen, Mr. Brand. Ich bezweifle, ob jemand anderer, ausgenommen wir selbst, imstande ist, zu erfassen, was der Verlust der Gottesverehrung für uns bedeutet. Es war sehr eigentümlich zuerst.« –

Seine Stimme zitterte ein wenig und stockte. Oliver war gespannt und konnte nicht umhin, sitzen zu bleiben.

»Nun, Mr. Francis?«

Die melancholischen, braunen Augen blickten ihn voll an.

»Es war eine Täuschung, natürlich, Sir – wir wissen das. Aber jedenfalls wage ich zu hoffen, daß nicht alles umsonst war – all unser Streben und Büßen und Beten. Wir verkannten unseren Gott, aber nichtsdestoweniger drang es zu ihm – es fand seinen Weg zu dem Geiste der Welt. Es lehrte uns, daß das Individuelle nichts und jener alles sei. Und nun –«

»Ja, Sir«, sagte Oliver sanft. Er fühlte sich wirklich ergriffen.

Die schwermütigen, braunen Augen öffneten sich weit.

»Und nun ist Mr. Felsenburgh gekommen.« Seine Stimme versagte nahezu. »Julian Felsenburgh!«

Es lag eine ganze Welt plötzlich erwachter Leidenschaft in seiner sanften Stimme, und Olivers eigenes Herz fühlte sich mitgerissen.

»Ich weiß, Sir«, sagte er, »ich weiß alles, was Sie sagen wollen.«

»Oh! Endlich einen Erlöser zu haben!« rief Francis aus. »Einen, den man sehen und greifen und in dessen Antlitz man beten kann! Es ist wie ein Traum – zu schön, um wahr zu sein!«

Oliver warf einen Blick auf die Uhr und, die Hand darbietend, erhob er sich rasch.

»Verzeihen Sie, Sir, ich darf nicht länger bleiben. Sie haben mich in meinem Innersten ergriffen … ich werde mit Mr. Snowford sprechen. Ihre Adresse steht darauf, nicht wahr?«

Er wies nach den Papieren.

»Ja, Mr. Brand. Noch eine Frage.«

»Ich muß gehen, Sir«, sagte Oliver, den Kopf schüttelnd.

»Einen Augenblick. – Ist es wahr, daß der Gottesdienst obligatorisch sein soll?«

Oliver beugte sich nieder, um die Papiere zusammenzuraffen.

2.

Mabel, auf ihrem Galerieplatze hinter dem Sitz des Präsidenten, hatte schon mindestens ein halbes Dutzend Male während der letzten halben Stunde nach der Uhr gesehen, jedesmal hoffend, einundzwanzig Uhr möchte näher sein, als sie fürchtete. Sie wußte nunmehr zur Genüge, daß der Präsident von Europa weder eine halbe Minute zu früh noch zu spät erscheinen würde. Seine absolute Pünktlichkeit war bereits über den ganzen Kontinent hin bekannt. Er hatte einundzwanzig Uhr gesagt, und so würde er auch um einundzwanzig Uhr da sein.

Der schrille Ton einer Glocke drang von unten herauf, und gleichzeitig verstummte die gedehnte Stimme des Redners. Nochmals erhob Mabel die Hand und sah, daß auf der Uhr an ihrem Armband noch fünf Minuten an der Zeit fehlten; dann beugte sie sich aus ihrer Ecke nach vorne und starrte in das Haus hinab.

Auf das metallische Läuten hin war eine große Veränderung vor sich gegangen. Durch alle Sitzreihen hindurch war Bewegung in die Abgeordneten gekommen, sie setzten sich besser zurecht, die übereinandergelegten Beine verschwanden, und die Hüte wurden in ihre Lederbehälter geschoben. Der Präsident des Hauses stieg die drei Stufen von seinem Sitze hinab, den in wenigen Minuten ein anderer einnehmen sollte.

Das Haus war bis auf den letzten Winkel gefüllt; ein Nachzügler kam eiligen Schrittes durch das Halbdunkel des Südportals und blickte in dem vollen Lichte verwirrt um sich, bis er seinen leeren Platz gewahrte. Auch die unteren Galerien gegen den Eingang zu, wo sie umsonst versucht hatten, einen Platz zu finden, waren voll besetzt.

Wie seltsam und wunderbar es doch war, hier zu sein, – an diesem denkwürdigen Abende, an welchem der Präsident sprechen sollte! Vor einem Monat hatte er eine ähnliche Vorlage in Deutschland genehmigt, und in Turin über denselben Gegenstand gesprochen. Morgen sollte er in Spanien eintreffen. Niemand wußte, wovon er heute Abend sprechen würde. Es mochten nur drei, es konnten aber auch zwanzigtausend Worte sein. Es gab einige Klauseln in der Vorlage – besonders jene, welche die Frage behandelten, wann der neue Kult für alle über sieben Jahre alten Untertanen als obligatorisch gelten sollte – vielleicht würde er dies mißbilligen und verbieten. In diesem Falle mußte alles noch einmal abgefaßt und die Vorlage abermals unterbreitet werden, es sei denn, das Haus nähme seine Änderung durch Zustimmung an.

Mabel selbst war diesen Klauseln nicht abgeneigt. Sie bestimmten, daß, obwohl die Gottesverehrung in jeder Gemeindekirche in England am folgenden ersten Oktober eingeführt werden sollte, dies erst von Neujahr an für alle Untertanen obligatorisch sein würde, wogegen in Deutschland, wo die Vorlage erst vor einem Monat genehmigt worden war, dieselbe sofort in Kraft trat und auf diese Weise alle katholischen Untertanen gezwungen waren, entweder das Land zu verlassen oder sich den Strafen zu unterziehen. Diese Strafen hatten nichts Schreckenerregendes an sich; für die erste Übertretung war nur eine Woche Haft festgesetzt; für die zweite ein Monat Gefängnis, auf die dritte ein Jahr und bei der vierten fortdauerndes Gefängnis, bis der Schuldige sich unterwarf. Dies waren, wie es schien, milde Bestimmungen, denn selbst unter Gefängnis verstand man nichts weiter, als eine vernunftgemäße Haft und Arbeit in staatlichen Anstalten. Die Schrecknisse des Mittelalters waren hier nicht zu finden, auch war der Akt der Gottesverehrung, der gefordert wurde, so geringfügig; es genügte persönliche Anwesenheit in der Kirche oder Kathedrale an den vier neuen Festen, welche am ersten Tage jedes Vierteljahres gefeiert wurden. Diese bestanden in der Anbetung des Lebens (1.), dessen, wodurch es sich fortpflanzte, also der Vater- und Mutterschaft (2., 3.), sowie alles dessen, was zu seiner Erhaltung diente (4.). Der sonntägliche Gottesdienst war jedem freigestellt.

Worin lag denn nun die Schwierigkeit? Nicht, als ob den Christen ihre Art Gottesdienst nicht mehr erlaubt wäre, wenigstens unter den üblichen Einschränkungen. Die Katholiken konnten immer noch ihrer Messe beiwohnen. Und doch standen entsetzliche Dinge in Deutschland bevor; nicht weniger als zwölftausend Einwohner waren bereits nach Rom ausgewandert, und es hieß, daß weitere vierzigtausend binnen kurzem diesen einfachen Akt der Huldigung verweigern würden. Es machte sie verwirrt und ärgerlich, nur daran zu denken.

Sie selbst erblickte in dieser neuen Art göttlicher Verehrung nur die Krönung des Triumphes der Humanität. Ihr Herz hatte sich nach etwas Derartigem gesehnt – nach einer öffentlichen, gemeinsamen Kundgebung dessen, woran alle jetzt glaubten. Sie hatte sich oft über die Einfältigkeit der Leute geärgert, die sich mit Tatsachen begnügten und nie nach deren Ursprung fragten. Dieser Trieb, den sie in sich fühlte, konnte sicher nur ein wahrer sein; ihr Wunsch war es, mit ihren Glaubensgenossen an irgendeinem feierlichen, nicht von Priestern, sondern von dem menschlichen Willen geweihten Orte zu stehen, durch süßen Gesang und Orgelton sich zu begeistern, ihrem Schmerz über den eigenen Mangel an Opferwilligkeit dem Geiste des Alls gegenüber gemeinsam mit Tausenden Ausdruck zu geben, der Herrlichkeit des Lebens laut lobsingen zu können und mit Opfer und Weihrauchdüften dem zu huldigen, von dem ihr Sein ausgegangen war, und mit dem es sich einst wieder vereinen würde.

Was sie selbst betraf, so hatte sie die Absicht, wenigstens einmal in der Woche zu der kleinen, eine halbe Meile von ihrem Heim entfernten, alten Kirche zu gehen, dort in dem Heiligtum zu knien, sich betrachtend in süße Geheimnisse zu versenken, sich dem aufzuopfern, das sie nun lieben lernte und, wie sie hoffte, in immer neuen Zügen Leben und Kraft zu schlürfen.

Ach! Die Vorlage mußte aber erst genehmigt werden … Krampfhaft umklammerten ihre Hände das Gitter, und sie starrte festen Auges auf die Kopfreihen vor ihr, die breiten Gänge, den großen Amtsstab auf dem Tisch, und hörte durch das Murmeln der Menge draußen und das Flüstern hier herinnen ihres eigenen Herzens Pochen.

Ah, jetzt herrschte Schweigen draußen; das leise Murmeln hatte aufgehört. Er war also gekommen, und mit feuchten Augen sah sie, wie die langen Reihen der Köpfe unter ihr sich erhoben, und durch das Klingen ihrer Ohren hindurch vernahm sie den Lärm von vielen Füßen. Aller Augen wandten sich nach dieser Richtung, und sie beobachtete sie, als wären es Spiegel, in denen sie den Widerschein seiner Gegenwart zu finden hoffte. Ein leises Seufzen zog durch die Luft – kam es von ihr oder aus einer anderen Brust? … Das Schließen einer Türe, ein mächtiges, dumpfes, sich wiederholendes Dröhnen von oben herab, als die gewaltigen Glocken dreimal anschlugen, und in einem Augenblick trat in die bleichen Gesichter eine Bewegung, als wühlte eine Woge der Leidenschaft ihre Seelen auf; da und dort schien ein Schwanken durch die Menge zu gehen, und, dem Auge verborgen, ertönten, von ruhiger Stimme gesprochen, die wenigen Worte in Esperanto:

»Bürger Englands, ich genehmige die Kultusvorlage.«

3.

Erst beim Mittagstisch des nächsten Tages sah sich das Ehepaar wieder. Oliver hatte in der Stadt übernachtet und gegen elf Uhr telephoniert, er werde sofort nach Hause kommen und einen Gast mitbringen. Und kurz vor zwölf Uhr hörte Mabel die beiden Stimmen in der Vorhalle.

Mr. Francis, mit dem sie sofort bekannt gemacht wurde, schien, so dachte sie, einer harmlosen Sorte von Menschen anzugehören, nicht interessant, obwohl es ihm mit seinem Vorhaben tiefinnerer Ernst zu sein schien. Es dauerte bis gegen Ende der Mahlzeit, bis sie klug aus ihm wurde.

»Bleibe hier, Mabel«, sagte ihr Gatte, als sie sich erheben wollte. »Es wird dich freuen, einiges davon zu hören, vermute ich. Meine Frau ist in alles eingeweiht«, fügte er hinzu.

Mr. Francis lächelte und verbeugte sich.

»Darf ich vor Ihnen erzählen?«

»Bitte. Weshalb nicht?«

Dann erfuhr sie, daß jener noch vor einigen Monaten katholischer Priester gewesen sei, und daß Mr. Snowford mit ihm in Verbindung sei, um sich wegen der Zeremonien in der Abtei zu beraten. Als sie dies vernahm, war ihr Interesse plötzlich erwacht.

»O, sprechen Sie«, sagte sie, »ich wünsche alles zu erfahren.«

Und so hörte sie denn, daß Mr. Francis diesen Morgen beim neuen Minister des öffentlichen Kultes gewesen war, und von diesem den definitiven Auftrag erhalten hatte, für den ersten Oktober die Zeremonien festzustellen und auszuführen. Weitere zwei Dutzend seiner Kollegen sollten, wenigstens vorläufig für diese Gelegenheit, als Zeremoniare aufgenommen und nach dem Feste auf eine Vortragstour gesandt werden, um den nationalen Kult im ganzen Lande zu organisieren.

Natürlich würde anfangs ziemliche Unordnung herrschen, sagte Mr. Francis, doch hoffe man, daß bis zum Beginn des neuen Jahres wenigstens in den Kathedralen und in den größeren Städten alles in Ordnung sein würde.

»Es ist von Wichtigkeit«, fuhr er fort, »daß dies alles sobald als möglich geschehe, denn es ist sehr nötig, sofort einen guten Eindruck zu machen. Tausende gibt es, die den Drang zu einer Gottesverehrung haben, ohne zu wissen, wie sie ihn befriedigen können.«

»Das ist vollkommen richtig«, sagte Oliver, »ich selbst fühle dies seit langem. Ich glaube, es ist der tiefste Trieb im Menschen.«

»Was nun die Zeremonien betrifft«, begann jener mit einer gewissen Wichtigtuerei, und seine Augen schweiften einen Moment umher; dann griff er in die Brusttasche und entnahm ihr ein dünnes, rot eingebundenes Buch. »Hier ist die Reihenfolge der Zeremonien zum Feste der Vaterschaft«, sagte er, »ich ließ es interfoliieren und machte einige Anmerkungen dazu.«

Er begann zu blättern, während Mabel in ziemlicher Erregung ihren Stuhl etwas näher zog, um zu hören.

»Ganz recht, Sir«, erwiderte sein Gegenüber. »Nun halten Sie uns darüber eine kleine Vorlesung.«

Mr. Francis schloß, den Finger zwischen den Blättern, das Buch, schob den Teller zur Seite und begann seinen Vortrag.

»Vor allem muß man sich vergegenwärtigen, daß das Rituale beinahe ganz auf dem der Freimaurer aufgebaut ist. Mindestens drei Viertel der gesamten Funktion sind demselben entnommen. Damit werden die Zeremonien nichts zu tun haben, außer etwa, daß sie darnach sehen, daß die Insignien im Ankleideraum bereit seien und richtig angelegt werden. Das Weitere besorgen dann schon die maurerischen Würdenträger … Ich kann also darüber hinweggehen. Die Schwierigkeiten beginnen erst mit dem letzten Viertel.«

Er hielt inne, und mit einem Blick, der gleichsam um Entschuldigung bat, fing er an, die Gläser und Gabeln vor sich zu ordnen.

»Hier also«, sagte er, »haben wir den ehemaligen Chor der Abtei. An Stelle des Hochaltares und der Kommunionbank wird der große Altar, den das Rituale erwähnt, errichtet werden, mit Stufen, welche vom Boden aus zu demselben hinanführen. Hinter dem Altar, fast bis zum Grabmal Eduards des Bekenners reichend, wird sich der Sockel mit dem Sinnbilde erheben, und wie mir scheint – genauere Vorschriften fehlen noch darüber –, behält jede dieser Statuen ihren Platz bis zum Vorabend des nächsten Vierteljahrfestes.«

»Welcher Art sind die Figuren?« warf Mabel ein.

Francis warf einen Blick auf ihren Gatten.

»Wie ich höre, hat man Mr. Markenheim darüber zu Rate gezogen«, sagte er. »Er wird sie entwerfen und ausführen. Eine jede derselben soll ihr spezielles Fest darstellen. Das der Vaterschaft –«

Er hielt wieder inne.

»Nun, Mr. Francis?«

»Dies glaube ich, soll durch die Gestalt eines nackten Mannes geschehen.«

»Eine Art Apollo – oder Jupiter, meine Liebe«, bemerkte Oliver.

»Ja«, dachte Mabel, »das wäre ganz richtig.«

Mr. Francis fuhr hastig fort:

»An diesem Punkte tritt unmittelbar nach der Ansprache eine neue Prozession ein«, sagte er. »Gerade diese wird besondere Aufmerksamkeit erfordern. Es wird wohl, wie ich vermute, nicht möglich sein, eine Probe abzuhalten?«

»Kaum«, sagte Oliver lächelnd.

Der Zeremonienmeister seufzte.

»Ich hatte es gefürchtet. Dann müssen wir also sehr genaue gedruckte Verhaltungsmaßregeln geben. Die, welche daran teilnehmen, werden sich, denke ich mir, während der Hymne in die frühere Kapelle der heiligen Fides zurückziehen. So scheint es mir am besten.«

Er wies auf die Kapelle hin.

»Nach dem Einzug der Prozession werden alle auf diesen beiden Seiten – hier – und hier – ihre Plätze einnehmen, während der Zelebrant mit den Ministranten –«

»Was?«

Mr. Francis verzog sein Gesicht zu einem leichten Grinsen, und ein schwaches Erröten verriet seine Verlegenheit.

»Der Präsident von Europa –« er brach ab. »Ah, das ist die Hauptsache. Wird der Präsident sich beteiligen? Aus dem Rituale geht dies nicht hervor.«

»Wir glauben doch«, erwiderte Oliver. »Man wird ihn darum angehen.«

»Nun, andernfalls wird, glaube ich, der Minister des öffentlichen Kultus die Handlung vornehmen. Er und seine Beistände schreiten geradeswegs zum Fuße des Altares hin. Vergessen Sie nicht, daß die Statue noch verhüllt ist, und daß die Kerzen während des Eintritts der Prozession angezündet worden sind. Darauf folgen die im Rituale vorgeschriebenen Anrufungen mit den Antworten. Diese werden vom Chor gesungen und müssen, meine ich, tiefen Eindruck hervorrufen. Hierauf steigt der Offiziant allein zum Altar hinan und verliest stehend die Adresse, wie sie genannt wird. Alles übrige ist leicht«, sagte er mit einer geringschätzenden Handbewegung, »das bedarf keiner weiteren Verhandlungen.«

Mabel erschienen auch die vorigen Zeremonien leicht genug. Aber sie war enttäuscht.

»Sie haben keine Idee, Mrs. Brand«, fuhr der Zeremoniar fort, »was für Schwierigkeiten sogar in einer so einfachen Sache liegen. Es ist erstaunlich, wie einfältig die Leute sind. Ich sehe im voraus, daß wir alle sehr zu tun haben werden … Wer soll die Ansprache halten, Mr. Brand?«

»Ich habe keine Ahnung«, sagte er. »Ich vermute, Mr. Snowford wird die Wahl treffen.«

Mr. Francis sah ihn ungläubig an.

»Was halten Sie von der ganzen Sache, Sir?« sagte er.

Oliver schwieg einen Augenblick.

»Ich glaube, daß sie gemacht werden muß«, begann er. »Das Verlangen nach einer öffentlichen Gottesverehrung würde nicht ein so allgemeines sein, wenn es nicht eine wirkliche Notwendigkeit wäre. Auch ich finde – ja, ich finde den Ritus im ganzen sehr erhebend. Ich wüßte nicht, wie man es besser machen könnte …«

»Wirklich, Oliver?« warf seine Gattin ein wenig fragend ein.

»Nein, es gibt nichts einzuwenden – nur … nur hoffe ich, das Volk wird alles verstehen.«

Mr. Francis fiel ihm hastig ins Wort: »Mein lieber Herr, Gottesverehrung ist stets mit einem Hauch des Geheimnisvollen verbunden. Das müssen Sie bedenken. Natürlich wird viel auf die Art und Weise der Ausführung ankommen. Eine Anzahl Kleinigkeiten sind, wie ich sehe, noch nicht entschieden, wie z. B. die Farbe der Vorhänge und anderes. Doch in seinen Hauptpunkten ist es prachtvoll; es ist einfach, eindrucksvoll und vor allem in seiner inneren Bedeutung nicht mißzuverstehen.«

»Und darunter verstehen Sie? –«

»Ich verstehe darunter eine dem Leben dargebrachte Huldigung«, sagte jener langsam. »Dem Leben von vier verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet – Mutterschaft entspricht dem Weihnachtsfest und seiner christlichen Fabel; es ist das Fest der Häuslichkeit, Liebe und Treue. Das Leben gelangt zur Darstellung durch den Frühling, das Sprossen, die Jugend, die Leidenschaft. Das dritte Fest fällt in den Hochsommer, die Zeit des Überflusses, der Behaglichkeit, der Fülle usw., und entspricht in gewissem Sinne dem katholischen Fronleichnamsfest. In dem der Vaterschaft endlich tritt das Prinzip des Schutzes, des Zeugens, der Vollendung gegenüber dem anbrechenden Winter entgegen … Wie ich höre, stammt die ganze Idee aus Deutschland.«

Oliver nickte.

»Ja«, meinte er, »und ich vermute, es wird die Aufgabe des Redners sein, dies alles zu erläutern.«

»Das ist auch meine Auffassung. Mir scheint dieselbe weit einleuchtender als der entgegenstehende Plan, – Menschenrecht, Arbeit usw. All dieses, genau betrachtet, ist eigentlich dem Leben untergeordnet.«

Mr. Francis sprach mit außerordentlichem, wenn auch zurückgehaltenem Enthusiasmus, und der priesterliche Blick an ihm trat mehr hervor als je. Es war klar, daß wenigstens dieses Herz einen religiösen Kult verlangte.

Mabel faltete plötzlich die Hände.

»Ich glaube, es ist schön«, sagte sie sanft, »und – und es ist so greifbar.«

Mr. Francis wandte sich mit einem Aufleuchten der braunen Augen ihr zu.

»O ja, Madame, das ist es. Hier ist kein Glaube, wie wir es zu nennen pflegten; hier haben wir eine Darstellung von Tatsachen, die niemand bezweifeln kann, und der Weihrauch weist ebenso auf die alleinige Göttlichkeit des Lebens wie auf dessen Mysterium hin.«

»Und die Figuren?« warf Oliver ein.

»Ein Steinbild ist natürlich unmöglich; es muß vorläufig aus Ton sein. Mr. Markenheim wird sich sofort ans Werk machen. Wenn die Figuren dann genehmigt sind, können sie in Marmor ausgeführt werden.«

Wiederum fiel Mabel mit sanftem Ernst ein:

»Mir will scheinen«, sagte sie, »daß dies das einzige ist, was uns noch fehlte. Es ist so schwer, die Klarheit unserer Grundsätze zu bewahren – wir brauchen einen Körper für sie – etwas, sie auszudrücken.« –

Sie hielt inne.

»Ja, Mabel?«

»Ich will nicht sagen«, fuhr sie fort, »daß man ohne dies nicht leben könne, doch viele können es nicht. Wir bedürfen für das, was wir uns nicht vorstellen können, konkreter Bilder, für Gedanken und Gefühle eines Kanales, in welchem sie dahinfließen können. – Ich weiß nicht, ich kann mich nicht ausdrücken.«

Oliver nickte langsam. Auch er schien in betrachtendes Sinnen versunken zu sein.

»Ja«, sagte er, »und das wird auch gleichzeitig bildend auf der Menschen Denken wirken; es wird jede Gefahr des Aberglaubens fernhalten.«

Mr. Francis wandte sich mit einer raschen Bewegung ihm zu.

»Was halten Sie von dem neuen religiösen Orden des Papstes, Sir?«

In Olivers Züge trat ein Ausdruck der Bitterkeit.

»Nach meinem Dafürhalten ist es der schlimmste Schritt, den er je getan – für ihn selbst, meine ich. Entweder ist es sein wirklicher Ernst, in welchem Falle er eine ungeheure Entrüstung hervorrufen wird – oder es ist alles nur Schein, und dann wird man ihm keinen Glauben mehr schenken. Weshalb fragen Sie, Sir?«

»Ich bin begierig, ob es in der Abtei keine Störung geben wird.«

»Ich würde es bedauern, des Störenfriedes wegen.«

Schrilles Läuten erscholl vom Telephon her. Oliver stand auf und begab sich hinüber. Mabel folgte ihm mit den Blicken, als er einen Knopf berührte, seinen Namen nannte und das Hörrohr ans Ohr legte.

»Es ist Snowfords Sekretär«, erklärte er kurz den beiden erwartungsvoll Horchenden. »Snowford wünscht – ah!«

Wieder nannte er seinen Namen und horchte. Sie vernahmen ein paar Sätze von ihm, die bedeutungsvoll schienen.

»So, das ist also sicher, nicht wahr? Ich bedauere … Ja … O, aber das ist noch immer besser als nichts … Ja, er ist hier … Tatsächlich. Nun gut; wir kommen sofort zu Ihnen.«

Er blickte nach dem Schallrohr, berührte nochmals den Knopf und kam zurück.

»Es tut mir leid«, sagte er, »der Präsident wird an dem Feste nicht aktiv teilnehmen; möglicherweise wird er aber anwesend sein. Mr. Snowford wünscht uns beide sofort zu sprechen, Mr. Francis. Markenheim ist bei ihm.«

Obwohl auch Mabel enttäuscht war, so kam er ihr doch ernster vor, als diese Enttäuschung es rechtfertigte.


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