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Solange sie im Amte sind, hört man in allen Bureaus, in allen Ministerien nur den einen Schrei, den einen Gedanken, das eine Lied, dessen Text ungefähr lautet: »Ah, wann werde ich meine Zeit abgedient haben! Wann werde ich gehen können! Wann werde ich endlich mich pensionieren lassen können! Ich hab' noch so und so viele Jahre, aber dann sind meine dreissig Dienstjahre um! Und dann werde ich auf dem Lande leben! . . .«
Die nur noch zwei Jahre, fünf Jahre, achtzehn Monate vor sich haben, hält alles für glücklich. Jeder lächelt ihnen zu: »Sie werden gehen! Sie werden den Jungen Platz machen!«
Ist der Moment aber endlich gekommen, dann geht es mit dem Beamten wie mit Mlle. Mars und mit allen alten Komödianten: Sie fühlen sich frisch und voll Aktivität. Nie vorher war ihre Arbeitskraft so gross. Wenn man so unvorsichtig ist, sie an ihre bevorstehende Pensionierung zu erinnern, dann erheben sie ein grosses Geschrei; und man hört unfehlbar dieses ergreifende Klagelied: »Welche schreiende Ungerechtigkeit! Endlich bin ich so weit, dass ich ohne Sorgen existieren könnte, ich habe meine Tochter glücklich versorgt. Ich habe Erfahrungen gesammelt und der Staat könnte Nutzen daraus ziehen. Aber gerade, wenn man anfängt, für etwas zu taugen, wird man fortgeschickt. Mit einem Federstrich wird einem die Hälfte seiner »Habe« genommen. Und was tun? Kann man denn mit fünfundfünfzig Jahren noch einen neuen Beruf anfangen?«
Der Beamte vergisst alle Flüche, die er selbst gegen die senilen Greise, gegen die alten Dummköpfe, die den jungen Leuten die Karriere sperren, ausgestossen hat. Er wehrt sich gegen den Minister, gegen den Personalchef: er sucht sie zu erweichen, er klammert sich an seinen Fauteuil, wie ein zum Tode Verurteilter an den Karren.
Am Ende bekommt er doch seine Pensionierung und muss seine Kartons verlassen, seine Aktenbündel, diese ganze verhasste und im Grunde doch geliebte Atmosphäre.
»Was soll aus mir werden, wenn mir der Mann den ganzen Tag zu Hause sitzt?« klagt die Frau. »Womit kann man ihn beschäftigen? Überall steckt er seine Nase hinein. Alles will er verstehen; dabei ist er so pedantisch, so komisch, ach, Sie kennen ihn ja nicht . . .« sagt sie zu seinen Freunden. »Man wird ihm irgend etwas in den Kopf setzen müssen! Jetzt wird er noch einige Zeit mit der Regelung seiner Pension verbringen; aber was dann?« Eine Frau von fünfundvierzig ist in den seltensten Fällen eine sehr anregende Gesellschaft für einen Mann von fünfundfünfzig Jahren.
Die Leute denken nun an die Übersiedlung aufs Land, an Passy, Belleville, Pantin, Saint-Germain, Versailles.
Der pensionierte Beamte wird ein unermüdlicher Zeitungsleser. Er liest die Blätter vom Titel bis hinunter zum Namen des verantwortlichen Redakteurs. Er studiert die Annoncen, und das tötet drei Stunden. Dann lungert er herum, bis die Dinerstunde heranschleicht. Ist es einmal so weit, dann ist alles gerettet. Am Abend hat er seine Kartenpartie, geht in Gesellschaft.
Viele pensionierte Beamte weihen sich dem Angelsport – eben einer Beschäftigung, die viele Analogien mit ihrer früheren Berufstätigkeit aufweist. Andere, bösartige Individuen werden Aktionäre irgendwelcher Industriegesellschaft, verlieren zwar gewöhnlich ihr Geld, finden aber dann dafür irgendeinen Posten bei dieser Unternehmung.
Es gibt auch welche, die es zum Bürgermeister oder Adjunkten, wenigstens Vizebürgermeister ihres Dorfes bringen, und die können ihre bureaukratischen Allüren fortsetzen.
Alle schlagen sich mit ihren alten Lebensgewohnheiten herum. Manche von ihnen verzehrt der Spleen: sie verzehren sich vor Sehnsucht nach ihren Zirkularen, nicht der Bandwurm quält sie, der Aktenwurm plagt sie. Der Anblick eines weissen Kartons mit blauem Schild regt sie auf. Die Sterblichkeit unter den pensionierten Beamten ist erschreckend.
Oft und oft hört man in den Bureaus sagen: »Der alte Dingsda ist gestorben.« Teilnahmslos wird das gesagt, gehört. »Ah der!« oder »Na, das wundert mich nicht!« Das ist alles, was man äussert. Manchmal folgen noch ein paar biographische Glossen über den Verstorbenen, etwa so gefasst: »Er war doch ein komischer Kauz, der gute Dingsda.«
»O ja!«
»Stellen Sie sich vor, dass Dingsda seine Memoiren schrieb: er verzeichnete die Erwerbung eines neuen Hutes, den Sou, den er einem Bettler gab, und sogar . . .«
»Ah, Unsinn!«
»Ehrenwort! Er bezeichnete den Tag in seinem Kalender mit einem Kreuzchen.«
»Nicht möglich!«
»Seine Frau hat's mir gesagt.«
»Oho, oho, seine Frau hat Ihnen . . . das ist ja interessant!« sagt der Spassmacher des Bureaus.
Oder:
»Der alte Dingsda hatte die Heizwut, wieviel Scheite Holz stopfte er doch in den Ofen! man krepierte vor Hitze. Er muss Eis im Bauch gehabt haben. Eines Morgens kam er herein und sagte: ›Meine Mutter ist gestorben.‹ Genau als ob er gesagt hätte: ›Ich hab' mir ein Brötchen gekauft.‹ Er hat immer geschlafen. Unterm Arbeiten ist er eingeschlafen. Seine Feder, die er nie aus der Hand legte, machte dann selbst Tupfen aufs Papier.«
Oder:
»Der alte Dingsda war ein gefährlicher Schürzenjäger. Vier Monate von zwölfen nahm er Medizinen; er hat Pech gehabt.«
»Er wird an irgendeiner Bäuerin gestorben sein, der alte Wüstling! Zuwider war er genug. Und wie er die Leute empfing! ›Womit kann ich dienen?‹ Höflich wie ein Klotz.«