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Die hundert Freier der Königin Penelope waren erschlagen, und ihre Leichen wurden, in Teppiche gehüllt, aus dem Festsaal getragen, einer nach dem anderen. Obgleich es schon gegen die Mitternacht ging, war das Haus nach dem furchtbaren Vorfall noch in voller Bewegung; die Fenster strahlten in die Nacht hinaus, und Diener liefen hin und her. Man hörte, wie in der großen Halle das Blut mit Besen über die Steinfließen ausgefegt wurde.
In dem hell erleuchteten Schlafgemach lag Odysseus neben seiner Gattin Penelope. Und nachdem sie sich in Liebe wiedergefunden hatten, setzte er sich aufrecht und begann von seinem zwanzigjährigen Abenteuer zu erzählen; von Ilion, von dem Streit der Könige im Lager; von der Heimfahrt und den Wunderdingen der fernen See. Aber als er bei Scylla und Charybdis ankam, merkte er, daß Penelope neben ihm eingeschlafen war. Da dachte er: Die Arme hat heute viel durchgemacht, ich werde ihr morgen weitererzählen; und legte sein Haupt neben das ihrige auf die Purpurkissen.
In dem königlichen Palast war zunächst viel zu schaffen und zu richten, denn die jungen Leute hatten mit ihrem wilden Wesen alles in Unordnung gebracht. Odysseus entwarf einen Plan, ließ sich durch seine Verwalter Bericht erstatten und ging ans Werk.
Er ließ die große Halle mit neuen Marmorplatten belegen, um die letzte Erinnerung an den vergossenen Wein, aber auch an das vergossene Blut zu tilgen. Die Keller und Vorratskammern waren zur Hälfte leer und mußten neu ausgestattet werden; die Ölmühlen, früher ein Stolz der königlichen Wirtschaft, waren jahrelang nicht mehr benutzt worden, und ihre Wiederherstellung erforderte Zeit und Mühe.
Hinter dem Hause hatten die Freier einen großen Blumengarten anlegen lassen, zu dessen Besorgung ein syrischer Gärtner angestellt worden war. Dort wurden Narzissen und Nelken gezogen und jene hundertblättrigen Rosen, deren Zucht eben gelungen war. Mit diesen Blumen zierten die Freier ihre Festtafel und brachten große Sträuße der Königin, um deren Gunst sie warben. Penelope aber nahm diese Blumengaben gern entgegen und schmückte damit die Bronzevasen, die auf den Gesimsen ihres Schlafzimmers standen.
Jetzt ließ Odysseus den Blumengarten abreißen und legte an seiner Stelle eine Kohlpflanzung an mit zementierten Bewässerungskanälen, wie er es in Ägypten gesehen hatte. Die Kohlrüben schlugen gut an und gaben Viehfutter für einige Monate. Aber die Bronzevasen der Königin blieben von nun an leer.
Darauf hatte Odysseus sich während seiner langen Heimfahrt am meisten gefreut, wie er alle diese Abenteuer seiner Gattin erzählen würde und wie sie begierig an seinem Munde hängen würde, ihn mit Fragen unterbrechend.
Doch er mußte bald erkennen, daß sie keine so aufmerksame Zuhörerin war wie die Phäaken, die zwei Tage lang seinem melodischen Bericht gelauscht hatten.
Wenn er Penelope zu erzählen begann, arbeitete sie schweigend an den goldenen Mustern eines Tuches oder blickte zerstreut durch das Fenster; einmal, als er eine Frage stellte, mußte er erkennen, daß sie die Lästrygonen mit den Lotophagen verwechselte; und das schmerzte ihn, denn er hielt auf die Genauigkeit seines Erlebnisses, das er um so mehr liebte, je ferner es wurde.
Nur wenn er von der Nymphe Kalypso erzählte, schien sie aufmerksamer hinzuhören. Und diese Teilnahme reizte ihn, so daß er jenen Teil seiner Irrfahrt ausführlicher schilderte: die einsame Insel, den wunderbaren Hain, in dessen Bäumen die Seevögel nisteten, und die duftende Grotte der Göttin.
»Wie lange bist du bei dieser Kalypso geblieben?« fragte sie ihn einmal.
»Sieben Jahre«, antwortete er.
Sie beugte sich auf die Arbeit nieder, und ihre Augen wurden dunkel.
Solange Odysseus fort war, hatte jeden Abend zur Stunde des Lichteranzündens das Fest der Freier in der großen Halle begonnen. Und Penelope hörte dann bis in ihr fernes dunkelndes Zimmer den Lärm des Gelages, den Klang der Flöte und die frohen Stimmen der Männer, die ihr ergeben waren.
Manchmal war sie verschleiert und heimlich auf die Galerie gegangen, die oben um die Halle lief, und hatte hinter einer Säule her die Männer betrachtet, die auf vergoldeten Sesseln saßen: den göttlichen Antinoos, dessen Augen waren wie die Nacht, den vornehmen, schon älteren Eurymachos und Menon, der noch ein Knabe war.
Jetzt war die Flöte verstummt, und alles ging im Hause einen ordentlichen Gang. Aber immer wenn die Stunde des Lichteranzündens kam, wurde die Königin unruhig, und es schien, als fehlten ihr dieser Ton und diese fernen Stimmen, die jetzt alle gestorben waren. Und einmal konnte sie nicht widerstehen; sie warf den Schleier über wie damals und ging auf die Galerie und sah in den Saal hinunter. Da standen die vergoldeten Sessel in langen Reihen an der Wand, und jeder war mit einem Überzug aus grauer Leinwand gedeckt.
Und durch die Stille hörte sie von draußen die Stimme ihres Gemahls, der sagte: »Eumaios, du darfst die Ferkel nicht mehr in der Nacht draußen lassen; es fängt an, kühl zu werden.«
Einst, als bei Tisch einer jener runden Ziegenkäse aufgetragen wurde, die es auf allen Inseln des Mittelmeeres gibt, mußte Odysseus still vor sich hinlachen. Sie fragte ihn nicht, was er hätte, und so fing er von selbst an:
»Dieser Ziegenkäse erinnert mich an die Höhle des Polyphem. Er hatte davon viele Hunderte auf den Brettern, die an den Steinwänden entlangliefen. Und als wir nun, meine treuen Gefährten und ich, in die Höhle eingedrungen waren, da sagte ich ...«
»Mein Freund«, unterbrach sie ihn, »du scheinst nicht zu wissen, daß du mir diese Geschichte schon viermal erzählt hast. Ich kenne sie nun; wie ihr den armen alten Mann betrunken gemacht habt, wie ihr ihm – zehn gegen einen – sein einziges Auge geblendet habt, das habe ich öfter gehört, als mir angenehm war. Viel lieber möchte ich von dir erfahren, was du diese zehn Jahre bei Kalypso getrieben hast.«
»Sieben Jahre«, antwortete er.
»Gestern sagtest du zehn; du hast eben auf deinen Fahrten so viel lügen müssen, armer Freund, daß du auch jetzt die Wahrheit nicht mehr sagen kannst. Aber ob es nun zehn Jahre waren oder sieben, auf jeden Fall war es sehr lange, und du scheinst dich dort wohl gefühlt zu haben; also antworte auf meine Frage: was hast du diese lange Zeit getrieben?«
Jetzt hätte er antworten müssen: Weib, ich habe mich alle diese Jahre nach dir gesehnt; ich habe alle diese Jahre am Strande der fernen Insel gesessen, über das Meer geblickt und die Götter angefleht, daß ich nur noch einmal den Rauch deines Hauses sehen könnte.
So hätte er antworten müssen. Aber als er sah, daß ihre Augen kalt und hart auf ihn gerichtet waren, verschwieg er es. Und nie hat sie von seinem großen Heimweh erfahren.
»Ich habe dort viel Wein getrunken«, antwortete er ruhig. »Der Wein jener Inseln ist gut, wenn auch etwas sauer.«
Ein Jahr nach der Heimkehr des Odysseus starb sein Vater Laertes. Das war ihm ein schwerer Schlag, denn er liebte den Greis, der ihm ein Freund gewesen war in dem verödeten Hause.
Auch war Laertes der einzige gewesen, dem Odysseus von seinen Abenteuern erzählen konnte. Und ein farbiges Erzählen des Erlebten und des Erfundenen war ihm Notwendigkeit. Die alte Schaffnerin Eurykleia aber war taub, und Telemach hatte andere Sorgen. Deshalb hatte Odysseus gern im Vorwerk draußen bei Laertes gesessen und mit lebhaften Gebärden von Riesen und Prinzessinnen erzählt, wenn er auch bemerken konnte, daß der Greis, schon abgewandt und verklärt, kaum mehr hinhörte.
Als er tot war, setzte ihm Odysseus unten am Meeresstrand ein Grabmal in Form einer Pyramide aus geschliffenem Stein, an deren Eingang zwei bronzene Mädchen standen. Dort saß er viel allein, in sich zusammengesunken. Er war jetzt fünfzig Jahre alt, und das goldene Lockenhaar, das Göttinnen geliebt hatten, begann zu ergrauen.
Um diese Zeit verabschiedete sich Telemach von seinen Eltern. Das unruhige Blut des Vaters regte sich wohl in ihm, auch mochte ihm die unbehagliche Stimmung im Hause nicht gefallen, und so tat er sich mit phönizischen Schiffern zusammen, die auf der Fahrt in das östliche Meer die Insel angelaufen waren.
Und vom Dach des Hauses, von wo man jenseits der bewaldeten Hügel das Meer liegen sehen konnte, blickte Odysseus dem Schiffe nach. Es war Windstille, und tagelang lag das Schiff an derselben Stelle des Horizontes; dann, als die Meeresfläche sich vom frischen Winde dunkelte, spannte es leuchtende Segel auf und zog den Erlebnissen der Ferne zu.
Jahrelang hatte Odysseus eine kleine, blaue Meeresmuschel bei sich getragen, die von der Insel der Kalypso stammte. Dort hatte er wieder einmal am Strande gelegen und über die spritzenden Wellen der Brandung hinweg sehnend in die Ferne gesehen. Dabei hatte seine Hand im Sande gespielt und die kleine Muschel gefaßt; seitdem trug er sie bei sich als Erinnerung an die Süßigkeit jener Stunden. Auch als er nach dem Sturm, der sein Floß zerschlug, tagelang auf dem Meere schwamm, war die Muschel bei ihm, in seinem Gürtel gewesen.
Penelope bemerkte bald das kleine Ding und wie lieb es ihm war.
»Woher hast du diese Muschel?« fragte sie ihn.
»Ich habe sie von der Insel der Kalypso.«
»Dann verstehe ich, daß sie dir so lieb ist.«
Er beherrschte seine Ungeduld. »Nein«, sagte er, »du verstehst nichts, du denkst alles falsch.«
Sie warf ihre Arbeit hin und ging zur Türe. »Weib«, rief er ihr nach, »wollen wir uns nicht aussprechen; soll der Dämon des Mißtrauens sich zwischen uns setzen?«
Aber sie machte schweigend die Tür hinter sich zu.
Abends vor dem Schlafengehen legte Odysseus die kleine Muschel auf das Gesims neben sein Bett. Und als er eines Morgens aufstand, war sie verschwunden. Er suchte überall, während Penelope ihm schweigend zusah, und als er sie nicht fand, rief er die ganze Dienerschaft zusammen und versprach dem, der ihm die Muschel brächte, eine Mine Goldes.
»Brauche ich noch andere Beweise«, sagte Penelope, »nun zeigt es sich, wie sehr du an allem hängst, was dich an die Dirne erinnert.« Da faßte ihn der Zorn. »Sie ist keine Dirne, sie hat mir geholfen in den Jahren der Not; und ich werde ihr meinen Dank bewahren.«
»Dank, ich weiß wofür«, sagte Penelope mit einem häßlichen Lächeln.
Odysseus bemerkte, wie ungünstig sie in diesem Augenblicke aussah, und wurde ruhig. »Du kannst das nicht begreifen«, sagte er, »aber ich werde mir die Heiligkeit meines Leidens nicht besudeln lassen.«
Nun blieb er tagelang allein unten am Strande der See zwischen den Klippen. In seinen Beziehungen zum Meere hatte sich eine merkwürdige Veränderung vollzogen. Zuerst, nach seiner Heimkehr, hatte er das Gewässer nicht sehen wollen, in dem er so viel erduldet; damals pflegte er zu sagen, glücklich seiest du nur dort, wo die Leute das Ruder, das du über der Schulter trägst, für einen Spaten halten. Jetzt liebte er das Meer wieder und saß in den Steinen und lauschte auf das große Tönen der Brandung, bei dem ihm schmerzlich süß ein Gefühl der Kameradschaftlichkeit aufstieg.
Und da mußte er denken: wie hat sich doch alles gewendet; dort auf der Insel sehnte ich mich nach der Heimat; und nun ich die Heimat habe, sitze ich in der Wüste des Strandes zwischen den angeschwemmten Brettern der Flut und habe Heimweh nach der Heimatlosigkeit.
Aber in fabelhaftem Glänze leuchteten in seinem Innern all die Abenteuer der zwanzig Jahre auf. Und während das erlöschende Auge den Horizont suchte, flüsterten, nur für ihn selbst, seine Lippen unaufhörlich den unsterblichen Bericht: von dem Kampf der Könige, von der nächtlichen Schiffahrt durch die Meerenge und von den Inseln der Nymphen.