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Nietzsche

Nietzsche und der Freund

1917

 

Die Briefe an Franz Overbeck führen hinab in eine der großartigsten und zugleich grauenvollsten Landschaften der Seele: in die feurig frostige Einsamkeit der letzten Lebensjahre Friedrich Nietzsches. Die fünfzehn Jahre dieser äußersten Einsamkeit wahrhaftig darzustellen, wird zu gefährlicher und fast schmerzhafter Aufgabe für die Phantasie, denn im Raumlosen muß sie die Tragödie entwickeln, dies Monodram ohne andere Szenerie, ohne andere Akteure als den einsam leidenden Menschen. Im allgemeinen ist die Menschheit, wenn es sich um ihre Heroen handelt, nicht geneigt, die Nüchternheit des Elends zu dulden und sich die Banalität der Umstände zu vergegenwärtigen, die im letzten Sinne der Scheitelpunkt des Furchtbaren für den genialen Menschen sind. Sie erfindet lieber eine Legende für die Geschichte, sie poetisiert das Grauen, um ihm selbst im Nachfühlen zu entweichen, sie idealisiert ihre Helden, um ihre Größe bequemer zu begreifen. So ist es auch seit etwa zwei Jahrzehnten Gewohnheit der deutschen Touristen geworden, wenn sie durchs Engadin streifen, den gut gekiesten Spazierweg nach Sils Maria zwischen Mittagbrot und Abendbrot zu machen, um ein wenig dort seine Einsamkeit zu beschauen, Nietzsches Einsamkeit, in der unter hochgewölbtem Sternenhimmel, das Antlitz zu den vergletscherten Bergen gewandt, tausende Meter über dem Meere, er seinen ›Zarathustra‹ und seine ›Umwertung aller Werte‹ geträumt. Schauernd sehen sie die erhabene, überirdisch schöne Landschaft als den wahren und ihrem Gefühl gemäßen Schauplatz titanischer Kämpfe an und ahnen nicht, die Guten, wie sehr sie durch diese Poetisierung und Heroisierung die unerhörte innere Tragik in Nietzsches Wanderjahren vermindern. Denn dieser Gott, trunken von Einsamkeit, der hier, selig erhaben über niederes Gewühl, abseits vom Lärm den Nachtgesang Zarathustras gleichsam aus den Sternen des hier ewig klaren Himmels in sich niederklang, ist Nietzsche nie gewesen, das zeugen seine Briefe, sondern ein viel Größerer, und seine Einsamkeit eine viel gewaltigere, weil sie eine viel kläglichere, viel unpoetischere, viel banalere und eben darum viel heroischere war. Sie war Einsamkeit eines kranken, halbblinden, magenleidenden, nervösen, aufgereizten Menschen, der durch ein Jahrzehnt in einer rasenden Flucht vor sich selbst und der Welt durch Hunderte Hotelzimmer, Chambres garnies, kleinbürgerliche Pensionen, Dörfer und Städte hetzt, Jäger und Wild zugleich, immer am Werke zwischen den Peinigungen der Nerven. Nirgends in den Briefen, von denen die vielleicht schönsten, weil die intimsten, die an Overbeck, als letzte veröffentlicht worden sind, ist etwas von der halkyonisch freien Rast jener Landschaft zu finden, die der gute Bürger als seine Einsamkeit beschaut. Alle Ruhe ist bei ihm nur episodisch, alles Glück nur ephemer. Bald ist er in Lugano, bald in Naumburg, in Algula, dann wieder in Bayreuth, in Luzern, in Steinabad, in Chillon, in Sorrent, dann meint er wieder, die Bäder von Ragaz könnten ihm von seinem schmerzhaften Selbst helfen, die heilkräftigen Wasser von St. Moritz, die Quellen von Baden-Baden ihn begnaden, dann sucht er wieder Interlaken auf und Genf, die Kuranstalt zu Wiesen. Einen Augenblick ist es dann das Engadin, das er sich entdeckt als Befreiung, als wesensverwandt, dann muß es wieder eine Südstadt sein, Venedig oder Genua, Mentone oder Nizza, flüchtig versucht er es mit Marienbad, bald strebt er den Wäldern zu, bald dem reinen Himmel, bald meint er, daß nur kleine heitere Städte mit guter Kost ihm Ruhe geben könnten. Zur Wissenschaft wird ihm die Wanderschaft; er studiert geologische und geographische Werke, um nur irgendeine Zone, ein Klima zu finden, eine Menschheit, die ihm gemäß sein könnte. Barcelona ist in seinen Plänen und sogar die Hochebene von Mexiko, von der er Ruhe von seinen Nerven erhofft. Aber immer ist die aufreizende Einsamkeit um ihn, ob er sie will oder nicht, ob er sie sucht oder flieht, immer stößt sie ihn wieder fort in neue Einsamkeiten, und schließlich auf in jene letzten, wo schon die gemeinen Grenzen des Wesens, Raum und Sprache, unfühlbar sind und alles gleich kalt und gleich schaurig wird, eine Polarlandschaft frostiger Dämmerung, öde und menschenfremd und voll eines geheimnisvollen Dunkels, über das endlich das rote Nordlicht des Wahnsinns sich hebt.

Wegwerfen muß man also, ehe man von seiner Einsamkeit spricht, die bequeme, gefällige, poetische Vorstellung der Einsiedelei von Sils Maria, zerbrechen aber auch, ehe man des Wandernden Bild sich vor den Blick stellt, die legendäre Vorstellung seines Wesens, das durch die geläufigen Büsten und Bilder ins Monumentale und Dämonische gesteigert oder eigentlich gemindert worden ist. In diesen Briefen wie in allen seinen Lebensdokumenten tritt er nirgends hervor, wie er auf seinen kolossalischen Büsten gebildet ist: als der hochaufgereckte, stark ausschreitende Hüne mit der wuchtigen freien Riesenstirn, den kühnen Augen unter den buschigen Augenbrauen und dem mächtigen Vercingetorix-Schnurrbart über dem trotzigen Mund. Will man ihn wirklich verstehen, so muß man die körperlichen Maße mindern und sich nicht scheuen, ihn in menschlicheren Formen zu sehen. Diese kühnen Augen unter den gewölbten Augenbrauen, sie waren in Wirklichkeit trübe Lichter, sehschwach, tränend von jeder Anstrengung des Lesens, durch keine noch so scharfe Brille jemals zur vollen Lichtkraft zu beleben. Nur mechanisch schrieb die Hand, kaum konnte das Auge ihr folgen, Lektüre von Briefen war dem Halbblinden schon Qual und die Schreibmaschine ihm eine der kostbarsten Gaben Amerikas an die Alte Welt, weil er darin eine neue Möglichkeit des Ausdrucks erblickte. Hinter der hohen marmornen Stirn war in Wahrheit ein hartes Hämmern der Schläfen, ein Zucken brennender Schmerzen, Flackern ewiger Wachheit, ein entsetzliches Schlaflossein, das er vergebens mit immer stärkeren Dosen von Chloral zu betäuben versucht. Alle Organe sind erschüttert durch eine steigende Überempfindlichkeit der Nerven, jeder Irrtum in der Kost reizt seine empfindlichen Gedärme, tagelanges Erbrechen ist keine Seltenheit, jeder Wechsel der Atmosphäre, jeder Druck der Luft, jede Wandlung des Wetters wird zur Krise seiner Produktion. Wie der Himmel im April wechseln die Stimmungen in dem quecksilbrig empfindlichen Körper, sie springen von wilder, fast kranker Heiterkeit plötzlich nieder in schwärzeste Melancholie, alles ist Nerv an ihm, und Nerven fühlen heißt Schmerz fühlen. Furchtbar ist diese Abhängigkeit des Nervenmenschen von den Zufälligkeiten seines Körpers und um so furchtbarer, weil dieser Einsame selten oder fast nie durch Umgang mit Menschen abgelenkt wird, sie zu beobachten, weil er ständig die zitternde Magnetnadel, die Bussole seines Empfindens, in Händen hält, und siebenfach furchtbar, weil diese inneren Empfindlichkeiten durch äußere Unbequemlichkeiten seines kleinbürgerlich gedrückten und verengten Lebens ständig gesteigert werden. Nur Dostojewskis Flucht in den gleichen Jahren, durch gleiche Fremde, gleiche Armut, gleiche Vergessenheit, kennt noch diesen Paroxysmus des anonymen Leidens, und während außen an der Oberfläche der Zeitgeschichte buntbewegtes Jahrmarktstreiben von Künsten und Wissenschaften sich trollt und rollt, leiden einsam in den furchtbaren, bisher unerforschten Hintergründen billiger, schlecht möblierter Hotelzimmer, arm gedeckter Pensionen diese beiden größten Genies der zweiten Jahrhundertshälfte. Den Dionysos der Werke, den Künder des Lebens, birgt hier wie dort die hagere Gestalt des siechen Lazarus, der täglich hinstirbt in Schmerzen und den vom Tode immer wieder nur der Gott erweckt. Hier wie dort muß man erst die sieben Höllenkreise der Verlassenheit durchschreiten, um zur letzten, zur wahrhaften zu dringen.

Diese letzte Einsamkeit Nietzsches hat keine Zeugen mehr gehabt, keine Gespräche und keine Begegnungen; nur Schreie, Aufschreie zucken her aus dem Dunkel in die Ferne, und diese Schreie seiner Hoffnung und Qual sind diese Briefe. Erst sind es nur kleine Spannungen des Gefühls, kleine Unbequemlichkeiten des Körpers, die sie entlocken, mählich und mählich wird es aber die ganze Atmosphäre, die fremde, wortstille, frostkalte Luft der Einsamkeit, die auf ihn drückt wie ein metallener Himmel, wird es die ganze Welt, die sich in Widersinn und Qual verwandelt. Schreitet man diese Briefe mit von Jahr zu Jahr, so spürt man, wie es immer dunkler und öder wurde um ihn, gleichsam in eine Höhle steigt man aus heller Welt hinab. Im Jahre 1871, als diese Wanderschaft von Basel beginnt, als der junge Professor, der im Deutsch-Französischen Kriege sich eine ernstliche Krankheit geholt, zum erstenmal Heilung im Süden sucht, ist sein Leben noch tausendfach verflochten mit Hoffnungen und Menschen, noch umleuchtet von den Feuern regen Zuspruches und frühen Erfolges. Auf der Universität ist er einer der beliebtesten und umstrittensten Lehrer, seine ersten Schriften haben ihn zum Mittelpunkt lebhaftester Diskussionen gemacht, dem größten Menschen seiner Zeit, Richard Wagner, steht er näher als irgendeiner in Deutschland, eine junge Philologie erkennt in ihm den Beginner und freudig schon einen Führer. Der Bruch mit der Baseler Universität reißt die ersten Fäden ab, die Fremde vermag keine neuen zu spinnen. Jeder Schritt, den er nun vorwärts tut, macht ihn einsamer, jedes Buch, das er veröffentlicht, schleudert ihn gleichsam noch mehr aus der zeitgenössischen Literatur heraus, als es ihn ihr verbindet. Der Bruch mit Wagner beraubt ihn nicht nur des »vollsten Menschen«, den er je gekannt, des einzigen, der mit genialem Scharfblick in dem vierundzwanzigjährigen Philologen das außerordentlichste Phänomen seiner Zeit wittert, sondern reißt mit einem Ruck auch die Hälfte seiner Beziehungen ab. Wer ihn durch Wagner gekannt, verläßt ihn um Wagners willen; die noch übrigbleiben, behandeln ihn mit Vorsicht und einer gewissen Eingeschränktheit des Vertrauens. Wieder zwei Jahre, und wieder bröckeln Beziehungen ab, seine Schwester, die ihm noch ein Gefühl der Heimat geboten, fährt in überseeische Länder, ihrem Manne zu folgen, die Vegetation von Interesse, die immer spärlicher seine Werke umwucherte, friert nun ganz ab an der Unerhörtheit seiner letzten Schöpfungen. Und während sonst von dichterischen und neuartigen Werken ein seltsamer Magnetismus ausgeht, eine geheimnisvolle Kraft, verwandte Wesen anzuziehen, wirken die seinen polar, sie stoßen befreundete Elemente ab. Noch einmal, um die Wende des vierzigsten Jahres, auf der Höhe des Schaffens, wendet er sich gleichsam um und breitet neuen Freunden die Arme entgegen:

»O Lebens Mittag! Zweite Jugendzeit!
O Sommergarten!
Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten!
Der Freunde harr ich, Tag und Nacht bereit,
Der neuen Freunde! Kommt! Es ist Zeit! Es ist Zeit!«

Aber der Baum seines Lebens belaubt sich nicht mehr. Es ist zu spät. Noch treten gelegentlich Beziehungen heran, aus der Ferne gewitterts vom zukünftigen Ruhm, Brandes, Strindberg, Hippolyt Taine rufen her, die ersten Erkenner. Aber zu fern sind sie, zu abseitig schon, um in dieses seltsame Leben einzuwirken, das innen verbrennt und außen vor Frost vergeht. Von Hotel zu Hotel tappt des Halbblinden Wanderschaft, von Meer zu Stadt, von Alpe zu Tal, aber immer nur von Einsamkeit zu Einsamkeit, und wie dann endlich die innere Hitze das umfrostete Gefäß seines Körpers sprengt und in Turin die Tobsucht ihn überfällt, ist keiner der Freunde zugegen. Einsam verbrennt dieses herrliche Gehirn.

Nur einer ist da, ein einziger immer da von jenem Tage, als Nietzsche vom philologischen Katheder zu Basel herabsteigt, ist immer da, aus der Ferne, aus seiner Sicherheit den Wanderer mit Blick und Gefühl begleitend, der Treueste der Treuen, Franz Overbeck, dessen Briefwechsel mit Nietzsche nun zum erstenmal vollständig zutage tritt. Ein jahrelanger und durchaus noch nicht ganz beschwichtigter Zank der Herausgeberschaft hat zur Folge gehabt, daß diese Briefe ganz steril herausgegeben wurden, ohne daß eine einführende Darstellung über Entstehung und Form dieser Freundschaft belehrte und man nichts über Overbeck erfährt, als was man sich aus diesen Blättern herauszulesen vermag. Aber vielleicht ist das besser so, denn gerade in dieser Anonymität seines Wirkens offenbart sich seine persönliche, seine rein menschliche Art ungleich glücklicher. Nicht den Philologen spürt man, den Kollegen, den Professor, den Schriftsteller in Overbeck, nichts von jenem Teil seines produktiven Wesens, das für sich selbst und die Welt wirkte, sondern nur jenen anderen verborgenen Teil, der hier wesentlicher ist: die Hingabe, die Freundschaft. Nicht der Meister ist er Nietzsche gewesen wie Richard Wagner, nicht der Jünger wie Peter Gast, nicht der Geistesgenosse wie Rohde, nicht der Blutgebundene wie die Schwester, nichts, nichts als der Freund, aber der Freund, der in diesen einen Begriff alle hohe und niedrige, alle große und kleine Tätigkeit des Vertrauens vereint. Alles ist er für Nietzsche: der Postmeister, der Kommissionär, der Bankier, der Arzt, der Vermittler, der Nachrichtenbringer, der ewige Tröster, der sanfte Beruhiger, immer zur Stelle, durch nichts zu verwirren, aufgetan für das, was er vom Wesen dieses Außerordentlichen zu verstehen vermag, und ehrfürchtig auch vor dem Inkommensurablen, das auch seine Freundesliebe sich nicht zu errechnen weiß. Er ist der einzige Punkt Beständigkeit in der schwankenden Existenz Nietzsches, auf den er immer mit Sicherheit die Blicke richten kann, und wie aus einem tiefen Aufatmen der Dankbarkeit klingt einmal das heiter glückliche Wort seines Gefühls: »Mitten im Leben war ich vom guten Overbeck umgeben.«

Ihm schreibt Nietzsche alles, und auch das Kleinste seiner Körperlichkeit, das er vor anderen vielleicht schamhaft verbirgt, alles schreit er ihm entgegen, die kleinsten häuslichen Sorgen vertraut er ihm an, jede schlaflose Nacht, jeden verregneten Tag, alle die wirren und krausen Peripetien seiner Krankheit. Bulletins sind die Hälfte seiner Briefe und die anderen jene furchtbaren Schreie der Verzweiflung, die einem noch nach Tagen in der Seele gellen. Entsetzlich sie zu lesen, denn wie ein Blutsturz brichts oft heraus: »Ich begreife gar nicht mehr, wozu ich auch nur noch ein halbes Jahr leben soll«, oder »ich muß mir eine neue Geduld erfinden und mehr noch als Geduld«, oder »ein Pistolenlauf ist jetzt für mich die Quelle relativ angenehmer Gedanken«, oder der schneidende Selbstzuruf: »Mach dir's doch leichter: stirb.« Und zwischen diesen Ausbrüchen kleine irdische Sorgen. Er klagt über einen Ofen, der ihm in Genua fehlt, er bittet um eine besondere Sorte Tee, von der er weniger Unbequemlichkeiten erhofft, alles, was ihn drückt und bedrängt, wirft er im Wort hinüber zum Freunde. Unablässig häuft er sein ganzes Bündel von Qualen und Entbehrungen dem Empfinden des fernen Freundes auf, rücksichtslos und doch wieder mit feinstem Taktgefühl das Peinliche erkennend, mit dem er ihn bedrückt, und rührend ist dann seine vorsichtige und doch der Verneinung gewisse Frage: »Nicht wahr, ich bin auf die Dauer ein lästiger Kamerad?« Und wirklich, in all den fünfzehn Jahren Ferne, die nur von gelegentlichen Begegnungen unterbrochen wird, verliert Overbeck nichts von der »milden Festigkeit«, die Nietzsche an ihm mit immer neuer Ergriffenheit rühmt. Die kleinste Klage hört er teilnehmend an, die wirrste Verzweiflung sucht er zu mildern durch klugen Trost, auch das Überschwenglichste nimmt er von diesem Menschen für wahr, ohne es durch kleine Zweifel herabzumindern, nie erbittert er den Gereizten durch Widerspruch, nie vertröstet er ihn mit Phantomen. Eine ruhige, zärtliche, angenehme, nüchterne Heiterkeit strömt von seinen Briefen aus, und man spürt gerade aus der Verschiedenheit des Rhythmus, aus dem Gegensatz zu der sprudelnden, aufspringenden, brennheißen Mitteilsamkeit Nietzsches, wie tröstend seine sanfte Beharrlichkeit dem Verlassenen sein mußte. Er besorgt die kleinen Spezialitäten, die der gereizte Magen des Freundes nötig hat, unermüdlich, rastlos erfüllt er seine Wünsche, verwaltet sein Vermögen, und seine Bitten betreffen nie sich selber, sondern immer nur den Freund. Sie sind zärtlich wie die einer Mutter, wenn er schreibt: »Friere nicht ohne Not und nähre Dich nicht schlecht.« Sie sind vorsorglich wie die eines Vaters, wenn er ab und zu einen kleinen Ratschlag für die Besserung seines Zustandes ihm zu geben wagt. Ein einziges Mal nur versucht er, das tiefste Leiden Nietzsches bei der Wurzel auszugraben, ihn loszureißen aus der Einsamkeit, die ihn verstrickt und bedrückt, die ihn verbrennt und erfriert. Ganz vorsichtig, gleichsam mit Watte umwickelt, reicht er ihm den Vorschlag hin, einen Lehrberuf zu ergreifen, freilich keinen akademischen mehr, sondern etwa den des Deutschen an einer höheren Schule. Und wunderbar: Nietzsche, der sonst gegen Ratschläge taub ist und höhnend bei anderer Gelegenheit schreibt, »man möge doch dem Laokoon zureden, seine Schlangen zu überwinden«, und in diesen Briefen einmal gelegentlich das prachtvolle Aphorisma prägt: »Der Leidende ist eine wohlfeile Beute für jedermann, in bezug auf einen Leidenden ist jeder weise« – er beantwortet ruhig und geduldig diesen Vorschlag, den er bei weitem das Akzeptabelste nennt, das ihm neuerdings gemacht wurde. Er erkennt, was der Freund mit dieser Lockung will, fühlt den tiefen Sinn dieser unscheinbaren Wiederkehr und fügt nur skeptisch bei: »Warten wir erst noch den Zarathustra ab: ich fürchte, keine Behörde der Welt wird mich danach noch zum Lehrer der Jugend haben wollen.«

Aber jede Freundschaft mit Nietzsche hat noch eine letzte Probe zu bestehen, die Probe, an der fast alle anderen zerbrachen: die seiner Werke. Es ist seltsam zu sagen: auch diese Freundschaft besteht fünfzehn Jahre nicht durch die Werke Nietzsches, sondern eigentlich trotz ihrer, und Nietzsche spricht es selbst einmal wörtlich aus. »Es ist sehr schön, daß wir einander in den letzten Jahren nicht fremd geworden sind, auch durch den Zarathustra nicht.« Auch durch den Zarathustra nicht! So gewohnt war Nietzsche, daß seine Werke alle abstießen von ihm, die ihn liebten, und tatsächlich ist auch zwischen Nietzsche und Overbeck die literarische Produktion Nietzsches eher eine Belastungsprobe als eine Förderung ihrer Freundschaft. Overbeck vermag nie recht auf die gewaltigen Schöpfungen mit rechtem Enthusiasmus einzugehen, er hat innere moralische Widerstände, und die beiden, die sich sonst frei und offen, in inniger Zärtlichkeit gegenüberstehen, hier weichen sie einander vorsichtig aus und biegen Auseinandersetzungen ab. In einer tiefen Angst, immer zitternd, ihn damit zu verlieren, reicht Nietzsche dem Freunde ewige Bücher dar und schreibt bei einem, gleichsam bettelnd: »Alter Freund, lies es von vorn nach hinten und laß Dich nicht verwirren und entfremden. Nimm alle Kraft zusammen, alle Kraft Deines Wohlwollens für mich, Deines geduldigen und hundertfach bewahrten Wohlwollens. Ist Dir das Buch unerträglich, so vielleicht hundert Einzelheiten nicht.« Er entschuldigt sich, so Ungewöhnliches zu schreiben: »Man soll jetzt nicht schöne Sachen von mir erwarten, so wenig man einem leidenden und verhungernden Tier zumuten soll, daß es mit Anmut seine Beute zerreiße.« Und mit prachtvoller Klarheit entschuldigt sich wieder Overbeck, die Werke nicht ganz zu verstehen, wenn er offen schreibt: »Ich lege noch gar nicht meinen Maßstab als Versenkten an, wenn ich außerstande zu sein erkläre, mich in Deine Schriften, wie sie erforderten, zu versenken.« Er sucht nicht durch literarische Floskeln diese innere Fremdheit zu beschönigen, lieber wehrt er ab. Er beschwätzt nicht die Werke, er dankt dafür, ehrt ihren Schöpfer und bleibt ihm treu. Er bleibt der Freund und dann der Wichtigste für den Einsamen.

Manchen wird es enttäuschen, daß in diesem Briefwechsel die Äußerungen über Nietzsches Werke darum so ganz monologisch, so ganz einseitig sind, daß nur immer Nietzsche sie erklärt, ankündigt und paraphrasiert, ohne daß kaum jemals von Overbecks Seite anders diesen Expektorationen erwidert wird als durch flüchtigen Dank, bescheidenen Respekt und vorsichtige Bewertung. Manche werden sich vielleicht dadurch geneigt fühlen, Overbeck als einen Minderwertigen und Unverständigen zu empfinden, weil diese Werke, die für uns entscheidende geworden sind, sich ihm nicht unmittelbar und in ihrer ganzen Gewalt und Bedeutung auftaten. Aber wir von heute, die wir Nietzsche als eine Einheit und seine Werke als geschlossenes Geschehnis empfinden, sind vielleicht schon unfähig, zurückzuverstehen, wie phantastisch, wie einsam, wie abrupt, wie gefährlich, wie unverständlich in ihrer Einzigkeit solche wie Meteore in die flaue Zeit stürzende Bücher damals gewirkt haben, wie überdies seine Ankündigungen in diesen Briefen sie von vornherein dem Freunde noch schreckhafter gemacht haben mögen. Wenn er schreibt: »Mir ist zum erstenmal heute ein Gedanke gekommen, der die Geschichte der Menschheit in zwei Teile spaltet«, oder ankündigt: »Zarathustra ist etwas, das kein lebendiger Mensch außer mir machen kann«, oder mit prophetischem Geiste sagt: »Das gegenwärtige Europa hat noch keine Ahnung davon, um welch furchtbare Entscheidung mein Wesen sich dreht, an welches Rad von Problemen ich gebunden bin, daß sich eine Katastrophe vorbereitet, deren Namen ich weiß, aber nicht aussprechen werde«, so ahnt man wohl mit Schauer die Angst, die Beklemmung, mit der ein Freund ein so verkündetes Buch zu Händen nehmen mochte. Aber dennoch hält Overbeck treulich fest und Nietzsche an ihm. Immer und immer wieder dankt er Overbeck in klingenden Worten »für die unwandelbare Treue, die Du mir in den härtesten und unverständlichsten Zeiten meines Lebens erwiesen hast. Wenn ich Richard Wagner ausnehme, so ist mir niemand mit dem Tausendstel von Leidenschaft und Leiden entgegengekommen, um mich mit ihm zu verstehen.«

Richard Wagner: das ist und bleibt trotz allem und allem für Nietzsche noch immer das äußerste Maß, das er an Menschen kennt, es ist trotz allem und allem das höchste Lob, das er im Menschlichen zu verleihen weiß. Und tatsächlich bedeuten mit den Briefen an Richard Wagner und jenen an seine Schwester diese Dokumente an Overbeck auch die Höhepunkte von Nietzsches Innigkeit und geistiger Vertraulichkeit. Wunderbare Weite des Gefühls ist in ihnen aufgetan, eine dramatische Wucht der Entwicklung, wie sie unsere neuere Zeit seitdem nicht wieder gekannt. Kein literarischer Mißton, kein philologisches Geplauder dämpft den hohen, hellklingenden Ton, der sich hier mit strahlender Sprachreinheit über dreihundert Briefe spannt, immer weiter schwingend, immer gläserner, kristallener und schärfer, immer zarter und voller zugleich, bis dann plötzlich, mitten in einer angefangenen Zeile, die Saite schrill abspringt und der Niedersturz des gewaltigen Gehirns mit dem Bewußtsein der Welt auch diese Freundschaft zerschlägt.

Mater Dolorosa. Die Briefe von Nietzsches Mutter an Overheck

1937

 

 

Diese Frau ist wirklich unerschöpflich in ihrer Geduld – und jener Geduld, die nur eine Mutter haben kann, bedarf es hier.

Peter Gast, 1890

 

 

Eine stille, schmale Pastorswitwe in Naumburg, immer geht sie in Schwarz, immer geht sie allein und oft in die Kirche, die fromme, die geprüfte Frau. Das Leben ist nicht freundlich zu ihr gewesen. Früh ist ihr der Mann weggestorben, die Tochter, die einzige, die zarte, muntere Elisabeth hat sie verlassen, die mit einem sonderbaren Phantasten Förster nach Paraguay auswanderte, und das Lieblingskind, der »Herzenssohn« – ach, sie seufzt, wenn sie an seinen Namen denkt, und in der Kirche spricht sie für ihn ein besonderes Gebet. Wieviel Freude hat er ihr bereitet, dieser feine, kluge, zärtliche Junge, wie stolz ist sie auf ihren Fritz gewesen in all den ersten Jahren: der beste Schüler im Gymnasium, der Liebling aller Lehrer auf der Universität, mit vierundzwanzig Jahren – ein Mirakel in der akademischen Welt – Professor, ordentlicher Professor der Universität Basel, mit fünfundzwanzig Jahren durch die Freundschaft des berühmten Richard Wagner geehrt; jede Mutter muß sie beneiden um solch einen Sohn, die stille, bescheidene Pastorswitwe in Naumburg. Und wie schöne, wie gelehrte Bücher er schreibt schwer freilich verständlich dem naiven, altmodischen Frauchen, das wenig außer frommen Traktaten, vielleicht noch die Klassiker, gelesen hat und sogar die Titel seiner Werke falsch aufschreibt (»Geistesdämmerung« statt »Götzendämmerung« und »Zara Tustra« statt »Zarathustra«), Doch allerhand gelehrte Leute sprechen den Schriften ihres Kindes Bedeutung zu, wie sollte eine Mutter solchem Lobe nicht willig glauben? Aber auf einmal weicht ihre Freude einer wilden Angst, einem jähen Erschrecken; erst ist einer gekommen, dann ein andrer und hat erzählt, Fritz, ihr »Herzensfritz« entehre das Gedenken seines frommen Vaters, indem er entsetzlich blasphemische Bücher schreibe und sich frevlerisch »der Antichrist« nenne. Es sei eine Schande, eine Schmach: ein Pastorssohn beschimpfe die christliche Lehre und kündige einen Kreuzzug an gegen das Kreuz. Die arme schlichte Frau erschrickt bis in die tiefste Seele; sie hat ihr Kind verloren bei lebendigem Leib, und wirklich, fremd werden seine Briefe und manchmal hart. Ein wilder herrischer Ton springt auf in seinen Schriften, in seinem Wesen; finstere Ahnung beschleicht heimlich die verstörte Mutter, ein Dämon, der leibhaftige Feind Gottes müsse der Seele ihres Kindes sich bemächtigt haben.

Und plötzlich die Schreckensnachricht aus Basel im Jänner 1889, sie solle kommen, sofort. Overbeck, der einzig verläßliche Freund und ihr besonders vertraut als Professor der Theologie, hat den geistig Erkrankten aus Turin geholt: ihr, der Mutter allein, will er den Wahnsinnigen übergeben, damit man ihn in die lebendige Gruft, in die Irrenanstalt überführe. Gräßliche Szenen, die man sich scheut, wiederzugeben, spielen sich ab bei dem Wiedersehen, das für den Geisteskranken kein Wiedererkennen mehr ist. Mit starken Dosen Chloral eingeschläfert und außerdem in Begleitung eines Arztes und eines Irrenwärters wird schließlich der kranke Nietzsche mit der Mutter in einen Waggon verladen, und hier beginnt seine Fahrt in die ewige Nacht, beginnt auch der Bericht der Mutter in den Briefen an Overbeck, die eines der erschütterndsten Dokumente der Geistesgeschichte sind (unter dem Titel ›Der kranke Nietzsche‹ im Bermann-Fischer Verlag, Wien, erschienen 1937).

Furchtbar die Reise – ein Wutausbruch des Irren gegen die Mutter, vor dem sie in ein anderes Abteil sich retten muß –, furchtbar die Überführung ins Irrenhaus, wo für fünf Mark pro Tag der größte Genius des Jahrhunderts in eine Zelle eingehürdet wird. Für die Ärzte ist er freilich nicht dieser Genius, sondern ein simpler Fall von Paranoia mit dem Vermerk in Klammern »unheilbar«; der Leiter der Anstalt, dem man Nietzsches Bedeutung erklären will, lehnt zunächst die Lektüre seiner Werke ab, »sie hätten zu derartigen Schöngeisterschriften so wenig Zeit«; wenige Tage später wird den Studenten im Kursus ein Professor Nietzsche als Schulbeispiel einer Paranoia vordemonstriert, ohne daß ein einziger bei dem Namen »Nietzsche« aufschräke (der damals noch so unbekannt war, daß das Konversationslexikon gar nicht seinen Namen enthält). Man läßt den Patienten auf und ab marschieren, und weil er nicht stramm genug geht (um die Symptome zu zeigen), spaßt der Professor mit ihm: »Ein alter Soldat wie Sie wird doch anständig marschieren können.« Und ebenso spaßt der Irrenwärter mit der Larve dieses größten Geistmenschen unserer Zeit, er streichelt ihm brav den buschigen Schnurrbart, er klopft ihm auf die Schulter und umarmt fröhlich den Mann, der in seiner hellsichtigen Zeit auch die leiseste Berührung als allzu intim und zudringlich empfand. Wie in Baudelaires ›Albatros‹ ist, der früher frei und herrlich den Äther durchschwebte, nun ihm die Schwingen zerschnitten sind, zu Kinderspott und grobem Wärterspaß geworden. (»Er kriecht mich mannigmal beim Kopfe«, sächselt der gutmütige Stubengesell.)

»Unheilbar« und »für immer zu internieren«, haben die Ärzte gesagt. Aber eine will es nicht glauben, die rührend einfältige, die rührend gläubige, die rührend zärtliche Frau, seine Mutter. »Quäle mich nicht nur ewig der Gedanke, ob die Ärzte die Krankheit meines Sohnes richtig auffaßten.« Was sind für sie diese fürchterlichen Fremdworte, die Befunde? Nein, sie glaubt es nicht, weil sie es nicht glauben will, daß ihr Kind, ihr Herzensfritz, wahnsinnig sei. Nur überarbeitet habe sich ihr »Herzensjunge«, und wenn sie, die Mutter, ihn zu sich in Pflege nehmen könnte, würde er rasch genesen. Die Ärzte zögern lange. Einen Geisteskranken, der entsetzliche Tobsuchtsausbrüche hat – selbst Peter Gast fürchtet, Nietzsche könne »in diesem Zustand seine Mutter einmal möglicherweise erschlagen oder ermorden« –, ohne Wärter, ohne Vorsichtsmaßregeln einer schwachen, alten Frau zur Hütung überlassen: es scheint absurd. Aber die Mutter läßt nicht nach, sie wagt die Gefahr, sie beugt sich dem auferlegten Kreuz, und schließlich entlassen die Ärzte Anfang 1891 den etwas Beruhigten, jedoch keineswegs Genesenen gegen Revers aus der Anstalt. Von nun an ist die Mutter seine einzige Pflegerin.

Und nun sieht man manchmal eine alte Frau den Kranken wie einen großen, täppischen Bären durch die Straßen und auf weite Spaziergänge führen. Um ihn zu beschäftigen, sagt sie ihm ununterbrochen Gedichte vor, die er stumpf anhört; geschickt steuert sie ihn an den Menschen vorbei, die ihn neugierig anstarren, und an den Pferden, die er verabscheut. (»Ich bebe keine Pferde«, sagt er immer wieder statt »ich liebe keine Pferde«.) Aber glücklich ist sie jedesmal, wenn sie ihn ohne Aufsehen und ohne »Lautsein« (so nennt sie zärtlich-beschönigend das wilde Aufbrüllen des Irren) nach Hause gebracht hat. Dort ist er leichter zu beschäftigen. Setzt man ihn an das Klavier, so phantasiert der Geistesabwesende dort stundenlang ins Leere, und sie läßt ihn gewähren, außer wenn er Wagner spielt, denn sie weiß, daß Amfortas ihm immer die Nerven erregt. Oder man gibt ihm zu lesen – das heißt natürlich, Nietzsche weiß längst nicht mehr, was er liest, aber eine Zeitung oder ein Buch in Händen zu halten und sich daraus vorzumurmeln, beschwichtigt ihn. Reicht man ihm einen Bleistift, so wacht dunkle Erinnerung in ihm auf, daß er einmal ein Schreiber, ein Schriftsteller war, er kritzelt und kritzelt unleserliche Worte auf das Papier: etwas von dem unsterblichen Dichter, von dem innerlichen Musiker ist noch unbewußt wach in ihm, doch gespenstischerweise nur das Mechanische der handwerklichen Funktionen. Wenn er spricht, ist er meist verworren und »sprachselig«, wie die Mutter schreibt; nur ab und zu blitzen wie bei dem kranken Hölderlin erschütternde Worte durch das Gewölk des Unsinns, etwa wenn er sagt: »Ich bin tot, weil ich dumm bin«, oder, den Haarbusch wild schüttelnd, »summarisch tot«.

All das berichtet die Mutter dem Freunde in rührendster Art. Sie ist aufrichtig in ihrem schlichten Erzählen, aber doch fühlt man, wie die Geprüfte das Bitterste verschweigt, wie sie Nietzsches wahren Zustand immer als heller, als heilbarer sich und dem Freunde vorzutäuschen sucht, wie sie über seine Zornausbrüche (wenn er aufschreit, »und mit welcher Stimme«) eilig hinüberredet, um von dem »guten Sohn« zu fabulieren, dessen »liebes Gesicht höchst amüsiert, ja ganz schelmisch« aussieht. Und nur an ihren erstickten Seufzern ahnt man, welch ungeheure Last die Mutter auf sich genommen, allein den unberechenbaren Kranken zu pflegen, zu überwachen, ihn zu waschen, zu füttern, zu kleiden, alles allein ohne Hilfe, ihn zwölf Stunden des Tages unablässig zu beschäftigen, und dann, statt zu ruhen, während er schläft, die Wirtschaft zu besorgen – ein Jahr, zwei Jahre, fünf Jahre ihr eigenes Leben hinopfernd dem Wahn seiner Genesung, ohne eine Stunde Freiheit, ohne Pause, ohne Entspannung. »Ach, meine Geliebten«, stöhnt sie dann auf, »niemand kann ahnen, was ich leide«. Immer wieder mahnt sie sich, »so muß man Geduld haben und auf des treuen Gottes Gnade und Allbarmherzigkeit vertrauen«.

Aber endlich kann auch dies fromme, dies wundergläubige Herz sich nicht mehr täuschen, und sie läßt von dem langgehegten Wahn, ihr »Herzensfritz« könnte noch einmal wach und geistlebendig werden. Resigniert bekennt sie, daß »sein Leiden mir immer ein Geheimnis bleiben wird«. Noch tut sie treu den täglichen Dienst, sie füttert ihn mit Schinkenbrötchen und streichelt ihm die Wangen. Aber immer mehr zerfällt Nietzsches Kraft. Er wird müder und müder. Die Spaziergänge locken ihn nicht mehr, stumm liegt er auf seinem Liegesessel, die leeren Augen unter den schwergewordenen Lidern mühsam auf den Eintretenden richtend. Die Wutausbrüche hören auf, der Krater ist ausgebrannt. Apathisch sitzt oder liegt er auf der Veranda: »Er spricht alle Monate kaum einmal einen Satz, auch körperlich ganz zusammengehutzelt, ein tränenerweckender Anblick.« Aber er fühlt offenbar gar nichts mehr, kein Glück und kein Unglück; auf eine schreckliche Art ist er im »Jenseits von allem«. Alles Vermögen für Unterscheidung kommt ihm allmählich abhanden, furchtbare Fortschritte macht die Auflösung, sogar des Begriffes der eigenen Person. »Er betrachtet lange seine Hände mit dem Ausdruck, als ob sie ihm gar nicht gehörten, und steckt sie dann meist in die Hosentasche, was er früher doch nie getan. Ich lege sie ihm in dieser Situation, wenn er sich auch krampfhaft weigert, auf den Tisch, liebkose sie und mache ihm begreiflich, daß es seine rechte und linke Hand sei.« Vergebens, daß jetzt der Ruhm ihn sucht, daß Fremde nach Naumburg pilgern, daß die Freunde, die bei Lebzeiten ihn verkannt, nun Besuche machen – es ist zu spät. Er erkennt niemanden mehr; wie ein sterbender Löwe, furchterregend und großartig, starrt er mit brechendem Auge Freunde und Verwandte an. Und durch ein gütiges Geschick bleibt es der Mutter erspart, dies Letzte, dies Schauervollste mitanzusehen, wie noch Jahre und Jahre, ein lebendiger Leichnam, diese unbewegliche Gestalt im Hause liegt, bis endlich das Herz aufhört zu schlagen in dem gleichsam versteinerten Leib.

Erschütternde Tragödie: ein Gehirn leuchtendster Klarheit, die erstaunlichste Fülle des Wissens, verbunden mit dem höchsten Ausdruck der Sprache – und ein winziger Bazillus, der dies einzige Gebilde mörderisch zerfrißt, strahlendste Helligkeit, die gestern noch schöpferische Kraft gewesen, zu tierischer Dumpfheit vernichtend: Rätsel dies und Geheimnis, das nicht nur diese einfache und milde Frau unkund war zu lösen und zu verstehen, sondern das wir selbst mit nicht fassendem Grauen betrachten. Wunderbar aber, wie sie, die ahnungslos vor diesem Unbegreiflichen steht, wie sie, die heldische Mutter, treu und aufopferungsvoll den vergeblichen Dienst mit unerschöpflicher Kraft weiter tut, wie sie hofft, durch Demut und Liebe das Wunder zu wirken; dieser Heroismus der Liebe, nicht minder gewaltig als der geistige des großen Empörers, ist nun zum ersten Mal unwiderstehlich erkennbar geworden in ihren Briefen. Immer ist die unabsichtliche Geste die schönste und die menschlichste; immer gehen gerade von dem Einfachen, von dem schlicht und sachlich Wahren die reinsten Ergriffenheiten aus, und so wissen wir aus diesen Aufzeichnungen einer einfachen Frau mehr als aus allen klinischen Belegen und gelehrten Dissertationen über den Untergang und Hingang dieses großen Geistes der vergangenen Generation. Gerade die ihn in seinem Werke vielleicht am wenigsten verstand, die fromme, die weltferne, die ahnungslose Mutter, hat ihn – Mirakel der Liebeskraft – in seinem Wesen am besten geschildert.


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