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Sie flechten und weben

Das Fräulein, bei dem ich jetzt meine Wurst kaufe, hat eine ganz erstaunliche Ähnlichkeit mit der Lavinia des Tizian, die im hiesigen Museum hängt. Es ist derselbe große starre Blick und dasselbe weltberühmte Kinn.

Der Unterschied besteht eigentlich nur darin, daß die Lavinia eine goldene Schüssel mit Orangen und Melonen in den Händen hält und daß dagegen das Fräulein dem Kunden ein Paket mit Wurst über den Ladentisch reicht.

Aber dieser Unterschied ist auch nicht besonders groß.

Als ich die Ähnlichkeit zum ersten Male bemerkte, war ich so betroffen, daß ich das Wurstfräulein eine Minute lang sprachlos anstarrte. Selbstverständlich weiß das Wurstfräulein gar nicht, daß es eine Ähnlichkeit mit der Lavinia des Tizian hat; deshalb wunderte es sich, als ich es so ansah. Wie Wurstfräulein nun einmal sind, vermutete es wohl, daß ich unzüchtige Absichten im Sinne trage.

Seitdem verläuft die Sache so: Immer, wenn ich in den Laden trete und das Fräulein erblicke, muß ich an die Lavinia des Tizian denken, und das ist sicher ein Gewinn, denn wir denken ja alle viel zuwenig an die Lavinia des Tizian. Und umgekehrt: Wenn ich in das Museum gehe und die Lavinia des Tizian erblicke, muß ich an das Wurstfräulein denken. Und ob das ein Gewinn ist, weiß ich noch nicht.

Immerhin freue ich mich, daß sich eine neue geheimnisvolle Beziehung in mein Leben fügte, denn wir sind arm an geheimnisvollen Beziehungen geworden. So lasse ich das Abenteuer still entstehen und warte ab, wohin es sich wenden will.

Vorläufig scheint es sich dahin wenden zu wollen, daß ich jetzt mehr Wurst einkaufe als vorher. Seit gestern weiß ich auch schon, daß das Wurstfräulein mit Vornamen Senta heißt.


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