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1912
Es hieße sich in Deutschland einer gefährlichen Täuschung hingeben, wollte man annehmen, die deutsche Erzählungskunst habe seit längster Zeit, vielleicht seit dem Erscheinendes »Werther«, den auch nur mindesten Einfluß auf die Weltliteratur genommen. Was seit hundert Jahren bei uns an Belletristik produziert wurde, ist – kein Leugnen hilft gegen Tatsachen – für den nationalen Hausgebrauch gewesen und unsere epische Handelsbilanz bleibt noch heute erschreckend passiv. Blättert man die Verzeichnisse englischer, französischer, italienischer Ausgaben durch, die bestrebt sind, die Standard works der Erzählungskunst zu vereinen, so wird man mit einigem Erstaunen und noch größerer Kränkung unter hundert, oft fünfhundert Werken nicht ein einziges deutsches finden. Solche Übereinstimmung nun ist niemals Zufall, sondern Zutagetreten eines latenten Defektes. Selbst unsere bedeutendsten sogenannten Romane, der »Wilhelm Meister« und der »Grüne Heinrich«, liegen bei ihrer eminenten Bedeutung für jeden, der seelische Erlebnisse sucht, doch weitab vom Begriff des reinen epischen Kunstwerkes, und – tragisches Verhängnis! – der einzige deutsche Roman, der hätte Weltliteratur werden können, war jenes dickleibige Manuskript, das Heinrich von Kleist kurz vor dem Ende seinem Verleger übergab, der es als Makulatur verwendete. Erzähler im höchsten Sinne kann nur ein freier, mit sich selbst nicht mehr beschäftigter Mensch sein, Proteus, der Gestaltlose, er, dem es gegeben ist, sich in steter Selbstentäußerung in seine eigenen Gestalten restlos zu verwandeln, in ihren Meinungen die seine zu vergessen, einer, der aufhören kann im Schaffen, Substanz zu sein, Körper und Seele, der nur Sinn wird, sehendes Auge, horchendes Ohr, redende Zunge. Bei den Deutschen nun, denen jedes Kunstwerk nur immer Vorwand ist, näher an sich selbst (statt an die Welt) heranzulangen, das innere Kunstwerk der Persönlichkeit zu schaffen (statt das äußere des Werkes) scheint irgend etwas dieser letzten Selbstzerstörung, dieser äußersten Verwandlungsfähigkeit zu widerstreben. Die deutschen Erzähler gleichen alle jenen (oft unendlich bezwingenden) Schauspielern, die nie sich ganz in ihren Gestalten verlieren, von deren Ich immer noch etwas im Spiele wach bleibt, statt ganz im Traum der Schöpfung zu versinken. Unseren bedeutendsten Romanen – ich nannte schon den »Wilhelm Meister« und den »Grünen Heinrich« – haftet diese Zwitterhaftigkeit der Erlebnisdichtung an, sie sind, um ein Bild der Geometrie zu versuchen, nie Kreise der Welt, die sich völlig ineinanderschließen, sondern Tangenten vom Rande einer Persönlichkeit in die Welt hinaus. Nicht das Werk ist der Kreis, Symbol der fehllosen Geschlossenheit, sondern der Schöpfer, nicht der Künstler vollendet sich, sondern der Mensch (der für das Kunstwerk recht gleichgültig ist). Erlebnisdichtung ist eben keine reine Dichtung, und die wachsende Geschlossenheit im Schöpfer rächt sich mit einer fast proportionalen Brüchigkeit im Geschaffenen. Die besten Romane auch unserer Zeit, die sich ungleich deutlicher als jede frühere um kunsttheoretische Erkenntnis bemüht, sind verhängnisvollerweise in ihren besten Exemplaren – ich nenne nur Thomas Manns »Buddenbrooks«, Schnitzlers »Weg ins Freie«, Ricarda Huchs »Ludolf Ursleu« und Hesses »Camenzind« – verwandeltes Eigenerlebnis, zerdehntes Rückentsinnen des Auges und Ohres, statt frei Erfundenes, und haben alle die Gefahr, mit dieser ersten unmittelbarsten Wiedergabe des Selbsterlebten schon ihre ganze innere Welt zu verraten. Damit soll – ich liebe all diese Bücher sehr – kein Einwand gegen ihre Schönheit, sondern nur gegen die Unreinheit der Gattung versucht sein, und tatsächlich hat schon die Weltliteratur dieses Empfinden bekräftigt, denn keiner dieser Romane hat irgendwo im Auslande eine auch nur annähernd ähnliche Wirkung sich erzwingen können. Wie ein Verhängnis scheint die Persönlichkeitskultur, das Erbteil Goethes, und der jedem Deutschen innewohnende metaphysische Trieb an dem Blut jedes einzelnen Kunstwerks zu zehren und jener freien Darstellung, jener unbefangenen, fast spielenden Art des Erfindens (»fiction« nennt der Engländer die Belletristik und trifft damit ins Schwarze) zu wehren, die für den großen Erzähler immer charakteristisch bleiben wird. Darum ist es kein Zufall, daß die beiden, die neben Thomas Mann, dem bewußt Erstarkenden, die beste Hoffnung auf einen wirklichen deutschen Roman geben, daß Heinrich Mann und Jakob Wassermann schon mit ihrem Blute von der deutschen Tradition gelöst sind. Der eine, Heinrich Mann, durch romanische Abkunft und vor allem seine innerliche Antipathie gegen das Breitbürgerliche, das heute die deutsche Kunst so zu verfetten droht, der andere, Jakob Wassermann, durch stark ausgeprägte Rassenfremdheit und einen Willen zur reinen Epik, wie er ähnlich bewußt in Deutschland noch nicht zu finden war.
Jakob Wassermann, sagte ich, entgeht diesem Gesetz. Denn er ist Jude. Jude in einem viel tieferen, lebendigeren Sinn der inneren Bestimmung, als sonst der konfessionelle Vermerk zu begrenzen pflegt. Denn bei den meisten jüdischen Schriftstellern in Deutschland ist das Judentum längst nicht mehr die innere Substanz, der Kern ihres Wesens, sondern nur eine Art intellektueller Optik, eine Anschauungsform, ein geistiger Mechanismus. Es ist nicht Blickform, sondern Brille, ein Medium der Anschauung, aber nichts selbst Wirkendes, und darum eher ein Hemmnis höchster Anspannung. Dieses Kulturjudentum ist fast nie künstlerisch nahrhaft, weil es eine zu dünne Oberflächenschicht ist, und bedingt jene merkwürdige Wurzellosigkeit, die allerdings wieder durch gesteigerte Anpassungsmöglichkeiten kompensiert wird. Es ist auf dem Weg der tausend Verwandlungen, Filtrierungen und Vermischungen dem echten, dem alttestamentarischen schon so ferne geworden, daß solche Kulturjuden ebensowenig Juden genannt werden dürften wie die Italiener von heute noch Römer und die Griechen Hellenen. Wassermanns Zusammenhang mit seiner Rasse ist ein viel intimerer, er ist nicht nur tingiert vom Judentum, sondern fast ausschließlich von ihm bestimmt, nur aus ihm zu begreifen, wenn auch er (mit J.J. David) von allen modernen Erzählern der deutscheste scheint. Er stammt aus einem jener Winkel in Franken, wo die jüdischen Gemeinden, seit Jahrhunderten eingenistet, in dauernd gegensätzlicher Abgeschlossenheit ihre eigene Art und damit die schöpferische Tradition bewahrt haben. Und durch eine geheimnisvolle Polarität der angespannten Gegensätze ist die elementare Urkraft der jüdischen Weltvision der deutschen näher als der jeder anderen Nation, weil ja beide in ihren Endzielen nach einer einheitlichen moralisch-metaphysischen Vergeistigung des ganzen Lebens streben, freilich in einer unendlichen Verschiedenheit der Methode, aber eins im höchsten Weltbilde, etwa in jener bedeutsamen Begegnung Spinozas und Goethes am äußersten Endpunkte ihrer Geistigkeit. Während aber bei den Deutschen diese Idee der Einheit eine schon eingeborene ist, die nur einer inneren Vervollkommnung und Läuterung bedarf, ist sie bei dem Judentum erst eine errungene. Martin Buber hat in seinen so bedeutsamen Reden über das Judentum die schöne Formel gefunden, daß es ein ständiger Dualismus mit steter Sehnsucht nach Einheit sei. Diese Dualität zwischen der geistigen und sinnlichen Sphäre ist nun für den Künstler die Wahl zwischen der Vision und der Analyse bei jeder innern Weltgestaltung. Schon das Alte Testament, die höchste Probe der jüdischen Kunst, birgt die Urform dieses Zwiespalts in sich, die orientalisch üppige Bilderpracht und die mathematisch reine Formulierung der Idee, den Trieb zum geistigen Gesetz, der in unendlichen Zwischenstufen aufsteigt bis zu jener unsinnlichen Form Gottes, der vielleicht bedeutendsten logischen Idee der Welt. Wassermann, dessen Begabung noch in jenem alttestamentarischen, orientalischen Judentum verwurzelt ist, hat beide diese Urkräfte gegensätzlich in sich entwickelt, eine ungestüme, zu lyrischer Ausschweifung geneigte sinnlich-visionäre, typisch orientalische Phantasie, aber gekreuzt von einem sicheren Wirklichkeitssinn, einem analytischen Spürtrieb, beide voll Gier, sich weltschöpferisch zu betätigen, beide schroff einander gegenüber. Und die Geschichte des Aufstiegs in Wassermanns Schaffen ist die ihrer Versöhnung, ihrer gewaltsamen Vereinung durch einen erstarkenden Willen zur reinen Kunst. Anfangs hat der noch von Verantwortungsgefühl nicht so sehr beschwerte Dichter diese beiden Triebe frei schaffen lassen; es gibt Bücher, die nur von dem einen geschaffen sind (der »Alexander« und das wundervolle Vorspiel zu den »Juden von Zirndorf« vom ziellosvisionären) und solche, die nur Destillate der Wirklichkeit sind (»Der Moloch« und die kunsttheoretischen Dialoge), aber das Wachsen seines Werkes ist ausschließlich von dem Urtrieb bestimmt, die beiden voneinander arbeitenden Kräfte in eine einzige zu verwandeln, der blinden Gewalt der Sinnlichkeit die Zielbestimmung des Intellekts zu verleihen, eine logische Ordnung der Visionen zu ermöglichen und so, auf künstlichem Wege, eine gesteigerte, aber doch richtige künstlerische Anschauung der Welt in seinen Büchern zu gewinnen, die der elementaren sinnlich-eingeborenen gleichwertig ist.
Denn Wassermanns Kunst der einheitlichen Weltanschauung – dafür zeugen seine Rasse und seine Anfänge – ist nicht elementar, nicht primitiv wie die der meisten großen Erzähler, sondern errungen, erlernt und erobert. Es gibt Künstler, denen sie von Anbeginn geschenkt ist. Tolstoi war einer, Gottfried Keller, Dickens, Dichter sie alle, deren künstlicher Kosmos neben dem wirklichen existierte, aber identisch mit ihm durch jene »prästabilierte Harmonie« der Anschauung, der zufolge jede Monade, jedes flüchtigste Geschehnis hüben und drüben durch einen unbegreiflichen Zufall (der eben das Genie der Darstellung bedeutet) immerwährend identisch bleibt. Der Künstler, der nur aus Vision schafft, ist gewissermaßen der Weitsichtige, dem alle Realität vor den Augen verschwimmt und Geschehnisse nur in wolkiger Ferne auftauchen, während der Analytiker wiederum der Nahsichtige wäre, der über der deutlichen Erkenntnis des Geschauten jeden Horizont verliert. Sie aber, diese Unmittelbaren, die reinen Erzähler wären dann die Normalsichtigen, die Nähe und Ferne in richtiger Proportion zu sich selbst erfassen, die ohne Spiegelungen scharfrandig und klar sehen, sie sind – das Unkomplizierte ist ja nicht das Gewöhnliche, sondern das Seltenste des Lebens – Außerordentliche und Begnadete, deren dichterische Welt zu einer ursprünglichen Identität mit der realen gelangt. Wassermann ist keiner von diesen Beschenkten. Er ist, wie jeder Leidenschaftliche, anfangs geneigt, unwahr zu sein durch Übertreibung und Überhitzung der Gefühlswelt, gleichzeitig aber – der jüdische Zwiespalt – als Analytiker versucht, skeptisch seine eigenen Visionen zu zersetzen. Unruhe ist sein Anbeginn und seine ganze Entwicklung eigentlich nichts als das Ringen um jenes Equilibrium, das für den Epiker notwendig ist, um eine schöpferische Vereinung seiner disparaten Fähigkeiten. Keiner von den Neueren hat sich ähnlich zäh und bewußt um alle Probleme des Erzählens, des Stils und der Gestaltung bemüht, und schon darum ist Wassermanns Entwicklung eine der schönsten Anspannungen künstlerischer Kraft um ihre eigene innere Ordnung, ein Kampf, der, von reinstem Wertgefühl begonnen, mit zunehmender Erkenntnis der Schwierigkeiten immer erbitterter wird. Neun Zehntel der Energie, die Wassermann für sein Werk verbraucht hat, liegt nicht in den Büchern beschlossen, sondern in verworfenen Versuchen, in unterdrückten Werken. Sein Wille zur reinen epischen Kunst ist eine der heroischsten Anspannungen eines Talents um seine innere Vollendung, würdig Flauberts, der in der Mitte seines Werkes ihm als Beispiel zur Seite trat, ein Kampf, dämonisch wie jeder, den menschlicher Wille gegen die Natur und gegen das Schicksal führt. Wie schmerzhaft Wassermann an dem eingeborenen Zwiespalt gelitten hat, spürt man, wenn man sich tiefer in seine Bücher beugt und auf ihrem untersten Grunde (schon in jenen ersten nur ahnungsvollen) als letztes Motiv eben jene Vernichtung des Zwiespältigen, jene brennende Sehnsucht nach Unmittelbarkeit findet. Der reine Mensch etwa Dostojewskijs »Idiot« –, der unkompliziert fühlende, elementare, von der Sinnlichkeit nicht getrübte, von der Logik nicht verschnürte (also auch der reine Künstler), erscheint dort als der höchste Typus des Lebens. Durch alle seine Gestalten glänzt diese sehnsüchtige Idee der Befreiung, des nackt der Welt Gegenüberstehens, des Weltbegreifens ohne Medium. Sein »Agathon« war der erste dieser Reihe, der »Gute« neben Anselm Wanderer, dem noch unsicheren, noch nicht angelangten, Agathon, sein Symbol der Überwindung des jüdischen Zwiespalts, dann »Caspar Hauser«, der von allen Rassen und Vorurteilen Freie, und gleichzeitig im Weiblichen »Renate«, die unbefleckbare, und »Virginia«, die unbefleckte – immer aber der klare ungefaltete rein triebhafte Mensch als Ideal der Vollendung. Und immer neben oder schon hinter ihnen – das Antithetische ist Wassermann im Theoretischen und Künstlerischen geblieben – in parallelen Linien zum Aufstieg, den sie erreichen, die Gefahr, der sie entflüchten. Stefan Gudsticker, der Lügner, Erwin Reiner, der Blender, Arrhideus, der Sophist – alles, wie Wassermann später aufgedeckt hat, Wandelformen des »Literaten«, des nicht Unmittelbaren – begleiten als Schatten die Strahlenden, immer lauert der Zwiespalt, noch nicht ganz überwunden, hinter der Einheit. Diese eine große Idee der Unmittelbarkeit, die gleichzeitig auch die seiner Kunst ist, überschwebt unsichtbar alle Bücher Wassermanns, so wie über den hellen und finsteren Bildern der Bibel die Gestalt des namenlosen Gottes waltet. Und zu dieser Reinheit der Figuren mit gleicher Reinheit des Schaffens emporzusteigen, solche irdische Vollendung mit gleicher der Kunst zu vereinen, das ist die dämonische Anspannung seiner fünfzehn Jahre Arbeit. Noch ist er nicht am Ziel, noch ist niemals in seinen Büchern diese ideale Gestalt, dieser neue Weltmensch vollendet: immer ließ er ihn, als noch nicht reif in seiner Welt, noch nicht vollendet in der Kunst vergehen. Agathon, den ersten, ließ er vorschnell zerbrechen, Caspar Hauser noch als Jüngling scheiden vor dem Erlebnis der Frauen, Renate verging an den Träumen, Virginia versinkt in die Wirklichkeit. Noch ist das Ideal nicht geschaffen, noch die Geschichte des Beatus nicht geschrieben, Sohnes Agathons und Renates, des Erlösers und der Erlösten, die Geschichte des Freien von beiden Rassen, des von allen Fährnissen Befreiten. Nur sich selbst, den Künstler, hat Wassermann in diesen Jahren der Anstrengung errungen, noch nicht sein höchstes Werk.
Es gibt ein paar Bücher von Jakob Wassermann (ganz frühe und heute schon verlorene), die von diesen ernsten Anstrengungen um die Kunst noch nichts wissen. Die sorglosen möchte ich sie nennen. Sie sind noch ohne jenes schmerzhafte Bewußtsein letzter künstlerischer Verantwortung geschrieben, noch ohne Zurückhaltung, rasch nur ein Erlebnis in Schilderung verwandelnd, aber bemerkbar schon durch den gebändigten Stil, der sich unbewußt gegen jeden seelischen Lyrismus, gegen den sprudelnden Rhythmus der Ekstase wehrt. »Melusine« heißt das eine, »Schläfst du, Mutter?« das andere. Sie gehören beide zu seiner Biographie, aber noch nicht zu seinem Werk.
Wassermanns erste Tat sind die »Juden von Zirndorf«, eines der merkwürdigsten und bei aller Verwirrung genialsten Werke unserer neuen Literatur. Sie sind eines jener dämonischen Erstlingswerke, die, gleich verräterisch für das Genie und seine Gefahr, die ganze zukünftige Entwicklung, das spätere Erlebnis, schon mit wahrsagerischen Runen in sich aufgezeichnet haben: eines der Werke, das nachtwandlerisch schon die Pfade geht, die alle spätem dann mit der ungeheuern Mühe des Gefahrbewußten beschreiten werden. Eine Urkraft flackert darin, die zum mütterlichen Ganzen des Weltgefühls in verzweifelter Sehnsucht zurück will, die Gier, alle Probleme des Lebens in die Faust einzupressen, schon mit dem ersten Ansprang verwegen das Unzulänglichste zu fassen. Ich möchte Wassermann damals gekannt haben, glühend und verworren, in diesem – fast möchte ich sagen: vulkanischen – Augenblicke, da er sein ganzes Blut in ein einziges Werk stürzen wollte, da er das Höchste plante, Erlösung seiner selbst im Symbol, Austilgung seiner Rasse, einen neuen Mythos eines neuen Heilands (das gleiche, was zwanzig Jahre später Gerhart Hauptmann für unsere Welt im »Emanuel Quint«, was Dostojewskij für die russische versucht hatte). Auftauchend, noch ganz heiß von der jüdischen Tradition, in seine eigene Welt, wirft er ihr den glühenden Gedanken zu, den er ihren Tiefen entrungen: die messianische Idee, in der jeder jüdische Idealismus am tiefsten wurzelt. Denn dieser Agathon, der reine Apostel einer verworrenen Welt, will nichts Geringeres, als seinem entgötterten Volke eine neue Gläubigkeit schaffen, noch einmal wie der Sabattai Zewi des Vorspiels vom Morgenlande, vom Orient aus die Welt erlösen (so wie Aljoscha Karamasow sein Rußland). Wassermann hat ihm seine ganze unverbrauchte Leidenschaft mitgegeben, ihn gespeist mit allen Kräften einer angespannten Rasse – aber der Künstler in ihm war nicht stark genug, um ihn über ein ganzes Leben zu halten. Agathon, der ein Christus hätte werden sollen, ist in den »Juden von Zirndorf« der Johannes geblieben, der Verkündiger statt der Erlöser. Die Visionen, die im historischen Vorspiel, im Irrealen unerhörten Flug nehmen, zerscheitern an den Wirklichkeiten: der Dualismus des künstlerischen Prinzips, Fluch der Rasse, ließ Wassermann das Werk vorschnell, mit jugendlicher Ungeduld beenden. Die »Juden von Zirndorf« sind Fragment geblieben (nicht äußerlich, aber innerlich), sein Urfaust, ein Chaos von Möglichkeiten, durch das die Schicksale wie Meteore taumeln statt als Sterne in geeintem Umschwung. Wassermann hatte damals zu wenig künstlerisches Gesetz in sich, nur den Willen, dieser aber war kühner als je in einem spätem Werk; und erst wenn die Spirale seiner Entwicklung wieder zu jenen höchsten Anspannungen zurückkehrt, die er damals haltlos, voreiligen Pfeilen gleich, nach oben schnellte, wird man der künstlerischen Gewalt inne werden, die jene Jahre innerer Arbeit in ihm gezeitigt haben.
Damals war er noch zu schwach, zu leidenschaftlich, das Bild seines Ideals vom unmittelbaren Menschen zu vollenden. Und zerbrach es lieber (um es später neu zu erschaffen), statt es zu verderben. Er ließ Agathon hinschwinden, unerfüllten Werkes, in seinem nächsten Roman der »Geschichte der jungen Renate Fuchs«, die von all seinen Werken bis heute den stärksten Erfolg gehabt hat. Einen verhängnisvollen, weil aus Zufälligem und Nebensächlichem genährten, wie er bald erkannte, verdankt eigentlich nur einem intellektuellen Witterungssinn für das brennende Problem der Zeit, für die Frauenfrage. Aber auch hier ist die Idee eines klaren ursprünglichen Verhältnisses zur Welt das innerste Motiv: Renate Fuchs, bei der sich selbstverständlich der Wille zum unmittelbaren Erlebnis ins Erotische wendet, geht der Reinheit des Gefühls nach und wird dadurch zur Asbestseele, die in allen trüben Feuern des Lebens ihre innere Unberührtheit beschützt. Sie gibt zuerst – wieder ist das Schicksal des Künstlers hier zur Tragödie seiner Menschen verwandelt – nur irgendeiner leidenschaftlichen Ungeduld nach, sie verschwendet blind ihre lyrisch aufgeregten Kräfte an die Verlockungen des Scheines, um erst durch Prüfungen zu ihrem Wert- und Unterscheidungsgefühl zu gelangen. Wie Agathon, der sie entsühnt, ist sie noch eine Unvollendete, eine Suchende, eine Werdende, aber doch schon voll Erkenntnis des Wertlosen, der künstlichen Kultur des Wortes, die Gudsticker, der äußerliche Dichter, hier symbolisiert, der Literat, die immanente Gefahr des stets nur gewerteten und gespiegelten, statt wahrhaft gelebten Lebens. Und stärker drängt dieser Roman schon ins Wirkliche hinein, freilich mit noch unzulänglichen Kräften. Die Überwertung der Frau, wohl begründet in einem momentanen Erlebnis, hat, wie bei so vielen Künstlern, hier die moralische Absicht sentimental gefärbt, der visionäre Trieb wird niedergehalten durch die immer vordringendere Einmengung der Realitäten. Je näher Wassermann in diesen ersten Büchern dem Unmittelbaren tritt, desto deutlicher wird seine künstlerische Unzulänglichkeit (im Vergleich zu den späteren Romanen). Die Gestalten stürzen, wie aus jäh aufgerissenen Türen geschleudert, ganz heiß noch von Wirklichkeit, auf die Szene, mengen sich ein und verschwinden, hemmen das sausende Schwungrad der Handlung, verschatten mit ihren Körpern das innerliche Licht. Irgendeine Ungeduld verschiebt auch hier das Schwergewicht der Handlung; ebenso wie in den »Juden von Zirndorf« beginnt in den letzten Kapiteln die zu rasch aufgebaute, mit zuviel Details beschwerte künstlerische Masse zu knistern und bricht in unvermittelter Katastrophe zusammen. Eine feuerfarbene, aber innerlich kalte Vision von der Todesvereinigung Agathons und Renatens verbrennt den mühsam gehäuften Stoff kostbarer Beobachtungen
Aber Wassermann, vielleicht verwirrt durch den Erfolg, wollte noch tiefer hinein in das Wirkliche und maß im nächsten seiner Romane, »Der Moloch«, seine jugendliche Kraft mit dem schwersten aller künstlerischen Probleme, mit einer Aktualität. Ein Prozeß, den eine jüdische Familie gegen die Räuber ihres gewaltsam getauften Kindes anstrengten und der damals in ganz Österreich größte Aufregung hervorrief, verlockte ihn zu einem Zeitroman, jener Gattung der Kunst, die nicht nur Talent, sondern eine ungemeine Sicherheit gegenüber den Tatsachen, ein eminentes künstlerisches Equilibrium und vor allem absolute Leidenschaftslosigkeit verlangt (denn ein Zeitroman mit innerer Beteiligung wird zum Pamphlet). Das alles war im zwiespältigen Talent Wassermanns nicht zur Reife gelangt, und darum ist der »Moloch« bis heute sein mißlungenstes Werk, der vielleicht einzige wirkliche Fehlgriff seiner sonst instinktiv unendlich glücklichen Stoffwahl. Auch hier ist der Gedanke der Unmittelbarkeit, des reinen Menschen, in dem ich das Leitmotiv seiner Jugend sehe, wieder angeschlagen. Man sieht, daß Wassermann sich selber bewußt ist, diese Idee nicht bewältigt zu haben, er rollt sie hin und her, knabbert sie von allen Seiten an wie ein Hund den übergroßen Brocken, den er nicht mit einemmal verschlucken kann. Er spielt mit dieser großen Idee, packt sie so ungeduldig, daß sie ihm immer wieder entgleitet, aber er läßt sie nicht frei mit jener erhabenen Zähigkeit des großen Künstlers, der mit dem Engel ringt, bis daß er ihn segnet. Hier ist sie zum erstenmal, die erlösende Idee, ins Tragische gewandt, nicht gezeigt, wie sich ein Mensch durch den Wust des Lebens zur innern überzeugenden Klarheit durchringt, sondern das Widerspiel, das Trübwerden, das Erblinden des Ideals, der Untergang des Reinen im Sumpf der Leidenschaften. Schon Anselm Wanderer, der problematische Held der »Renate Fuchs«, war ein Unsicherer gewesen, pendelnd zwischen dem schöpferischen und dem bloß gaukelnden Menschen, zwischen Agathon und Gudsticker, hier aber ist die Ernüchterung des Ideals, die Verzweiflung an der innern Vollendung (und sicherlich wieder korrespondierend mit einer menschlichen Depression des Künstlers) Tatsache geworden. Der »Moloch« stellt die innere Krisis des Künstlers Wassermann dar: eine ungemein wertvolle, wie sein späterer Aufstieg erweist. Er hat ja allen diesen drei Büchern selbst das Urteil gesprochen – ich meine immer: im höchsten Sinne –, indem er die Helden, die er anfänglich zu den äußersten Vollendungen emporsteigen lassen wollte, vorschnell zum Tode bestimmt. Sie alle, Agathon, Renate und der Held des »Moloch« sind noch nicht ganz rein, ganz schöpferisch, sie haben noch nicht alle Schlacken der Rasse und der Beziehungen in sich ausgetilgt, sie haben alle noch Dunkelheit und Schwere in sich, schwarzes, jüdisch-grüblerisches Blut. Sie ringen noch mit dem Leben, statt mit ihm zu spielen, wie die ganz Großen. Mit ihrer Vernichtung vernichtet Wassermann in sich selbst seinen höchsten Willen, zu dem er noch nicht die Stärke fühlt. Er weiß, daß er sich in diesen noch brüchigen Gestalten nicht verschwenden darf, sondern sparen muß, um seiner letzten Aufgabe (spät in den Jahren vielleicht einmal) entgegenzugehen, die all diese frühen Versuche zusammenfaßt: die Geschichte des Beatus, des Glücklichen, Sohnes des Agathon und der Renate, des Kindes zweier Rassen, aus der Umarmung des Todes und des Lebens empfangen, von Verzweiflung und Hoffnung mythisch gezeugt, in der seine höchste Absicht von einst mit seinem inzwischen zur Vollendung gesteigerten Können sich vielleicht vollkommen versöhnen wird.
Wassermanns erster, durch den heroischen Elan bewundernswerter Ansturm gegen die Realität war mit diesen drei Büchern mißlungen. Das lebendige Leben ist zu eigenwillig, um sich leidenschaftlich in einer heißen Minute nehmen zu lassen, es verlangt vom Künstler auch bedingungslose Treue und Geduld. Diese ordnende Verteilung der schöpferischen Kraft ist Aufgabe der Mannesjahre. Es kommt nun in Wassermann zu einer Ruhepause der Selbstbesinnung, die auch zusammenhängt mit einer gleichzeitigen Wandlung seiner äußeren Existenz, seiner Verheiratung und der Stabilisierung seines Wohnorts. Er übersiedelt nach Wien, und hier tritt der Heiße und Ungestüme in einen Kreis von Künstlern, die vom ersten Beginn sich strenge Selbstverantwortlichkeit zum Ziel gesetzt haben und innerlich beständig die schöpferische Aufgabe dem Maß ihrer Kraft anpassen. Und er lernt von ihnen. Nichts Fremdes freilich, sondern nur sich selber beherrschen, und wird reif durch Resignation. Sein Wille befeuert nicht mehr vereinzelt, in heißen Visionen das einzelne Kunstwerk, sondern schließt seine Glut zusammen in eine einzige geschlossene Anspannung zur Kunst. Zur Kunst des Schreibens, des Erzählens, des Gestaltens, zur bewußten, auf Dauer gedachten Schöpfung. Wassermann beginnt, er, der Unbändige, Chaotische, zu erkennen, daß Genie auch Geduld sei, Flaubert wird sein Lehrmeister, die großen Schweizer Keller und Conrad Ferdinand Meyer nehmen ihn in die Zucht. Und Geduld, geschlossene Anspannung füllt langsam die Kluft zwischen den beiden eingeborenen Formen seines Talents, der Vision und der Analyse, nicht mehr diametral beginnen sie zu wirken, unruhig die Erzählung bald an einem, bald am anderen Strange nach vorwärts reißend, sondern der sichere Kunstwille macht eine der anderen dienstbar, was um so eher gelingt, als die bisher übermächtige Vision mit der abnehmenden Jugend an Rauschkraft verliert, indes die künstlerische Logik sich an den Erfahrungen täglich bereichert. Eine Ruhe, ein innerer Ausgleich geschieht in Wassermann, der sich auch in seinem Stil spiegelt, deutlicher, als der Raum hier nachzubilden erlaubt. Auch er barg beide Extreme der Sinnlichkeit und Geistigkeit, die farbig wirre lyrische Aufwallung, die sprühende Kaskade verschlungener Sätze, und andererseits die knappe Kristallisation, die Neigung zur epigrammatischen Verkürzung, die beide heute noch in Wassermanns Stil bestehen, aber in einer wunderbaren Ausgeglichenheit. Er hat sich damals vom Ornament befreit, vom Überflüssigen zum Notwendigen gebändigt, und sein epischer Vortrag hat nun jenen wie rhythmisch bewegten Wellenschlag, der ohne Lärm, nur mit wohltuend sanftem, unmerklich mitklingendem Wiegen die Erzählung weiterspinnt. Er ist nicht funkelnd, sein Stil, sondern dunkel metallisch, nicht ein flirrendes Geschmeide von Worten, sondern geschliffener Stahl, biegsam und elastisch, nicht Feuer sprühend, aber in Feuer gehärtet. Er opfert die Melodie dem Rhythmus, den verführerischen Schwung der steten Beharrlichkeit, an jenen gleichmäßig festen Schritt geübter Bergsteiger gemahnend, die höchste Gipfel erklimmen wollen und wissen, daß Sprünge und Eile vorschnell die Kraft ermüden. Aber er ist nicht trocken; in seiner Dunkelheit glänzt jenes innere Licht, das auch den paar Gedichten Wassermanns die merkwürdig orphische Musik gibt. Und er ist deutsch in dem hohen Sinne von Zucht, für den Bach musikalisch und Kleist literarisch den reinsten Typus darstellen.
Die drei nächsten Bücher, die Jakob Wassermann schrieb, der »Alexander in Babylon«, »Die Schwestern« und der »Caspar Hauser« sind technisch untadelige Werke geworden durch den erwachten Sinn zur Selbstbeherrschung. Nun erst der Schwierigkeiten bewußt, die der zeitgenössische Roman gerade seinem auf Zwiespalt ruhenden Talent bot, wandte er sich zunächst zum Historischen zurück (oder, um näher zu seinen Worten zu sprechen, er versucht Mythos nicht aus dem optisch Realen, sondern der Überlieferung zu gewinnen). Das Historische bedeutet eine wunderbare Zwischenstufe zwischen dem Ersonnenen und dem Geschauten, dadurch, daß es zwar Realität ist, aber doch eine nur individuelle und darum unkontrollierbare, eine Wirklichkeit, die erst der schöpferischen Vision bedarf, um in die Erscheinung zu treten. Und hier entfaltet sich gerade die Doppelwirkung seines Talents aufs glücklichste: sein reifer Intellekt, gepaart mit dem nun ganz gehärteten Stilgefühl, spürt aus dem Wirrsal der erhaltenen chronistischen Berichte den Funken Leben, den seine Vision dann zu brennender Glut anfacht. Wassermann weiß jetzt, wie gefährlich es ist, vorschnell das Ganze zu wollen, und teilt seine Kräfte. Einmal gibt er noch der ganz wilden, ganz farbetrunkenen orientalischen Phantasie freien Lauf, im »Alexander«, dieser Orgie der wie mit Haschisch aufgehetzten Sinne. Wir haben in der ganzen deutschen Literatur vielleicht kein Buch, das so sehr Rausch ist, so sehr Farbentrunkenheit, so sehr innerlichen Zusammenhang mit den modernen Malern hat, die auch in den grellroten glühendsten Farben mit einer fast sinnlichen Lust wühlen. Nie ist der Orient ekstatischer geschildert worden als hier aus einer vielleicht geheimnisvoll-sehnsüchtigen Rückerinnerung des Blutes. Nur eine Sekunde der Weltgeschichte zeigt er, aber jene grandiose des Zusammenbruchs des größten aller Kaiserreiche in einem einzigen Menschen, die Selbstvernichtung der Leidenschaft, in der Wassermann vielleicht seine eigene überwundene Gefahr vergeistigt hat. Denn so stark ist das artistische Verantwortungsgefühl schon in ihm geworden, daß die Kunst ihm zum Lebensproblem wird, daß ihm im Sinne Flauberts das ganze unendliche Leben nicht mehr Selbstzweck scheint, sondern Materie, die in Kunst zu verwandeln ist. Eine ungemein fruchtbare Bescheidung wird sichtbar. Wassermann will nicht mehr wie im Beginn sein Volk oder die Frauen erlösen, sondern den Künstler in sich ganz frei machen. Er stößt sich selbst aus seinem Kunstwerk heraus und macht es dadurch vollendet, wenn er auch manchem dadurch persönlich uninteressanter wird. Immer mehr wird er anonym, der unsichtbare Schöpfergott, den sein Werk zwar ahnen läßt, nie aber im Sichtbaren zeigt. Immer mehr gewinnt er die Zügel über sein Talent. In den drei Novellen »Die Schwestern«, die komplizierteste seelische Zustände mit psychologischer Meisterschaft schildern, spürt man zum erstenmal eine klare Disposition, eine anordnende, wägende, ausgleichende und verwerfende Hand, nicht nur glühende Sinne. Wo früher eruptive visionäre Entladungen gleich Motoren die Handlung über breite sandige Strecken forttrieben, arbeitet nun eine wohlberechnete Kraft. Die kunstvollen Gebäude gehorchen nicht nur der Schönheit, sondern auch den Gesetzen der Schwerkraft, sie haben Stabilität, indes die frühern Novellen etwas Fluktuierendes hatten, das farbige Gleiten von Wolken oder Träumen. Besonders in der Kriminalnovelle, in der aus flüchtigem Verdacht die Lawine des Verhängnisses anschwillt, bewundert man die Meisterschaft des literarischen Kontrapunkts: wie im Schachspiel ist Zug gegen Zug gesetzt, in sicherer unaufhaltsamer Umkreisung ein Leben vom Netz des Verhängnisses umschnürt, alles geschieht mit der Notwendigkeit des Spontanen, die innerlich wieder verzahnt ist in die immanente Absicht des Schicksals. Auch hier ist das Ornament überwunden, das Zufällige, das Schmückende ersetzt durch die stählerne Fügung, Stoff und Stil also zur Identität gezwungen. Und von diesen Versuchen, Schicksale in der Stunde ihrer Reife, eben ihres Schicksals, zu schildern, mag ihm der Mut geworden sein, einen Menschen von der ersten Entwicklung aufzubauen, den unzugänglichen, weil organischen Prozeß der seelischen Kristallisation mit der Alchimie der Kunst nachbildend zu versuchen.
Ich meine den »Caspar Hauser« (der hier nur in der Beschränkung des Zusammenhangs mit den früheren Werken betrachtet sei). Hier hat Wassermann sein altes Ideal vom unmittelbaren Menschen wieder aufgenommen, aber gleichzeitig bewahrt vor der Gefahr des Persönlichen, indem er diesen außerordentlichen Menschen als einmaligen Einzelfall, nicht als Typus gestaltet hat. Er hat ihn von den Wirklichkeiten weggehalten, sogar vom allgemein Menschlichen, indem er ihn tiefer verstrickt sein ließ mit den Urkräften der Erde, sein Blut begabte, Gewitter und jedes elementare Geschehen, selbst seinen Tod prophetisch zu spüren, indem er ihm mystische Witterung gab, das Herz aus den Worten zu erlauschen. Aber er hat gleichzeitig in seinem Erlebnis eine Verkürzung des ganzen seelischen Weltbegreifens gegeben und die pathetische Historie des namenlosen Findlings, dessen Tragödie es war, keine Kindheit zu haben und nur Jüngling zu sein, verdichtet zu der Geschichte der Kindheit überhaupt, zur Bewußtwerdung der in trüben Erinnerungen vergehenden Entwicklung der Seele. Es ist im wesentlichen nur der geheimnisvolle Moment der Entdeckung des »Ich« im Menschen gegenüber dem unendlich vielfältigen »Du« der Welt, der uns allen verdämmert und der nur im Künstler (der in manchen Sekunden dem Kosmos wie zum ersten Male gegenübersteht) wieder wach wird. Und es ist gleichzeitig die Geschichte des reinen Menschen, der nicht von fremden Begriffen gefälscht ist, des ganz Unmittelbaren, der primitiv und mit intuitiver Klarheit den Dingen gegenübersteht und darum von keinem begriffen wird, irgendein Symbol des ganz nur von sich bestimmten, des namenlosen, gattungslosen Begriffes Mensch, der uns längst im Schwall der Vorstellungen entglitten ist. Und sein Tod ist nicht wie der frühere aller Helden Wassermanns auch ein Urteil, Abspruch der Lebenstüchtigkeit, sondern Schicksal, denn Caspar Hauser ist nicht für das Leben gedacht (das Übergang bedeutet), sondern als Sekunde, als die Sekunde Jüngling, sein Körper, sein Leben nur eine versteinerte Durchgangsform eines entgleitenden Begriffs. Und dieses Werk Wassermanns – für mein Empfinden sein bisher vollendetstes – ist mißverstanden, wenn es nur erzählerisch gewertet wird, als Geschichte eines Menschen. Es ist Symbol für unsere eigene mystische Weltentdeckung, Komprimierung unserer breiten kindlichen Erfahrungen in ein einziges Erlebnis, ein kühnerer Versuch ins Dunkel des Wachwerdens, als er mit dichterischer Flamme bisher versucht wurde. Und auch in der Gestaltung ist das Gefühl des Einmaligen, des Monumentalen, der Wille, diese in Legenden schwankende Gestalt ganz ins Dauernde, ins Unwiderlegliche zu heben. Eine tiefe Gläubigkeit an seine Gestalt übermannt Wassermann: zum erstenmal, glaube ich, liebt er in einem Werke seinen Menschen. Und bestätigt sich damit selbst zum erstenmal als produktiver Künstler, er, der bislang seine Gestalten vor der Vollendung zerbrach und damit ihre Unzulänglichkeit gegenüber dem inneren Ideal bekundete.
Nach diesen drei Büchern, die alle der Belebung der Vergangenheit galten, versucht Wassermann, mit nun gereiften Kräften sich wiederum der Gegenwart zu bemächtigen in seinem viel diskutierten und auch viel befeindeten Roman »Die Masken des Erwin Reiner«. Es ist der Roman des Literaten, den Wassermann in seiner Studie über den »Literaten« hinter fast allen Formen des halbschöpferisch fähigen Menschen aufgespürt hat, des Trügerischen und Blendenden, der mit dem Leben spielt, statt es zu leben, der es beredet, statt es zu begreifen, der es am meisten zu besitzen scheint und doch immer nur Spiegelglanz hat, wertlosen Widerschein. Und ihm gegenüber in jener geheimnisvollen Gegnerschaft, die Wassermann so oft schon aufgedeckt hat und die ihm nicht minder bedeutsam scheint als der Widerstand der Geschlechter, der elementare Mensch, der Fruchtbare gegenüber dem Wertlosen – hier aber zum erstenmal in der Gestalt einer Frau gesehen. Virginia – die Namen sind wie so oft bei Wassermann verräterisch in ihrer Symbolik – ist die Selbstsichere, die nicht nur körperlich Unberührte, sondern auch seelisch nicht Verführbare, in ihrer Einfalt stärker als alle Künste ihres geschmeidigen Verführers. Und zum ersten Male in Wassermanns Werk ist es nun die reine unmittelbare Kraft, die über den Schein siegt den Menschen, der hinter seinen Masken keine Seele birgt –, ein Symbol, wenn man will, für das künstlerische Selbstgefühl, für die gesicherte Weltanschauung des Dichters, der sich selbst als Schaffenden und darum Siegreichen bejaht. Gudsticker beschämte noch Agathon und Anselm im Beginne, hier – denn Reiner ist ja nur Wandelform dieses Urbegriffes – bricht er vor der unwiderstehlichen Gewalt des einheitlichen, innerlich klaren Menschen zusammen. Virginia ist intuitiv das, wozu Renate gelangen will, die Keuschheit des Fühlens, die Wahrhaftigkeit der von den Sinnen nicht mehr zu verleitenden Seele, die Frau, die sich nicht mehr nehmen läßt, sondern nur schenkt, und darum die ganz Freie, dem äußersten Ideal des Unmittelbarkeitsbegriffes Wassermanns schon sehr nahe. Es wäre verlockend auszuführen, wie sehr dieser seit langem erste Wirklichkeitsroman Wassermanns den früheren überlegen ist, wie die Einschränkung des Problems in den Kreis des Einzelschicksals, ohne die pathetischen Versuche der Renate zur aktuellen Bedeutsamkeit, die innere Architektonik gefördert hat, eine wie genaue Berechnung der Wirkungen hinter den wie zufällig sich abrollenden Geschehnissen ständig zu spüren ist. Denn Wassermann hat gelernt, systematischer als jeder andere, hat im Arsenal der epischen Kunst alle Waffen geprüft, die Geheimnisse der Wirkung theoretisch durchforscht – die »Kunst des Erzählens«, seine Studie verrät nur einen Teil seiner angespannten Bemühungen – und nicht gezögert, die verachtetsten Elemente der epischen Befeuerung, Spannung und Grauen, in künstlerischer Veredelung als Blutzufuhr seinen Romanen zu eigen zu machen. Er hat nicht gezögert, die elementaren Gesetze der Wirkung aus Kolportagegeschichten und niederer Unterhaltungslektüre aufzuspüren, epischen Stoff selbst in melodramatischer Verkleidung zu wittern und kühn noch einmal anzufassen, was andere schon mit ungeschickten Händen dauernd verpfuscht zu haben schienen. Man vergesse nicht, daß »Klarissa Mirabel«, seine Meisternovelle, ihren Ursprung im verachteten »Pitaval« hat, daß Caspar Hauser ein Lieblingsobjekt antidynastischer Kolportageromane war, daß selbst die Geschichte Erwin Reiners im Grunde die Geschichte der immer und über alle Künste des verlockenden Don Juans obsiegenden Tugend ist. Aber alle diese fast volkstümlichen Elemente hat Wassermann bewußt aufgenommen, eben weil er fühlte, daß die allzu vornehme Verachtung des Spannenden, dieses ewigen Urelements alles Erzählens, und die rigorose Ausschaltung des Sonderbaren jene merkwürdige Bleichsucht des deutschen Romans erzeugt hatten, an der wir seit einem Jahrhundert kranken; er hat erkannt, daß Psychologie zwar unsichtbare Triebkraft, nie aber Geschehnis in einem Werke sein müsse und daß Sparsamkeit der Darstellung ebenso notwendig sei wie Vielfalt des Geschehens. Er tritt damit, obzwar er deutscher schreibt als fast alle unsere gegenwärtigen Erzähler, entschlossen aus der deutschen Romantradition heraus, mit dem sichern Willen, in einen höheren Kreis zu treten, den der Epik überhaupt, des allerorts und jederlands gleich gültigen Kunstwerks der Erzählung. In ihm ist heute ein Wille über die deutsche hinaus in die Weltliteratur.
Zu welcher Virtuosität sich das rein technische Können Wassermanns an den Erfahrungen und im Mißlingen emporgesteigert hat, bezeugt sein letztes Buch, »Der goldene Spiegel«, das in seiner Art irgendeinen neuen Begriff darstellt. Es sind Erzählungen in einem Rahmen, aber der Rahmen beginnt schließlich selbst zu leben, fließt farbig über ins Geschehen, das wiederum Geschichte um Geschichte im Urteil ordnend spiegelt. Es scheint Mosaik und ist doch mehr, weil all die funkelnden epischen Fragmente gleichzeitig wieder den einzelnen Erzähler charakterisieren, der hier immer zwischen die einzelne Novelle und den Dichter als Reflex eingeschoben ist, so daß die Charakteristik nicht unmittelbar durch Beschreibung, sondern kristallinisch durch innere Werturteile in die Handlung wächst. Verwirrend ist diese Kunstfertigkeit. Es sind ganz kleine Anekdoten darin – die » Keimzelle der Epik«, wie sie Bab jüngst so glücklich nannte – und die raffiniertesten breitesten Novellen wie »Aurora« oder »Die Pest im Vintschgau«, alle aber ineinander verzahnt, wie das Räderwerk einer Uhr, wo kleine Räder die großen treiben, feine silberne Stifte dazwischen das Equilibrium halten, kleine künstliche Federn spannen oder retardieren, um alle zusammen den ebenmäßigen Rhythmus, den Takt des Erzählens im steten Gleichmaß zu halten. Zum ersten Male hat Wassermann hier als Erzähler den ganz ruhigen Atem des rhythmisch Schreitenden, zum erstenmal ist es ihm gelungen, sich ganz auszuschalten, anonym zu bleiben hinter dem Werke. Das Historische und das Reale sind darin versöhnt, aber auch das Wichtigere, seine beiden diametralen Erzählertriebe, Logik und Leidenschaft.
Diese immer größere Ruhe und Sicherheit kennzeichnet heute Wassermanns Schaffen. Er stürzt nicht mehr in seine Bücher sich kopfüber hinein mit jener schönen berserkerischen Wut seines Beginnens, sondern er bändigt sie. War er früher von der Welt wie brünstig in das Dickicht der Kunst gehetzt, sich dort vor der Übermächtigkeit des Lebens zu retten, so ist er heute selbst schon der Jäger, die Kunst ward ihm Waffe, das Leben sein Wild und bald die Beute. Das Schaffen beginnt für ihn endlich statt eines Kampfes ein Spiel zu werden. Das unangenehm Krampfartige, Eruptive, das Quälerische und künstlich Verworrene, das vielen den Genuß seiner Bücher verleidete, ist langsam wie Rauch ihnen entwichen, sie klären sich in dem Maße, wie die geistigen Strahlen, statt sich in Blitzen sinnlos zu entladen, harmonisch in eine Lichtquelle sich sammeln. Die Dunkelheit und lastende Trübe hebt langsam an, von Wassermanns Büchern zu weichen, der Krampf der Jugend wandelt sich in stetige zielsichere Kraft. Und es könnte leicht sein, daß nun bald jener goldene Glanz von Heiterkeit auf ihnen zu ruhen beginnt, der auf beruhigten Wassern nach wühlenden Stürmen so gerne sich spiegelt.