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Abschied von John Drinkwater

1937

 

Abschiednehmen ist eine schwere Kunst, die das Herz hartnäckig sich weigert zu erlernen; jedesmal steht man mit neuer Beklommenheit vor einem neuen Verlust. Selten aber habe ich den Tod eines Kameraden, eines Freundes so schreckhaft-jäh und so erschüttert empfunden wie den John Drinkwaters. Ich liebte diesen großen englischen Dichter sehr um seiner reinen und humanen Verse willen, ich schätzte außerordentlich seine Dramen, von denen ›Abraham Lincoln‹ im Wiener Burgtheater erst vor kurzem großen Erfolg errungen, ich bewunderte ihn als Prospero und in andern Shakespeare-Rollen als einen der taktvollsten und verständigsten Schauspieler, und ich war sehr beglückt durch die Freundschaft, die uns beinahe Gleichaltrige verband. Ich dankte ihm gute Stunden in seinem gastlichen Haus, wo man den ausgezeichnetsten Künstlern der Zeit begegnete und Daisy Kennedy, seine Frau, die treffliche Geigerin mit ihrem musikalischen Talent, die dichterische Atmosphäre noch vollkommener machte. Aber noch ein Besonderes erschütterte mich diesmal so sehr, und das war die letzte Begegnung mit ihm, zwei Tage vor seinem Tod.

Es war am Dienstag dieser Woche vor Ostern, da ging morgens das Telephon. Er rief mich an und sagte, nachmittags würde im allerintimsten Kreise ohne jede Presse und Publizität der Film gezeigt ›The King's People‹, den er für die Krönung geschrieben habe, und ob ich kommen wollte. Natürlich kam ich gern. Die Vorstellung war in keinem Kinotheater, sondern in einem kleinen Probezimmer der Warner Brothers Company, im ganzen fünfzehn oder zwanzig Personen, die in bequemen Fauteuils beisammen saßen – es war etwa die Atmosphäre von Kammermusik. Außer den nächsten Angehörigen Drinkwaters waren die illustren Personen anwesend, welche in diesem Film mitspielen, die Lady Astor und der einundachtzigjährige Bernard Shaw, frisch wie immer – er hatte es sich nicht nehmen lassen, zu Fuß von seiner Wohnung herzumarschieren mit seinen steifen raschen Schritten. Ein paar Schauspieler noch, der Producer, dann Drinkwater selbst und seine achtjährige süße kleine Tochter Penny, die in dem Film tapfer mitspielt.

Die Szene des Krönungsfilms ist zuerst John Drinkwaters Haus, denn es wird gleichzeitig die Entstehung des Films mit dem Film selbst geschildert. Drinkwater tritt in persona auf, erklärt einer amerikanischen Journalistin den Sinn des Krönungsfilms, und während der Film abrollt, berät er sich mit einigen prominenten Persönlichkeiten Englands, mit Austen Chamberlain, mit Lady Astor, mit Bernard Shaw, so daß diese gleichsam als Raisonneure die Geschehnisse vom Tode der Königin Victoria bis zur heutigen Stunde begleiten. Nun ist schon dies ein wenig gespenstisch, mit lebenden Menschen im selben Zimmer zu sitzen, deren schwarzweiße redende Schatten zwei Meter weit auf der Leinwand agieren und sprechen. Knapp vor mir saß atemlos das achtjährige Kind, Penny Drinkwater, und sah sich selber zu, wie sie auf dem fließenden Bild ihren Vater umarmte, der leibhaft und lebend neben ihr stand, hinter mir saß Bernard Shaw und schmunzelte sich selber an – es war grotesk und geheimnisvoll zugleich, diese Spiegelung einer doppelten Realität. Einmal freilich wich dieser sonderbare Bann einem herzlichen Gelächter, als auf der Leinwand Bernard Shaw im Bibliothekszimmer in Drinkwaters Haus auf Drinkwater wartet und – verzeihlich bei einem Einundachtzigjährigen – dabei einnickt und dann Drinkwater den Eingeschlafenen überrascht, nicht ganz gewiß, ob er den heitern Patriarchen aufwecken dürfe oder nicht. Schließlich weckt er ihn auf, und sofort feuerwerkt auf der Leinwand Shaw die shawischsten Paradoxen – es war eine wunderbare Lustspielszene, wie sie eben kein Regisseur, sondern nur die Wirklichkeit erfindet. Wir alle applaudierten impulsiv und wandten uns in dem kleinen Zimmer nach dem leibhaftigen Bernard Shaw um, der mit seinen kleinen Äugelchen amüsiert funkelte. Eine gelöstere, humorvollere Stimmung war nicht zu erdenken.

Aber plötzlich kam ein bedrücktes Schweigen, es ging wie ein Atemanhalten gespenstisch durch den kleinen intimen Raum. Auf der Leinwand erschien das Hausmädchen in Drinkwaters Studierzimmer und meldete neuen Besuch – Sir Austen Chamberlain. Alle fühlten wir unwillkürlich ein Unbehagen. Denn Austen Chamberlain war doch erst wenige Tage vorher gestorben. Ein Toter sollte plötzlich in unsern lebendigen Kreis treten. Und schon war er da, schon setzte er sich (vorgestern hatte man ihn begraben) bequem auf einen Stuhl, zündete sich eine Zigarette an und sprach. Er sprach mit lauter deutlicher Stimme, der Tote, er sprach unbekümmert und klar. Alle, ich glaube alle, hatten wir ein leises gruseliges Gefühl im Nacken, alle sagten wir uns: du bist doch tot, wieso lebst du, wieso regst du dich, wieso sprichst du? Und alle waren wir erleichtert, als er wieder von der Szene abtrat, und wir freuten uns, daß statt seiner wieder die Lebendigen ihr Leben zeigten, daß auf der Leinwand John Drinkwater, breit, hell, gesund, sein Kind umarmte und ihm den Sinn der Krönung, die Ideale des englischen Commonwealth, die auf Toleranz und good-will beruhen, deutete. Aus dem Hades kam man wieder ins Licht, und als es dann wirklich Licht war in dem kleinen Probierzimmer, als die Leinwand verlosch und die Kerzen aufflammten, schüttelte man dem Freunde, dem Autor John Drinkwater herzlich glückwünschend die Hand, man umarmte die kleine süße achtjährige Penny, man half respektvoll dem muntern Patriarchen Bernard Shaw in den Mantel, man ging auf die Straße und freute nach dem künstlichen sich des lebendigen Lichts.

Und nächster Tag am Abend, ich sagte mir's noch: du mußt Drinkwater eine Zeile schreiben und ihm doch ehrlich aussprechen, wie nobel, wie anständig, wie dichterisch er das diffizile Problem eines offiziellen Krönungsfilms gelöst, das so leicht ins Byzantinische, in das Superpatriotische, ins Geschmacklose hätte abgleiten können. Ich wollte ihm danken für das Vertrauen, mich dem engen Freundeskreis beigezogen zu haben, welchem diese intimste Uraufführung zugedacht war. Ich hatte, ich weiß nicht warum, ganz plötzlich und heftig das Bedürfnis, ihm etwas Herzliches zuzusprechen, aber es verschob sich dann um einen Tag. Aber wieder, zum wievieltenmal im Leben, empfing ich die Mahnung, nie einen Dank, nie eine Geste der Freundschaft um einen Tag und nur um eine Stunde zu verzögern. Denn am nächsten Tag, auf der Straße springt von einem der posters, der großgedruckten Ankündigungszettel, die Inschrift mich an ›John Drinkwater Tragedy‹. Was für »tragedy«, frage ich mich erschrocken und weiß für einen Penny dann: er ist gestorben in dieser Nacht, und ich habe ihm nicht meinen Dank gesagt, nicht genug Dank für diesen einzelnen Anlaß und nicht für all das, was ich an dichterischem Wert von ihm empfangen. Den ich gestern noch gesehen, lebend und heiter neben dem Schattenspiel seines Lebens, er ist selbst nun bei den Schatten, und verstört, verwirrt, mit vergebens tastenden und ohnmächtig niedersinkenden Händen blickt unsere Liebe ihm nach.


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