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Noch vor der Analyse der einzelnen Räderwerke der administrativen Maschine: des Hilfsarbeiters, des Expedienten, des Schreibers, des Bureauchefs, des Abteilungschefs, müssen wir von einigen meteorartigen Erscheinungen in der Bureaukratie sprechen: vom
Bibliothekar,
dem Privatsekretär,
dem Kassier,
dem Architekten,
dem Herrn mit der »besonderen Mission«.
Diese Beamten sind legendarische Existenzen; denn man sieht recht wenig von ihnen. Sie beziehen aber Gehalte, sie kommen gelegentlich, verschwinden, kommen wieder. Sie sind die letzten Besitzer von Sinekuren, will sagen Stellungen »ohne Sorgen«: sie haben tatsächlich die sichersten Stellungen, haben gar nichts zu tun, oder »arbeiten« zu Hause. Die Beamten erblicken sie nur von Zeit zu Zeit, wie die Astronomen die Kometen.
§1
Der Bibliothekar
Wozu braucht ein Ministerium eine Bibliothek? Hat irgendjemand dort Zeit zum Lesen? Etwa der Minister? Oder der Hilfsarbeiter? Hat man die Bibliothek für den Bibliothekar erschaffen, oder den Bibliothekar für die Bibliothek? Trotz allem: Die meisten Ministerien sind im Besitz einer Bibliothek. Als ein junger Herzog aus dem Hause der Orleans einen unserer hervorragendsten Dichter zum Bibliothekar eines Ministeriums ernennen liess, fragte er ihn lachend: »Gibt es dort auch Bücher?« »Ich werde sie machen,« antwortete der Poet.
Hat die Bibliothek erst einen Bestand von einigen hundert Bänden erreicht, dann erzeugt sie noch einen Beamten als Untergebenen des Bibliothekars, der gehalten ist, die Bücher abzustauben; im übrigen bestehen seine Funktionen darin, dem Sinekurenbesitzer jeden Monat einen Sack mit dreihundert Franken ins Haus zu tragen, wogegen der in ein Register seine Unterschrift setzt: kostet nur zehn Franken den Tag.
Ihr Deputierte, Pairs von Frankreich, Minister, Könige! erhaltet diese sieben Posten, desgleichen die zwei oder drei Spezialmuseen (es gibt ein Museum der Marine, ein Museum der Gipsabgüsse und eine Art von Heeresmuseum); denn sie vermögen einigen grossen Dichtern und auch einigen kleinen Schriftstellern das tägliche Brot zu geben.
Die Professorenstellen, Bibliothekarsposten, kurz, alle sogenannten literarischen Anstellungen sind nicht so zahlreich, dass man diese netten administrativen Pfründen abschaffen dürfte, die so wohl besetzt, so wohl verdient sind und die doch nicht immer grossen Dichtern und Schriftstellern zufallen, deren Leben ausschliesslich der Literatur gewidmet ist. Erinnert euch, dass ihr selbst im Juli 1830 ein Buch in das französische Wappen eingefügt habt! Und im übrigen, der Bibliothekar, der tausend Ecus Gehalt bezieht, macht zumindest ebensoviel Schulden, und so fliessen jährlich mindestens neue tausend Ecus in die Kassen des Trésor.
Die Dame Physiologie erklärt ausdrücklich, dass sie für diese wirksame Reklame von keinem Bibliothekar bezahlt worden ist.
Ein Ministerium, das keine Bibliothek besitzt, ist das Unterrichtsministerium. Gerade dieses aber sollte über eine Spezialbibliothek verfügen, in welcher alles zu finden sein müsste, was die Universität betrifft, die Unterricht erteilenden religiösen Orden, die Bücher über politische, private, religiöse Erziehung, die Systeme, Pläne usw.
Die merkwürdigste Büchersammlung ist die des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten; sie ist dem Publikum nicht zugänglich und trägt den pompösen Namen Staatsarchiv.
So ein Bibliothekar könnte für sein Ministerium von unschätzbarem Nutzen sein, wenn es wirklich seine Aufgabe wäre, von allen Büchern, Projekten, Verbesserungsvorschlägen usw. zu wissen, sie zu kennen, die in das Ressort seines Ministeriums fallen. Aber er wäre dann der höchste Rat des Ministeriums, eine Stellung, die es in Venedig gab. Er müsste zwanzigtausend Franken Gehalt haben und einen Unterbibliothekar, auf dass die so aufgespeicherte Summe von Wissen ewig erhalten bleibe. Amen!
§2
Der Architekt
Mir sind in Paris Visitenkarten in die Hände gekommen, die also lauteten: »Monsieur So und So, Architekt des Ministeriums des Innern, oder der Kammer der Deputierten usw.«
Was nun den der Deputiertenkammer betrifft: Wenn der alles wieder aufbauen sollte, was diese zerstört hat, dann wäre sein Platz keine Sinekure mehr und er wahrhaftig ein grosser Mann. Aber diese Posten erklären, warum in Frankreich in einem fort gebaut, demoliert und wieder aufgebaut wird. Denn die Architekten fühlen das Bedürfnis, die Notwendigkeit ihrer Posten zu beweisen. Wie die Dinge heute stehen, gehört es zum guten Ton, dass jedes Ministerium seinen eigenen Architekten habe. Die Schmeichelei ist in Frankreich zu allen Zeiten sehr erfinderisch gewesen. Unter Ludwig XIV. hatte jeder Minister seine Maitressen, und sein kleines Versailles. Meudon, das Palais Louvois ist auch heute für einen Prinzen nicht zu eng.
Wenn der Architekt das Ministerium erbaut, sind die Beamten nicht drin; wenn die Beamten drin sind, ist es der Architekt nicht mehr. Die Existenz des Architekten ist also wie die des Bibliothekars von einer Vernunft diktiert, die nur die Vernunft des Ministers begreift.
Dieser Posten ist jedoch ohne Zweifel geschaffen worden, um zu erweisen, wie weit ein Künstler ein Beamter, oder wie weit ein Beamter ein Künstler sein kann.
Der Architekt ist wie der Bibliothekar ein Beamter, dessen Glück schon der Seligkeit nahe ist. Er ist nur vom Minister abhängig, und oft genug ist der Minister es von ihm.
§3
Der Herr mit der »besonderen« Mission
In jedem Ministerium hat man das Bedürfnis, zu erfahren, ob in den andern Ländern die Angelegenheiten des Ministeriums, das mit dem eigenen korrespondiert, nicht besser stehen, oder gar, ob schlechter. Man wendet sich dann an einen Journalisten, einen Feuilletonisten, einen Publizisten, kurz irgendeinen Spezialisten, der kein Geld hat, aber die Gabe, die Angelegenheiten dieses Ministeriums, von denen der junge Mann keine Ahnung hat, zu vergleichen mit jenen der fremden Ministerien, von denen weder der junge Mann, noch sein Herr Minister eine Ahnung hat.
Eine solche Aufgabe, geboren aus der Ehe einer Republik mit einem König, – was man eine billige Regierungsform nennt, – heisst eine »besondere Mission«.
So eine Mission wird nur erlesenen Geistern erteilt, denen der Aufenthalt in Paris gewisse Schwierigkeiten bereitet, die ein Bedürfnis nach Luftveränderung und Bereicherung ihres Wissens empfinden, den Wunsch, neue Bekanntschaften zu machen und alten aus dem Wege zu gehen. Diese erlesenen Geister sind bereit, sodann im staatserhaltenden Interesse Reisen zu tun, wofür sie eine Entschädigung von drei- oder vierhundert Franken im Monat bekommen, was ich schäbig finde. Der Sohn eines Deputierten, der Literat, der Feuilletonschreiber wird also schlechter bezahlt als ein Commis voyageur. Die französische Regierung kauft eben alles zu Ramschpreisen. England bezahlt Reisende dieser Art ganz enorm; sie bringen dafür auch immer instruktive Berichte vergleichender Politik mit; verstehen es meisterhaft, den Stand fremder Industrien auszukundschaften, und können sagen, ob der Industrie Englands irgendwo Gefahr droht. Auch in Russland ist man in dieser Beziehung sehr nobel. Der französische Reisende aber, der von der Überlegenheit des eigenen Landes von Hause aus durchdrungen ist, macht unterwegs ungefähr fünfzehn Franken Schulden den Tag und bringt als grossartiges Endergebnis seiner Reisen einen Artikel für die Regierungsblätter heim, aus dem der normale Leser gar nichts, der Minister sehr wenig erfährt.
Diese Herren in »besonderen Missionen« sind die Drachenflieger der Ministerien.
§4
Der Kassier
Je weiter die Zentralisation der Verwaltung fortschreitet, desto mehr Kassen verschwinden. Bald wird man kaum noch eine leise Erinnerung an den Kassier des Ministeriums haben. Aber diese Stellung, die es noch in einigen Ministerien gibt (im Ministerium des Innern beispielsweise), ist die sicherste von allen. Der Kassier ist der Herr im Ministerium, er ist der Liebling unter den Beamten, die Lieblingskatze des Hauses. Während der Restauration hatte die Kammer weniger kleinliche Begriffe von Regierungsangelegenheiten, als heutzutage. Man sparte nicht an Kerzenstummeln – um im Kassierstil zu sprechen, – die Kammer bewilligte jedem Minister, der die Geschäfte übernahm, eine bestimmte Entschädigung für sogenannte Übersiedlungskosten. Denn es kostet ebensoviel, sich in einem Ministerium zu installieren, als es zu verlassen. Wie kann man denn auch mit einem Mann in hoher Stellung um ein paar Groschen feilschen, der gezwungen ist, seine Privatgeschäfte aufzugeben, seine eigenen Sachen alle liegen zu lassen, auszuziehen usw.? Diese Entschädigungssumme war fünfundzwanzigtausend Franken. Offenbar die eigenen phantastischen Launen vorausahnend, hat die Kammer nach dem grossen »Ausziehen« von 1830, als sie eben von zwanzig verschiedenen Ministerien entbunden wurde, diese Budgetposten gestrichen; jedenfalls, damit ihre Passion – das ewige Wechseln der Minister – nicht ein zu kostspieliges Vergnügen wird. Denn die Kammer ist sparsam und nüchtern selbst bei den verrücktesten Dingen, die sie bestimmt. M. Thiers allein hätte ja auf diese Art siebenmal fünfundzwanzigtausend Franken bekommen. Nie vorher hat man eine Revolution so vorsichtig Unvorsichtigkeiten tun sehen.
War ein Sturm über ein Ministerium niedergegangen, so fragten sich alle Beamten zitternd: »Was wird dieser Minister nun tun? Wird er die Gehälter erhöhen oder vermindern?« – Eins ist so fatal, wie das andere: vermehren bedeutet manchmal einfach: aus einem Gehalt zwei machen! – Da nahm der Herr Kassier fünfundzwanzig schöne Tausendfrankenscheine, liess sein breites Lakaiengesicht froh glänzen und sich bei Monseigneur melden, um das ministerielle Ehepaar in den ersten Momenten des Entzückens zu überraschen. Auf die Frage des Ministers nach seinem Begehr, brachte er die Summe zum Vorschein und erklärte ihren Sinn. Und die Gemahlin des Ministers, angenehm und beglückt überrascht, nahm eilig als gute Hausfrau hinweg, was die Übersiedlung kostete, er aber konnte als Erwiderung auf die Frage: »Ist Ihre Exzellenz mit meinen Diensten zufrieden usw.« mit Sicherheit die Bestätigung im Amte erwarten.
Der Kassier hat die Gabe, sich für eine Maschine auszugeben, für einen Mann ohne Verantwortung; er will nur als Ziffer gelten wie seine Ziffern. Er assimiliert sich seinen Goldstücken. In seine Kasse geduckt, wie ein Vogel im Käfig sitzt er da, gegen Absetzung gefeit. Will man das Bild eines glücklichen Mannes malen, dann braucht man nur das feiste, aufgeblähte und gleichzeitig platte Gesicht eines Ministerialkassiers zum Modell zu nehmen; Sorgenfalten gibt's da nicht.
Volle Kasse – voller Bauch!
§5
Der Privatsekretär
Ein richtiger Zugvogel, verschwindet der Privatsekretär eines jeden Ministers mit seinem Herrn, um oft wieder mit ihm auf der Bildfläche zu erscheinen. Sinkt der Kurs des Ministers in der königlichen Gunst oder der parlamentarischen Atmosphäre, dann fällt mit ihm der Privatsekretär, um später auch wieder mit in die Höhe gebracht zu werden. Oder man setzt ihm irgendeine fette Pfründe der Regierung aus; beim Rechnungshof etwa, dieser gastlichen Herberge, in der die Sekretäre abwarten, bis der Sturm sich verzogen hat.
Der Privatsekretär ist stets ein junger Mann, dessen besondere Fähigkeiten einzig und allein dem Minister bekannt sind. Dieser junge Mann ist der kleine Fürst von Wagram des ministeriellen Napoleons; seine Frau sein Hephaistion. Er weiss alle Geheimnisse, erhitzt die Laugewordenen wieder, bringt Vorschläge, schleppt sie wieder wo anders hin, begräbt sie, spricht jene »Nein« und »Ja«, die der Minister selbst nicht sagen will. Er fängt die ersten Schüsse, die ersten Ausbrüche der Verzweiflung und der Wut auf. Man weint und man lacht mit ihm. Er spielt nach Bedarf die Rolle des Beleidigten und Kompromittierten, umschmeichelt die Blätter und bearbeitet ihre Redakteure. Er ist das geheimnisvolle Bindeglied, das mancherlei Interessen mit dem Minister verknüpft, ist diskret wie ein Beichtvater. Er weiss und weiss nicht, er weiss alles oder gar nichts. Er muss flinke Beine und sichere Augen haben; er sagt über den Minister, was der nicht selbst über sich sagen kann. Zuguterletzt: mit ihm darf der Minister sein, wie er ist, seine Perücke, sein falsches Gebiss und seine Skrupel ablegen, seine Pantoffeln anziehen, seine schlauen Masken ablegen und sein Gewissen sozusagen im Négligé zeigen.
Dieser junge Mann ist nicht gerade ein Staatsmann, aber er ist ein Politiker und zuweilen personifiziert er geradezu die Politik eines Mannes.
Fast immer jung, ist er im ministeriellen Haushalt ungefähr, was der Adjutant für den General ist. Sein Metier ist Freundschaft. Er ist der Pylades des Ministers, er schmeichelt ihm und gibt Ratschläge. Er muss schmeicheln, um raten zu dürfen, raten, um schmeicheln zu dürfen; die dickste Schmeichelei muss aussehen wie ein offenes Freundeswort. Fast alle die jungen Leute, die dieses Handwerk üben, haben denn auch eine gelbliche Gesichtsfarbe . . . Die Gewohnheit, zu allem und jedem, was gesagt wird, mit dem Kopf zu nicken, um Zustimmung auszudrücken, gibt ihrem Kopf etwas Fremdartiges. Und sie nicken unbedenklich zu allem, was man nur sagen kann. Ihre Sprache ist voll von »aber«, »immerhin«, »trotz allem«, »ich«, »ich würde«, »ich, an Ihrer Stelle« (sie sagen recht oft: »An Ihrer Stelle«), kurz, von Worten, die vorsichtige Bedenken vorbereiten.
So ein Opfertier hat nur zehn- bis zwanzigtausend Franken Gehalt, allerdings profitiert er einen Platz in der Loge, Einladungen, darf im Wagen des Ministers sitzen. Wenn man sich überlegt, wie viele Briefe er neben seiner sonstigen Betätigung noch öffnen und lesen muss, so wird man zugestehen, dass ein so nützliches Individuum in einer Monarchie besser bezahlt würde. Der Zar Nikolaus wäre froh, für fünfzigtausend Franken im Jahre so einen liebenswürdigen konstitutionellen Pudel zu bekommen, was Sanftes, immer schön Frisiertes, Zärtliches, Geschäftiges, erstaunlich gut Dressiertes, Wachsames und Treues.
Allein nur in den Bureaus einer konstitutionellen Verwaltung kann der Privatsekretär gedeihen, nur dort entdeckt, gezüchtet und zur vollen Blüte entwickelt werden. In einer Monarchie gibt es nur Höflinge und Lakaien; erst wo eine konstitutionelle Verfassung da ist, kann man bedient, umschmeichelt werden von freien Männern. Also sind die Minister in Frankreich glücklicher als die Frauen und die Könige: sie haben einen, der sie versteht.
Ich für meinen Teil habe diese Privatsekretäre immer bedauert, wie ich die Frauen und schönes weisses Papier bedauere: sie müssen alles geduldig über sich ergehen lassen. Wie keusche Frauen dürfen sie Talent nur im geheimen haben, nur für ihre Herren, die Minister. Verraten sie ihr Talent der Welt, so ist es aus mit ihnen.
Der Privatsekretär M. Guizots heisst: Genie. Man kann von diesem Minister wie von Sokrates sagen, er und sein Genie seien unzertrennlich.
Ein Privatsekretär ist ein Freund, der einem von der Regierung zur Verfügung gestellt wird.