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1941
Still und unauffällig, wie er gelebt hat, ist am 8. April Max Herrmann-Neiße von uns gegangen; ein Herzschlag hat diesen reinen und wundervoll humanen Dichter hinweggerafft.
Noch vor einigen Jahren veranstalteten wir anläßlich seines fünfzigsten Geburtstages in London eine öffentliche Feier; Ernst Toller, der ihm inzwischen vorangegangen, und ich sprachen über sein Lebenswerk, dann las er seine Gedichte. Er war rührend wie immer anzusehen, niedergeduckt auf das Pult, der kleine verwachsene Mann mit den klugen, scharfen, grauen Augen, die an jenem Abend besonders hell und zärtlich leuchteten. Man spürte es so sehr, wie er beglückt war, endlich wieder einmal Verse, deutsche Verse einem andächtig lauschenden Kreise vorlesen zu dürfen und inmitten der riesigen und fremden Stadt die Wärme von Freundschaft, Anerkennung und dankbarer Bekräftigung um sich zu fühlen. In dieser einen Stunde lebte er wieder in der Heimat, denn seine eigentliche Heimat war das deutsche Gedicht. Er schrieb keine Prosa, er verachtete die Politik und haßte unsere mörderische und bestialische Zeit. Seine ganze Kraft, seine ganze Liebe wandte er – außer an die tapfere Frau, die sein Leben beschirmte – an die reinen und melodischen Strophen, die zu formen und zu feilen seine innerste und fast einzige Genugtuung blieb.
Von all den vielen deutschen Exilierten litt er vielleicht am schmerzhaftesten unter der Fremdheit der Sprache und der kalten Gesinnung, weil er als »reinblütiger« Schlesier doch nicht aus Zwang den Weg ins Exil genommen, sondern aus einer verstümmelten Liebe für das alte, das dichterische, das denkerische Deutschland, das er durch Brutalität und Ungerechtigkeit geschändet sah. Unaufhörlich träumte er sich in dieses Deutschland von einst und seine Landschaft zurück, und aus diesen Träumen wurden Strophen und Gedichte edler männlicher Trauer, die schönsten vielleicht, die seit Heinrich Heine im Exil geschrieben wurden. Aber in diesen Versen läuterte er seine Bitternis; sie waren sein Trost, seine Rettung, sein Halt, eine Art Vergessen durch gesteigertes Erinnern. Stundenlang streifte er in London durch den Hyde Park und den Regent Park, weil er dort inmitten der steinernen Wildnis wenigstens einen Blick ins Grün, einen Atemzug Natur fand, und dort wandelte er so, wie man sich als Knabe den Dichter imaginiert, allein und versonnen, manchmal das kleine Notizbuch aus der Tasche ziehend und eine Zeile, einen Vers sich aufzeichnend.
Immer wenn ich ihn so sah, den kleinen, verhutzelten Mann, in seiner großen Einsamkeit, hatte ich ein Gefühl der Ehrfurcht und sogar des Stolzes, daß da einer war unter uns allen, der rein blieb und unbekümmert dem dichterischen Dienst hingegeben inmitten einer katastrophischen Welt. Auf den Straßen donnerten die Busse, nachts sprangen die Blinklichter und die Blitzlichter der Abwehrgeschütze auf, und die Sirenen heulten durch die Lüfte; alles das erschütterte, entsetzte seine zarte, empfindsame Seele bis zur Verzweiflung, aber nichts konnte den Drang zur dichterischen Aussage in ihm dämmen. Abends kam er dann von seinen langen, einsamen Streifungen nach Hause und schrieb in seinem winzigen Zimmerchen bis tief in die Nacht die Strophen hin, die ihm der Tag zugetragen, schrieb die schönsten dann nochmals auf weißem dickem Papier seinen Freunden zum Geschenke, denn – dies sein tiefster Schmerz – diese Gedichte, in denen sein innerstes Empfinden zu den Menschen sprach, konnten nicht im Druck erscheinen in einer Zeit, die mit Bomben und Maschinengewehren das Ohr ertaubte für jedwede seelische Musik. So sollten wenigstens seine Freunde sie kennen; schon das war ihm viel.
Aber wieviel auch an Bitternis in ihm sich sammelte und drängte, er blieb unerschütterlich in seiner Haltung. Nichts konnte ihn einer Zeit anpassen, die er verachtete und verfluchte, und wie schon im Ersten Weltkrieg blieb er unter den ganz Wenigen, die, während die andern in Propaganda werkten, ihr Wort jedem Zuspruch, jeder Rechtfertigung der Bestialität verweigerten. Als echter Dichter teilte er das Elend und die seelische Erniedrigung nicht in Nationen und Parteien ab, sondern fühlte einzig vom menschlich Allgemeinen her die Not des Einzelnen und die Qual der Unzähligen. Etwas Einmaliges, etwas Großartig-Unwahrscheinliches ist mit dieser Treue zur Dichtung und zur humanen Gesinnung mit ihm dahingegangen. Denn selten habe ich bei einem Menschen soviel seelische Tapferkeit der Gesinnung gesehen wie bei diesem kleinen schwachen Mann, der zerbrechlich schien vor einem Hauch des Winds und doch moralisch diesem furchtbarsten Orkan der Geschichte unerschütterlich durch seinen Glauben an die dichterische Mission standgehalten hat.
Schon vorher hatten Max Herrmann-Neißes Gedichte den Wissenden mit zu den wertvollsten der Generation nach Rilke gegolten. Aber niemals hat er schönere geschrieben als jene im Exil. Jene der ersten Emigrationsjahre sind mit einer rühmenden Einleitung Thomas Manns noch unter dem Titel ›Um uns die Fremde‹ im Verlag Oprecht in Zürich erschienen. In ihnen ist alle Trauer, aller Schmerz, alle Sehnsucht, alle Ungewißheit und Selbstentfremdung der Emigration unvergeßbar ausgesagt. Aber noch großartiger gestalteten sich jene der Kriegszeit. In ihnen hat Erbitterung, Wertlosigkeit und Verzweiflung erschütternde Akzente erreicht, die er nie gefunden hätte ohne jene äußerste Prüfung. Zur Stunde bewahren diese seine letzten Verse nur seine Witwe und einige seiner Freunde als kostbares Vermächtnis. Erst wenn sie öffentlich erscheinen, wird in vollem Ausmaß erkennbar sein, wer Max Herrmann-Neiße gewesen und wieviel wir an ihm verloren.