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1922
Arthur Schnitzler, ich habe ihn, in seiner Stadt, seiner Welt aufwachsend, von ferne seit erster Bewußtseinsfrühe als Dichter geliebt und liebe ihn noch mehr, seit ich an vielfacher Gelegenheit die prachtvolle, warme, gütige Fülle seiner Menschlichkeit rein bewährt sehen konnte. Ihn bloß zu rühmen an seinem festlichen Tag, wäre mir leicht. Aber es drängt mich, mehr zu tun: in jener Aufrichtigkeit von Arthur Schnitzler zu sprechen, die wir bei ihm in allen menschlichen Dingen lernten, und mit dieser Aufrichtigkeit offen zu sagen, daß mein Glaube an sein Werk ein höherer ist als jener der Stunde (so laut sie sich auch gebärden mag).
Denn ich fühle in Wahrheit, in innerster, aufrichtiger Wahrheit so: Arthur Schnitzlers Werk macht jetzt, gerade um die Stunde eines festlichen Jahres, eine schwere, wohl die schwerste Krise seiner inneren und äußeren Wirkung durch. Jener Teil, jener sehr wesentliche seines Theaters, seiner Novellistik, der Sittenschilderung ist, kann heute und gerade heute einer jungen Generation nicht mehr recht erkennbar und mitfühlbar sein: sie werden, die Jüngeren, im Augenblick vielleicht gar nicht verstehen, was uns an diesen Werken so wichtig und so bezaubernd war, und ich vermag es wiederum zu verstehen, was eine eben aufsteigende Generation (und nur diese allein) ungewiß macht vor Kunstwerken, deren geistigen Reiz, deren dichterische Absicht sie zweifellos nicht verkennen kann. Irgendein Zusammenhang ist, das spüren sie, zerstört, und wir wissen selbst, wer ihn zerstört hat: die Zeit, der Krieg, jene beispiellose Verwandlung der Sphäre, die gerade Österreich am erbittertsten umgestülpt hat. Stifter war um 1866 ein ähnliches geschehen in Österreich, und Jean Paul um 1870 in Deutschland: auf einmal war eine Jugend da, dort eine liberale, hier eine hastig-tätige, die nach einem Kriege sich und ihre Probleme in so zarten, so edel kristallisierten, so seelischen Formen nicht mehr gespiegelt fand. Noch einmal mußte die Zeit sich wenden und zurückschwingen, bis wir diese Dichter wieder erkannten und erfühlten. Jenen war aber die Zeit nur allmählich weggewendet worden: die Welt Arthur Schnitzlers jedoch hat der Wirbelsturm von fünf Jahren mit einer in der Geschichte unerhörten Vehemenz zerstampft, hier ist einem Dichter das Beispiellose geschehen, daß ihm seine ganze Welt, aus der er schuf, seine ganze Kultur für lange oder immer vernichtet scheint. Die Typen, die unvergeßlichen, die er geschaffen, die man gestern, die man an seinem fünfzigsten Geburtstag noch auf der Straße, in den Theatern, in den Salons von Wien, seinem Blick fast schon nachgebildet, täglich sehen konnte, sie sind plötzlich weg aus der Wirklichkeit, sind verwandelt. Das »süße Mädel« ist verhurt, die Anatols machen Börsengeschäfte, die Aristokraten sind geflüchtet, die Offiziere Kommis und Agenten geworden – die Leichtigkeit der Konversation ist vergröbert, die Erotik verpöbelt, die Stadt selbst proletarisiert. Manche der Probleme wiederum, die er geistig so bewegt und klug abgewandelt, haben eine andere Vehemenz bekommen, das Judenproblem vor allem und das soziale. Konflikt ohnegleichen: als Spiegel hat dieser größte Schilderer Wiens und der österreichischen Geistigkeit sein Werk vor die österreichische Welt gestellt. Da stirbt das alte Österreich über Nacht, und das neue, das in dem treugehaltenen Bilde sich hastig suchen würde, vermöchte sich nicht mehr zu erkennen. Nicht er ist seiner Welt, sondern die Wirklichkeit ihrem Dichter untreu geworden.
Ähnliche Krise der Wirkung bleibt keinem Künstler erspart. Manche haben sie zu Beginn ihres Werkes, haben sie dann, wenn die Epoche, die sie vorauserkannt haben, sich selbst noch nicht erkennt, manche wieder, wenn ihre Welt leise wegzualtern beginnt. Schnitzlers Welt aber ist – beispielloses Schicksal – ihm unter den Händen weggerissen worden, ehe sie welk, ehe sie ausgelebt war, und wir wissen es: für immer. Und sie wäre wirklich dahin, für immer dahin, wenn nicht einer – eben er, Arthur Schnitzler – sie gehalten, uns erhalten hätte, wenn diese vorbeigelebte und im Wirbel weggetragene Welt nicht in Formen und Typen, in ihrem Geist und in ihrem Gefühl, ihrer unzerstörbaren Kunstgegenwart Bildnis und überdauernde Gestaltung hätte in seinen Werken. Nur scheinbar besteht ja ein Künstler durch seine Epoche, ein Dichter durch seine zeitliche Sphäre: in Wahrheit besteht jene durch ihn allein. Nicht die Epoche dauert, und das Werk welkt hin: die Epoche altert ab, das Werk aber erneut sich als Kultur, als Kostüm, als Gegenwart ewiger Vergangenheit. Alles, was dies Wien um die Jahrhundertwende, dies Österreich bis zu seinem Einsturz war, wird einmal – denn der Name der francisco-josefinischen überspannt zu weiten Raum – nur durch Arthur Schnitzler recht erkannt, nach ihm recht benannt werden können. Die ersten Jahre unserer österreichischen Kultur haben nicht die Dichter geschildert: Haydn, Schubert, Waldmüller sprechen allein für den Jahrhundertanfang. Dann erst kommen Grillparzer, Stifter, Raimund als Bildner, als Deuter dieser Stadt, dieses Reichs. Nach ihnen wäre dann Schweigen gewesen oder nur mehr wieder Musik: hier aber steht er am Ende des Jahrhunderts, Geist vom Geiste dieser Stadt, treu ihren Traditionen, und bildet in leichten und nachdenklichen Spielen, in schwebenden und doch dauernden Gestalten das Wesen dieser merkwürdigen Kultur. Nur ein paar Jahre noch, ein Jahrzehnt vielleicht, dann dunkelt schon eine leise Patina von Geschichte auf diesen seinen Bildern und Gestalten. Was heute Gegenwart von gestern scheint, wirkt dann rein als Vergangenheit, wirkt in seinen vollendeten Teilen als Klassik und dichterische Dauer, und eine junge Generation ist da, eine zweite oder dritte, die unsere Liebe, unsere Verehrung zu diesem hinter aller Leichtigkeit so ernsten, trotz aller Grazie so tiefen Künstler aufs neue beglückt billigen und begleiten wird. Möge er ihr noch in voller Schaffenskraft begegnen!