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Rainer Maria Rilke.
Ein Vortrag in London
1936
Meine Damen und meine Herren!
Sie werden an dem heutigen Tage und in den folgenden Wochen in den lectures so viel von kompetentester Seite über das Werk des vielgeliebten Dichters Rainer Maria Rilke hören, daß eine Einleitung mir selbst überflüssig und anspruchsvoll erscheint. Aber vielleicht habe ich doch ein gewisses Recht, hier das Wort zu nehmen – ein sehr kostbares und zugleich sehr schmerzliches Vorrecht, denn ich bin in Ihrem Lande einer der wenigen, vielleicht der einzige von jenen, die Rilke persönlich gekannt haben, und eine dichterische Erscheinung ist niemals vollkommen erkennbar, wenn man nicht zugleich das Bildnis des Menschen erweckt. Und so, wie man in einem Buche gerne dem gedruckten Text das Bild seines Autors voranstellt, so lassen Sie mich versuchen, eine rasche Silhouette des zu früh Dahingegangenen Ihnen zu geben.
Der reine Dichter in unserer Zeit ist selten, aber vielleicht noch seltener ist die rein dichterische Existenz, eine vollkommene Lebensführung. Und wer das Glück hatte, eine solche Harmonie des Schaffens und des Lebens in einem Manne vorbildlich verwirklicht zu sehen, dem obliegt die Pflicht, für seine Generation und vielleicht noch für die nächste Zeugenschaft zu leisten für dieses moralische Wunder. Ich hatte durch Jahre Gelegenheit, Rainer Maria Rilke öfters zu begegnen. Wir hatten gute Gespräche in den verschiedensten Städten, ich bewahre Briefe von ihm und als ein kostbares Geschenk die Handschrift seines berühmtesten Werkes, »Die Weise von Liebe und Tod«. Dennoch würde ich nicht wagen, mich vor Ihnen seinen Freund zu nennen, denn dazu war die Distanz des Respekts bei mir immer zu groß und das Wort »Freund« in der deutschen Sprache drückt eine intensivere, intimere Beziehung aus als das englische »friend«. Es wird nur sparsam gegeben, weil es eine innerste Bindung bedingt, eine Bindung, die Rilke selten irgend jemandem gewährte – Sie können in seinen Briefen sehen, daß er dieses Wort in dreißig Jahren vielleicht nur zwei- oder dreimal als Ansprache ausgesprochen hat. Und schon dies war für sein Wesen ungemein charakteristisch. Rilke hatte eine große Scheu vor ausgesprochenen, vor verratenen Gefühlen. Er liebte es, seine Person und sein Persönliches möglichst zu verbergen, und wenn ich die vielen Menschen, denen ich im Lauf eines Lebens begegnet bin, mir vor das innere Auge stelle, so kann ich mich keines erinnern, dem es gelungen war, mit seinem Äußeren so unauffällig zu bleiben wie Rilke. Es gibt andere Dichter, die sich eine Maske schaffen zur Abwehr gegen den Andrang der Welt, eine Maske von Hochmut, von Härte. Es gibt Dichter, die um ihrer Arbeit willen ganz in ihr Werk flüchten, sich abschließen und unzugänglich werden; bei Rilke war nichts von alledem. Er sah viele Menschen, er reiste durch alle Städte, aber sein Schutz war seine völlige Unauffälligkeit, eine unbeschreibbare Art von Stille und Leisesein, die um ihn eine Aura der Unberührbarkeit schuf. In einem Eisenbahnzug, in einem Restaurant, einem Konzert wäre er niemals aufgefallen. Er trug die einfachste, aber sehr saubere und geschmackvolle Kleidung, er vermied jedes Attribut, welches das Dichterische betonen konnte, er verbot, seine Bilder in Zeitschriften zu veröffentlichen, aus diesem unbeugsamen Willen, privat bleiben zu können, ein Mensch unter den andern, denn er wollte beobachten können, statt beobachtet zu werden. Denken Sie sich irgendeine Gesellschaft in München oder Wien, wo ein, zwei Dutzend Leute im Gespräch beisammensitzen. Ein zarter, sehr jung aussehender Mann tritt ein, und schon dies ist charakteristisch, daß sie sein Eintreten gar nicht bemerkt haben. Er ist ganz still, mit leisen, kleinen Schritten plötzlich da, hat vielleicht einem oder dem andern die Hand gedrückt, und nun sitzt er da mit leicht gesenktem Kopf, um die Augen nicht zu zeigen, diese wunderbaren hellen und beseelten Augen, die ihn einzig verrieten. Er sitzt still, die Hände über dem Knie gefaltet, und hört zu – aber lassen Sie sich nur sagen, ich habe nie eine bessere, eine teilnehmendere Art des Zuhörens gekannt als die seine. Es war ein vollkommenes Lauschen, und wenn er dann sprach, so geschah es so leise, daß man kaum spürte, wie schön und dunkeltönig seine Stimme war. Nie wurde er heftig, nie versuchte er jemanden zu überreden, zu überzeugen, und wenn er spürte, daß ihm zu viele zuhörten, daß er in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit geriet, so zog er sich bald in sich selber zurück. Die wirklichen Gespräche, jene, an die man sich ein Leben lang erinnert, gelangen nur, wenn man mit ihm allein war und am besten abends, wo ihn das Dunkel ein wenig deckte, oder in den Straßen einer fremden Stadt. Aber diese Zurückhaltung Rilkes war keineswegs Hochmut und keineswegs Ängstlichkeit, und nichts wäre falscher, als sich ihn als einen neurotischen, einen verbogenen Menschen zu denken. Er konnte herrlich unbefangen sein, auf die natürlichste Weise mit natürlichen Menschen sprechen und sogar heiter sein. Nur alles Laute, Grobe war ihm unerträglich. Ein lauter Mensch war für ihn eine persönliche Qual, jede Zudringlichkeit oder Aufdringlichkeit von Bewunderern gab seinem klaren Gesicht einen ängstlichen, einen verschreckten Ausdruck, und es war wunderbar zu sehen, wie seine leise Art Gewalt hatte, die Zudringlichsten zurückhaltend, die Lärmendsten leise, die Selbstbewußten bescheiden zu machen. Wo er war, entstand gleichsam eine gereinigte Atmosphäre. Ich glaube, daß nie in seiner Gegenwart jemand ein unanständiges oder grobes Wort gewagt hat, niemand den Mut gehabt hat, literarischen gossip oder Gehässigkeiten zu erzählen. Wie ein Tropfen Öl im bewegten Wasser um sich einen Kreis der Ruhe schafft, so brachte er etwas Reines in jede Umgebung. Diese Gewalt, alles um sich harmonisch zu machen, das Brutale abzudämpfen, das Häßliche in eine Harmonie aufzulösen, war bei ihm erstaunlich. Und so wie den Menschen, solange sie um ihn waren, verstand er auch jedem Raum, jeder Wohnung, in der er wohnte, sofort dieses Zeichen aufzuprägen. Und er wohnte meist in schlimmen Wohnungen, da er arm war, fast immer waren es Mietszimmer, ein oder zwei, in denen er wohnte, mit gleichgültigen, banalen Möbeln. Aber wie Fra Angelico seine Zelle aus niederster Nüchternheit in Schönheit zu verwandeln wußte, so verstand er, seine Umwelt sofort persönlich zu machen. Es waren immer nur Kleinigkeiten, denn er wollte und liebte den Luxus nicht – eine Blume am Pult in einer Vase, ein paar Reproduktionen an der Wand, für ein paar Schillinge gekauft. Aber er wußte diese Dinge anzuordnen mit einer Sauberkeit und Systematik, daß sofort völlige Ordnung in einem solchen Räume war. Er neutralisierte das Fremde durch diese innere Harmonie. Alles, was er um sich hatte, mußte nicht schön sein, nicht kostbar. Aber es mußte in seiner Form vollendet sein, denn er, der Formkünstler, ertrug auch im äußern Leben nicht das Formlose, das Chaotische, das Zufällige, das Ungeordnete. Wenn er einen Brief schrieb mit seiner schönen runden aufrechten Schrift, so durfte es keine Korrektur darin geben, keinen Tintenfleck. Mitleidslos zerriß er jeden Brief, in dem ihm die Feder ausgeglitten war, und schrieb ihn nochmals von Anfang bis zu Ende. Wenn man ihm ein Buch geliehen hatte und er gab es zurück, so war es geradezu zärtlich in Seidenpapier gewickelt und irgendein farbiges dünnes Band umschnürte es und eine Blume lag dabei oder ein besonderes Wort. Sein Koffer, wenn er reiste, war ein Kunstwerk der Ordnung, und so verstand er jeder Kleinigkeit an einer verborgenen, unauffälligen Stelle sein Zeichen aufzuprägen. Eine gewisse Abgestimmtheit um sich zu schaffen, war ihm ein Bedürfnis, gleichsam eine Luftschicht um sich zu haben, sowie sie in Indien einerseits die Heiligen haben und anderseits die Menschen der niedersten Kaste, die Unberührbaren, die niemand am Ärmel zu streifen wagt. Es war dies nur eine ganz dünne Schicht, man konnte dahinter die Wärme seines Wesens spüren, und doch bewahrte sie undurchdringlich das Reine und Persönliche in ihm, wie die Schale die Frucht. Und sie bewahrte, was ihm das Wichtigste war: die Freiheit des Lebens. Keiner der reichen, der erfolgreichen Dichter und Künstler unserer Zeit war so frei wie Rilke, der sich nirgends band. Er hatte keine Gewohnheiten, keine Adresse, er hatte eigentlich auch kein Vaterland; er lebte ebenso gerne in Italien wie in Frankreich und Österreich, und man wußte niemals, wo er war. Fast immer war es Zufall, wenn man ihm begegnete; plötzlich vor einem Pariser Bouquinisten oder in einer Gesellschaft in Wien kam einem sein freundliches Lächeln entgegen und seine weiche Hand. Ebenso plötzlich war er wieder dahin, und wer ihn verehrte, wer ihn liebte, fragte ihn nicht, wo er zu finden wäre, suchte ihn nicht auf, sondern wartete, bis er zu einem kam. Aber jedesmal war es für uns Jüngere, ihn gesehen, ihn gesprochen zu haben, ein Glück und eine moralische Lehre. Denn bedenken Sie, was es für uns Jüngere an erziehlicher Kraft bedeutete, einen großen Dichter zu sehen, der menschlich nicht enttäuscht, der nicht geschäftig und geschäftlich war, der einzig um sein Werk sich kümmerte und nicht um seine Wirkung, der nie Kritiken las und sich nie begaffen und interviewen ließ, der anteilnehmend blieb und bis zur letzten Stunde von einer wunderbaren Neugier für alles Neue. Ich habe ihn gehört, wie er statt eigene Gedichte einem Kreise von Freunden einen ganzen Abend die Verse eines jungen Dichters vorlas, ich habe von seiner Hand ganze Seiten gesehen, die er aus fremden Werken sich abgeschrieben mit seiner wunderbar kalligraphischen Schrift, um sie weiter zu verschenken. Und es war rührend, mit welcher Demut er sich einem Dichter wie Paul Valéry unterordnete, wie er ihm durch Übersetzung diente und, ein Fünfzigjähriger, von dem Fünfundfünfzigjährigen sprach wie von einem unerreichbaren Meister. Bewundern, das war sein Glück, und es war nötig in den letzten Jahren seines Lebens, denn, dies ersparen Sie mir zu beschreiben, wie dieser Mensch litt unter dem Kriege und unter der Zeit nach dem Kriege, als die Welt blutgierig war, häßlich, roh, barbarisch, als die Stille, die er um sich schaffen wollte, nicht mehr möglich war. Und nie werde ich vergessen die Verstörung in seinem Wesen, als ich ihn in Uniform sah. Jahre und Jahre der inneren Lähmung mußte er überwinden, ehe er wieder einen Vers schreiben konnte. Aber dann war es jene Vollendung der Duineser Elegien.
Meine Damen, meine Herren, ich versuchte Ihnen nur mit einem Wort etwas von der Kunst des reinen Lebens in Rilke anzudeuten, dieses Dichters, der nie in der Öffentlichkeit sichtbar gewesen war, nie unter den Menschen seine Stimme erhoben und dessen lebendigen Atem man kaum gespürt. Aber doch, niemand hat, als er gegangen war, unserer Zeit so gefehlt wie dieser Leiseste, und nun erst spürt Deutschland, spürt die Welt das Unwiederbringliche, das in seinem Wesen war. Manchmal geschieht es einem Volke, wenn ein Dichter stirbt, als stürbe die Dichtung selber mit ihm. Vielleicht hat England ähnliches erlebt, als in einem einzigen Jahrzehnt Byron hingegangen und Shelley und Keats. In solchen tragischen Augenblicken wird dieser letzte gleichsam seiner Generation zum Symbol des Dichters überhaupt und man zittert, es sei der letzte gewesen, den wir erlebten. Wenn wir heute in Deutschland Dichter sagen, denken wir noch immer an ihn, und indes wir seine geliebte Gestalt noch mit den Blicken an all den Orten suchen, wo wir ihr begegnet sind, ist sie schon hinübergegangen aus unserer Zeit ins Zeitlose und Statue geworden im marmornen Haine der Unsterblichkeit.
Eine Rede, gehalten im Münchner Staatstheater am 20. Februar 1927
Musik hat diese Stunde eingeklungen, in Musik wird sie verströmen. Zwischen ihre rauschend auftragenden Schwingen tritt scheu und demütiger Stirne das Wort.
Demütig tritt mein Wort an diese Stunde, demütig beugt es sich hin über dies teure und noch nicht überblühte Grab. Denn einzig Musik vermöchte vollkommen den Abschied von jenem auszusagen, den wir heute gemeinsam betrauern, Rainer Maria Rilke, und einzig in ihm von uns allen war das Wort schon vollkommen Musik. Nur an seiner Lippe war es erlöst vom Dunst der Gewöhnung – Gleichnisse hoben da flughaft leicht den starren Leib der Sprache in jene höhere Welt des Erscheinens, darin jedes Geheimnis erfühlbar wird und unsere tägliche Rede eine kaum begreifliche Magie. Alle Vielfalt wußte es zu formen, sein schöpferisch gewordenes Wort, alle Formen des Lebens suchten ihr Bildnis in den klingenden Spiegeln seiner Verse, und selbst der Tod – selbst er trat groß und gegenständlich aus seinem Gedicht als die reinste und notwendigste aller Wirklichkeiten.
Wir aber, zurückgeblieben im untern Element, wir haben nur das Dumpfe der Klage, die Klage um den Dichter, um ihn, der, wie immer das Göttliche, selten erscheint in den Zeiten und den wir doch einmalig in ihm schauen durften mit den groben Organen der Sinne und der stark erschütterten Inbrunst der Seele: in seiner Gestalt haben wir den Seltenen erlebt.
Denn Dichter, dies war er, Rainer Maria Rilke, ihm ziemt vollgültig dies Wort, dies uralt-heilige, dies ehern gewichtige und anspruchsvolle, das unsere fragwürdige Zeit allzu leichthin vermengt mit dem minderen und ungewissen Begriff des Schriftstellers, des bloß Schreibenden. Dichter, er, Rainer Maria Rilke, er war es noch einmal und wiederum in dem reinen und vollkommenen Sinn, wie Hölderlin ihn anruft, den »göttlich erzogenen, tatlos selber und leicht, aber vom Äther doch angeschauet und fromm«, und war es nicht bloß dank der Gnade des Geistes, sondern nicht minder kraft der innen bewahrten Reinheit adeligen Lebens. Dichter, er war und blieb es unwandelbar und unwiderleglich in jedem Wort und jeder Handlung seines früh geendeten Zeitseins. Nicht wie bei vielen anderen, denen gleichfalls die Aura so stolzen Namens gebührt, war er ein Dichter bloß in den Augenblicken des Erhobenseins, in jenen unfaßbar vollen Intervallen, da die Welt von außen nach innen in einen Menschen stürzt und in seiner staunenden Seele noch einmal sich werdend gestaltet: nein, er offenbarte sich allzeit und immer als der reine und ruhelose Künstler, wir wissen um keine Stunde, in der er nicht Dichter gewesen; jedes Wort, das er sprach, jeder Brief, den er schrieb, jede Geste, die seinem zarten und melodischen Körper entsprang, das Lächeln seiner Lippe und die reine Rundung seiner Schrift, all dies Einheitliche und Einmalige gehorchte ebendemselben schöpferischen Gesetz, das seine Verse zu vollendeten formt. So trat aus seinem Wesen uns Reinheit und Einheit strahlend entgegen, kristallen umschlossen und deutsam durchsichtig wie sein Gedicht und diese unverbrüchliche Gewißheit seiner Sendung, sie hat uns von Jugend her ihm, dem Menschen, dem Künstler, hörig und ehrfürchtig gemacht. Denn dank dieser Allgegenwart der Schönheit im Wesen und Werke haben wir an ihm, an Rainer Maria Rilke, das heute fast Unwahrscheinliche, haben wir einmal und unvergeßlich den reinen Dichter in Antlitz und Atem gesehen.
Dichter, er war es allezeit, Rainer Maria Rilke, und er war es von je. Es gibt keinen Anfang in seinem Leben, wo dieser erlauchte Name ihm nicht zugehörte und die Welt ihn nicht als solchen empfand. Noch wußte die kindliche Hand des Schülers kaum die Schrift und schon schrieb sie Gedichte. Noch schattete der Flaum ihm nicht die Lippe und schon sprach sie Musik. Von den Spielen der Kindheit weg fand er unwissend hinüber in das andere Spiel, das anfangs nur leichte und an der eigenen Fülle immer schwerer werdende der Sprache, und schon dem Knaben gab sie sich willig, dem allzeit Gewinnenden, hin. In dem sechzehnten, in dem siebzehnten Jahre gelangen schon Verse reinster Melodik dem Suchenden und Versuchenden, die auch spätere Meisterschaft nicht mehr beschämte. Und lang noch, ehe die eigene Form des Körpers sich vollendet hatte, fiel schon Vollendung der Formen dem geistig Gestaltenden zu.
Wie dieses Dichterische in so früher Jugend begann, wer kann es aussagen? Wer an dieses Geheimnis rühren, das mit seinen Wurzeln bis ins Dunkel der Ahnen und der Erde reicht? War es letzter Abklang altadeligen Blutes, müde geworden an vielen Geschlechtern, das in jenem Letzten noch einmal aufrollte, zu unkräftig schon, sich kämpferisch ins Lebendige zu stürzen, und nur melodisch verebbte und rhythmischen Atems verklang? Waren es die Schatten der alten Prager Gassen, die das ewig Staunende seines Knabenherzens aufweckend berührten, waren es die slawischen Lieder, die er abends auf den Feldern gehört oder die eine Hausmagd sang, sonntags allein in der verlassenen Stube? Spuren sind dies bloß, vermutendes Ungefähr, denn wer kann den Ursprung eines Dichters deuten, dieses unbegreiflich Sonderbaren unter den Menschen, in dem die tausendjahralte Sprache noch einmal so erstmalig neu ersteht, als wäre sie niemals von Millionen Lippen zerschwatzt und in Millionen Lettern zermahlen gewesen, bis Er dann, dieser Eine, kommt, der alle gewesenen und werdenden Dinge ansieht mit seinem aufstaunenden, seinem farbig umhüllenden, seinem morgenrötlichen Blick? Nein, das ist nie zu erklären mit irdischen Ursächlichkeiten, wie inmitten tausend dumpfer Menschen immer nur einer zum Dichter wird, und darum auch nicht, wie gerade und warum dieser eine es wurde inmitten von uns allen und in ebendemselben Umlauf der Zeit. Wundervoll genug schon, dies allezeit wieder Unverhoffte sich auszudenken, daß das Erlebnis des Dichters immer und immer wieder der Menschheit geschieht, und auszudenken, daß dieser unser Zeitbruder einer war aus so königlichem Geschlecht, daß in diesem schmächtigen scheuen Knaben, umschnürt vom blauen Kadettenkleid, unterhalb der wachen Sinne und inmitten seines Bluts irgendein Strömen begann, das später wundervoll einbrach in unser Gefühl, darin es nun nachrauscht, so großartig gegenwärtig noch, daß jeder von uns, jeder, irgendeine Strophe oder ein Wort von Rainer Maria Rilke unbewußt in den Sinnen hat – einen Atemzug Musik von ihm, der nicht mehr atmet und spricht und doch länger da sein wird als unser aller unbeträchtliches Dasein und Weiterleben.
So bewährte Rainer Maria Rilke sich als Dichter längst, ehe erste Ahnung ihn überschattete vom Ernst und der Verantwortung dieses aufrufenden Wortes. Zugeflogen waren sie seiner Kindheit, spielhaft und leicht, diese ersten Strophen, und er schrieb sie hin, Spiel zwischen Spielen, mit seiner sorgsam rundenden Schrift. Er schrieb sie in Schulblätter und ließ sie, halb Knabe noch, schon drucken in schmächtigen Heften. Und wunderbar, bereits dieser erste Anruf fand Widerklang in uns Gleichaltrigen, in einer ähnlich und sehnsüchtig gespannten Jugend, und nun erst schlug das Bewußtsein seiner Sendung in ihm die Augen auf und sah sich selber strenge und fordernd an. Ein Zwanzigjähriger, hatte er Ruhm schon, doch nahm er nicht das Süße und Zerstreuende von diesem gefährlichen Zudrang, nur das Bittere der Verantwortung zog er daraus und das Schwere der Verpflichtung. Wie früh hat dieser Wunderbare erkannt, was die andern spät und oft niemals lernen, daß das selig Zugefallene vom wahrhaften Dichter noch einmal und immer wieder neu verdient sein müsse durch unabsehbare Mühe, daß der Mann in beharrlichen und furchtbaren Ernst dauernd zu verwandeln verschuldet sei, was der Genius ihm anfänglich bloß als Spiel und gleichsam zur Leihe gegeben. Und von dieser frühen Erkenntnis an begann bei Rainer Maria Rilke jener schwere Gang zur Vollendung hin, in dem er niemals ermüdete und von dem er niemals – höchste Ehre seiner Reinheit dies! – von dem er niemals auch einen Schritt nur gewichen ist. Gerade dieser Leise, dieser Linde, dieser Abseitige, er, den die törichten Einsarger aller Werte mit locker abwehrender Geste einen Dekadenten zu nennen wagten, er, der äußerlich zart schien, wehleidig und schwach, hat wie wenige seiner Zeit die ungeheure Anstrengung gekannt und geübt, die dem Schaffenden auferlegt ist, so er sein Werk zur Welt schaffen will. Er hat früh erkannt, Rainer Maria Rilke, daß eine Seele unendlich sich anfüllen müsse, um Fülle von sich zu strömen, er hat früh gewußt, daß der Dichter und gerade er sammeln müsse und seine Sinne schwärmen lassen wie Bienen, damit der goldene Seim des Gedichtes schwer, durchsichtig und flüssig sich forme. Keiner von allen lyrischen Dichtern der Zeit vielleicht, keiner hat den Entgelt, den ungeheuren, um die Vollendung sich höher angesetzt und vollgültiger gezahlt als er, der in seinem ›Malte Laurids Brigge‹ die anspruchsvollste aller Formeln für das Gedicht hingestaltet. Dort heißt es (unvergeßliche Worte!): »Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gefühle – (die hat man früh genug) – es sind Erfahrungen. Um eines Verses willen muß man viele Städte sehen, Menschen und Dinge, man muß die Tiere kennen, man muß fühlen, wie die Vögel fliegen, und die Gebärde wissen, mit welcher die kleinen Blumen sich auftun am Morgen. Man muß zurückdenken können an Wege in unbekannten Gegenden, an unerwartete Begegnungen und an Abschiede, die man kommen sah – an Kindheitstage, die noch unaufgeklärt sind, an die Eltern, die man kränken mußte, wenn sie einem Freude brachten und man begriff sie nicht – (es war eine Freude für die andern) – an Kinderkrankheiten, die so seltsam anheben, mit so viel tiefen und schweren Verwandlungen, an Tage in stillen verhaltenen Stuben und an Morgen am Meer, an das Meer überhaupt, an Meere, an Reisenächte, die hoch dahinrauschten und mit allen Sternen flogen – und es ist nicht genug, wenn man an alles das denken darf. Man muß Erinnerungen haben an viele Liebesnächte, von denen keine der andern glich, an Schreie von Kreißenden und an leichte, weiße, schlafende Wöchnerinnen, die sich schließen. Aber auch bei Sterbenden muß man gewesen sein, muß bei Toten gesessen haben in der Stube, mit dem offenen Fenster und den stoßweisen Geräuschen. Und es genügt auch noch nicht, daß man Erinnerungen habe, man muß sie auch vergessen können, wenn es viele sind, und man muß die große Geduld haben, zu warten, daß sie wiederkommen. Denn die Erinnerungen selbst sind es noch nicht. Erst wenn sie Blut werden in uns, Blick und Gebärde, namenlos und nicht mehr zu unterscheiden von uns selbst, erst dann kann es geschehen, daß in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht.«
In diesem Sinne des Sammelns und Lauschens um geistiger Schöpfung willen ist der junge Rilke in die Welt gezogen, alle Länder entlang als der ewig Heimatlose, der Pilger aller Straßen. Er ist in Rußland gewesen, damit die Glocken des Kremls tönten in sein Gedicht, er hat in die Augen Tolstois geblickt, um von diesem schauenden Blau zu wissen, durch das Tausende Bilder von Menschen und Geschicken gingen. Er hat Spanien gesehen, Italien, Ägypten und Afrika, um im schöpferischen Nerv und Sinn zu erfahren, wie dort die Sonne im laublosen Lande andere Linien des Lichts hinzeichnet als in unserer waldigen Welt, er war in Skandinavien, um weiße Mitternachtsnächte zu erleben und wissender dann die blausamtene Dämmerung südlicher Täler zu deuten. Überall ist er gewesen, fast immer allein, selten redend, immer lauschend, damit all dies inbrünstig Betrachtete, dies schweigsam in sich Hineingezogene dereinst Rede und Musik werde im Gedicht und sich wechselseitig bezeuge im schaffenden Widerspiel der Vergleiche. Niemand wußte, wo er war in diesen Pilgrimsjahren, der selbstwillig Heimatlose, und doch tat das von innen her wachsende Werk im Bilde jedem kund, wie tief dieser Schauende indes ins Wirkliche und Wandelbare eingedrungen, denn von Jahr zu Jahr füllten sich seine Gedichte mit immer volleren Farben und von dem ›Buch der Bilder‹ begann dann unvermutet jener unersättliche und unerschöpfliche Reichtum seiner lyrischen Rede, jener große Glanz von einander überströmenden Gleichnissen, den kein lyrischer Dichter unserer Zeit seitdem zu überbieten vermochte. Die Welt, die vordem der junge Dichter nur im klingenden Anhauch der Gefühle vage als ein Ungefähr begriff, nun drängte sie blutnah heran, gestalthaft und vielgeformt, immer voller ergriffen von den sehenden, den hörenden, den fühlenden Sinnen, und wohl durfte er damals von sich die Verse schreiben:
»Immer verwandter werden mir die Dinge
und alle Formen immer angeschauter.«
Aber sie als einzelne und abgelöste zu betrachten, ward ihm bald zu geringe Bemühung, denn ein Gleichnis zog mit den silbern klingenden Ketten der Reime das Schwesterliche jeder Erscheinung unaufhaltsam an sich heran, ein unablässiges Sicherinnern von einem ins andere rundete das lockere Verstreutsein des Daseins im Räume zu einem pausenlosen Strömen, gleichsam dem einer Fontäne, die aufsteigt aus den dunkelsten Tiefen des Gedankens und zugleich überglänzt wird vom höchsten Geleucht der ewig im Flusse sich erneuernden Sprache. Je machtvoller aber dieser stille Gestalter die Dinge ergriff, je tiefer aus den Wurzeln er sie heraushob, um so stärker erwuchs ihm das Verlangen, dies Erschaubare und Faßbare ihrer augenfälligen Formen nicht bloß liedhaft zurückzugeben, sondern auch die innere Macht hinter ihnen gleichsam symphonisch auszudeuten, die zusammenhaltende und schöpferische: den Gott. In unzähligen Gleichnissen, mit flügelnd gespannter Seele ihn umkreisend, »wie die Wolken den Turm« in immer dringlicheren Anrufen, in einer erhabenen Litanei drängt immer inbrünstiger seine mystische Ekstase an diese Unendlichkeit heran, und dank diesem bildnerischen Umkreisen entstand aus den noch vereinzelten und zersprengten Formen des ›Buches der Bilder‹ endlich jener Dom zu Gott hin, das ›Stundenbuch‹, die vielleicht reinste religiöse Erhebung, die ein Dichter in unseren Tagen versuchte. Das Meer, das abgründige, in dessen Unausmeßbarkeit das Gefühl restlos einströmen konnte, war gefunden, aus der linden Demut Frömmigkeit geworden, »die stete und stille Schwerkraft, welche aus den Tiefen Gottes auf die Seelen wirkt«, aus der zarten Bewegtheit eine zitternde und ekstatische Trunkenheit, aus einzelnen wie von Wind musikalisch bewegten Strophen das bronzene Glockendröhnen des großen Gedichts. Angelus Silesius und Novalis, den mystisch Gottzugewandten, war ein sanfter Bruder und kein geringerer erstanden inmitten einer ins Sachliche und Klare gehärteten deutschen Welt.
Dieses große Wachstum weniger Jahre aus so schüchternem Beginn in ein weltumbreitendes Gottverlangen, dieses Sich-Weitern und diese erhabene Wandlung, sie haben wir, sie hat unsere Generation noch ehrfürchtig staunend miterlebt. Wunderbar war es uns, dies zu erleben, dieses Aufsteigen eines Dichters in die Zeit und von Jahr zu Jahr immer neu ergriffen, immer mitgerissener zu fühlen, wie dieses Einen Kunst sich füllte und erfüllte, wie die ersten dünnen Miniaturen seiner Bücher sich entzündeten zu brennenden Bildern, wie die Sprache sich vollsog mit Farben, wie die Gleichnisse immer wissender den Kern jeder Erscheinung erfaßten, wie aus dem fragilen Element der Verse die ganze irdische Welt sinnlich gültig erstand und klargehämmerte Strophen mit immer selteneren und erstmaligen Reimen das scheinbar Fernste so inbrünstig an das Nahegelegene ketteten, daß wahrhaft unser ganzes seelisches Dasein von diesem zarten Gewebe umfangen schien. Und schon fühlten wir, daß über solche sprachschöpferische Vollendung hinaus nur ein Sich-Wiederholen, aber kein Fortschreiten mehr möglich sei, denn diese Gedichte, sie beugten sich schon, so wie Bäume sich neigen unter der Last ihrer Früchte, unter der Überwucht ihrer Reime, und die Verse dröhnten beinahe schon von ihrem Übermaß an Musik.
Aber ehe wir dies deutlich zu empfinden wagten, daß hier ein lyrisches Maß, eine einmalige Art der Endgültigkeit im Gedicht erreicht sei, die kein Überschreiten mehr duldete und im Sich-Wiederholen sich nur verringert hätte, da hatte er selbst schon sie erkannt, der große Künstler, seine eigene Gefahr. Und mitten am Wege oder vielmehr auf der Höhe seiner ersten Vollendung hat Rainer Maria Rilke noch einmal eingehalten und noch einmal begonnen, einen ganz neuen lyrischen Weg, denn selbst »in der Schwere zu ruhen« nach seinem eigenen herrlichen Wort, war diesem großartig Ungenügsamen versagt. Jene Schickung, die man Zufall nennt, hatte ihn damals nach Paris getrieben, dort war er Sekretär Rodins geworden und lebte in jenem weiten hallenden Saal draußen in Meudon, wo weiß und rein die Werke standen, ein steinerner Wald und doch eines abgesondert von dem andern durch die Leere des Raums und die innere Endgültigkeit ihrer Konturen. Dort sah er den Meister, den alten, mit seiner abteilenden Kraft, und es reizte ihn mächtig, wie er zu sein und seinerseits im lyrischen Material ebenso streng und abschließend wie jener im Plastischen irdische Bildnisse zu formen, im gläsern gewichtlosen Element des Verses die gleiche Härte des Umrisses zu erzwingen wie jener in marmorn wuchtender Materie des erdgebundenen Steins. Man begreife die Kühnheit dieser Umkehr, denn gerade das Gegenteil seines Bisher unterfängt sich der nochmals Beginnende darzustellen: nicht mehr wie bislang die metaphysische Verbundenheit und das metaphorische Ähnlichsein der Dinge im irdischen Räume, die mystische Verschwisterung aller Erscheinung im alles umfassenden Gefühl, sondern Rilke unternimmt jetzt – furchtbares Unterfangen! – das schicksalhafte Alleinsein, die tragische Abgelöstheit jedes einzelnen Dinges von andern im Lebensraum grausam wahr zu verwirklichen. Deshalb warf er mitten im Werke die eigene erreichte Sprache wie ein Verbrauchtes weg, um eine andere, eine neue sich zu erfinden; er tritt aus dem bezwungenen Element der Musik kühn in das noch unbetretene der marmornen Plastik, der Melodiker in ihm erzieht sich spartanisch zur Härte, und vor allem drängt er sich selbst, sein eigenes Dabeisein, sein Mitempfinden aus seinem Gedicht, gewissermaßen um den heiligen Monolog, den jedes Wesen im Weltall mit sich allein führt, nicht mit dem eigenen zuhorchenden Atem zu stören. Denn der Dichter, so fühlt er nun in dieser neuen wissenderen Phase, darf nicht der Mitredende sein in diesem neuen steinernen Gedicht, nicht seine Aussage redselig vermengen mit der erst zu erzwingenden des angeschauten Gegenstandes, er muß das Schweigen lernen und das Sich-Verschweigen im Werke, damit sich das eigenste leiblichste Wesen jedes Dings vollkommen aussage. Wie schön stellt er selbst diese strenge Forderung an sich und alle:
»... O alter Fluch der Dichter,
die sich beklagen, wo sie sagen sollten,
die immer urteil'n über ihr Gefühl
statt es zu bilden; die noch immer meinen,
was traurig ist in ihnen oder froh,
das wüßten sie und dürften's im Gedicht
bedauern oder rühmen. Wie die Kranken
gebrauchen sie die Sprache voller Wehleid,
um zu beschreiben, wo es ihnen wehtut,
statt hart sich in die Worte zu verwandeln,
wie sich der Steinmetz einer Kathedrale
verbissen umsetzt in des Steines Gleichmut.«
Das ist nun des späteren Rilke neue und heroisch geforderte Aufgabe: sich zu verwandeln, vollkommen restlos sich aufzulösen in fremder Gestalt, nicht mehr sich ihr sympathetisch zu binden, und dies Nur-Gestalten ist Werk und Wunder geworden in den beiden Bänden der ›Neuen Gedichte‹. Auf dem marmornen Estrich dieses Buches ist die Musik ausgelöscht und zertreten wie eine überflüssige Flamme; ein sachliches Licht grenzt jetzt transparent jede Erscheinung ab zu einer fast grausamen Deutlichkeit. Jedes dieser neuen Gedichte steht und besteht als ein Marmorbild, als reiner Umriß für sich, abgegrenzt nach allen Seiten und versperrt in seine unabänderlichen Konturen wie die Seele in ihren irdischen Leib. Diese Gedichte – ich nenne nur ›Der Panther‹, ›Das Karussell‹ – sind herausgeschnitten aus dem unbeholfenen kalten Stein ihrer Taghelligkeit wie klare Kameen, durchsichtig bloß dem geistigen Blick – Gebilde, wie sie die deutsche Lyrik bislang in ähnlich schneidender Härte nicht hatte, Sieg einer wissenden Sachlichkeit über das bloß Ahnungshafte, Triumph, endgültiger, einer ganz zu Plastik gewordenen Sprache. Jedes einzelne Ding steht dort in seiner unverrückbaren Schwere fugenlos und hermetisch verschlossen in seinem eigenen Selbst. Es atmet nicht mehr wie früher Musik, nur seine eingeborene Form und den Sinn seiner Seele spricht jedes mit unvergleichlicher Deutlichkeit geradezu geometrisch aus. Gedichte einer Art, ich wiederhole es noch einmal, waren unverhofft damit uns zugeschaffen, wie sie die deutsche Lyrik vordem nicht kannte, in solch einmaliger und abseitiger Perfektibilität, in so souveräner Nachbildung schwesterlicher Kunst.
Derart war diesem unermüdlich Suchenden gelungen, die vieldeutige Welt abermals in neue, unvermutete Ordnung zu binden, und wie diese hundert lyrischen Standbilder, so hätte der Dichter noch tausend und Tausende an dieser glückhaft gefundenen Formel zu prägen vermocht, jedes Tier, jeden Menschen, jede Erscheinung des Daseins in ihrer eigensten Gestalt. Ein Grat, ein schwindelnd und einsam hoher der Vollendung, war in wenigen Jahren völlig erreicht und damit eine Gußform gewonnen, in der Rilke mühelos die ganze Welt, Form an Form, hätte ein Leben lang nun bilden können: aber abermals wollte dieser Schöpferische nicht bloß als Wiederholer seiner selbst fortwalten, sondern es verlangte ihn – nach seinem herrlichen Worte – »der Tiefbesiegte von immer Größerem zu sein«. Noch einmal und nun zum dritten Male ging dieser schweigsam Ringende aus, das Erschaffene und darum Leichtgewordene heroisch zu verwerfen und eine abermals neue lyrische Form aus sich zu holen und sie aufzustufen, dem unerreichbar Unendlichen entgegen.
Auf dieser Erhobenheit begannen vor zehn Jahren seine letzten Gedichte, die ›Sonette an Orpheus‹ und die ›Duineser Elegien‹, jener Aufstieg in eine selbstgewählte Einsamkeit. Denn dieser äußersten Zone der Sprachluft, diesem großartig fremden Widerspiel von Überlicht und letzten Dunkelheiten vermochte das an lindere Formen gewohnte Gefühl der meisten kaum mehr nachzufolgen. Hier ließen ihn die Deutschen allein, und wenige nur waren zur Stelle, um nachzufühlen, welch verwegener Versuchung sein bildnerischer Geist sich in diesen seinen letzten geheimnisvollsten Gedichten ergab. Denn hier, in diesem heiligen Herbst seiner endgültigen Reife fordert Rilke die Sprache zum Äußersten heraus, zum Versuche, das kaum mehr Darstellbare darzustellen: nicht das Tönen mehr, das aus den Dingen schwingt, nicht mehr ihre sinnlich gewahrsame Prägung, sondern den geheimnisvollen Bezug, der zwischen ihnen seelenhaft unsichtbar schwebt wie der Atem über der Lippe. Das Wortlose und dem Wort bisher Versagte, gerade das wollte hier sein ungenügsamer Schöpferwille erdeuten, Bildnis des bloß Begrifflichen, eine Metaphorik des Nichtmehr-Erschaubaren. Dies zu erreichen, mußte unendlich die Sprache sich spannen bis über den eigenen Rand, sie mußte hinab sich beugen in ihre untersten Abgründigkeiten, sie mußte hinaus über das Faßliche dem Unfaßbaren und kaum mehr Sagbaren entgegen. In diesen ›Duineser Elegien‹ ist Rilke, der einst lyrische und dann franziskanische, schließlich der orphische Dichter geworden, jenes heiligen Dunkels voll, das so großartig die Verse der andern deutschen Frühentführten, jene des Novalis und Hölderlin überwogt. Kaum konnten wir damals, selber erstaunend, den Sinn erfassen, der in jenen letzten Gedichten lag, und nun erst öffnet er sich schmerzlich unserem Erkennen: es war nicht Anrede der Lebendigen mehr, die hier sich versuchte, sondern Zwiesprache schon mit dem andern, mit dem Jenseits der Dinge und des Gefühls. Es war bereits der Dialog mit dem Unendlichen, der hier anhub, brüderliche Gegenrede mit dem Tode, seinem eigenen langbereiteten und nun reif gewordenen Tod, der fordernd sein Auge zu dem Suchenden aus dem Dunkel emporhob.
Dies war sein letzter Aufstieg, und wir vermögen kaum den Firn zu bemessen, den er einsam auf diesem letzten Wege erreichte. Wie ein Ende war schon diese Vollendung und auch er selbst fühlte Bedürfnis einer Rast. Alles hatte ihm die Sprache gegeben, ihre tiefsten magischen Brunnen hatte er ausgeschöpft in seiner lyrischen Rede, das fast Unsagbare ihr herrisch aufgezwungen; so kam's, daß er, ausatmend von so jähem Anstieg, um die Kräfte, die nie erschöpften, zu erproben, nun eine noch unbemeisterte, eine fremde Sprache wählte, daß er versuchte, jetzt in neuem Element, in französischen Strophen einen Rhythmus zu finden, eine neue, noch schwierigere Möglichkeit. Noch bis zum letzten Augenblick Liebhaber des Schwierigen, des kaum Erfüllbaren, wählte er diese äußerste Anstrengung sich als Rast, und wohl wäre sie nur Pause geblieben zu neuem Anstieg dem Unendlichen zu.
Diese gewaltigste, in zwanzig Jahren heroisch erfüllte Bemühung aber um das lyrische Wort, dieser unermüdliche Dienst eines Dichters um die ewig unbeschließbaren Formen, er ward bei Rainer Maria Rilke nur sichtbar in seinem Werk: das Schaffen selbst wie sein Schicksal blieb verhüllt. Niemand hat ganz sein inneres Leben gekannt, keiner in seine letzte Werkstätte gesehen. Leise ist sein Werk gewachsen, schweigsam, wie immer das Große geschieht, im Abseits ist es entstanden, wie alles Vollendete entsteht. Dieser Seltene wußte mit dem ahnenden Geist des Berufenen, daß Entscheidendes allezeit nur vollbracht werden könne durch ein gleichzeitiges großes Verzichten, daß immer der Künstler, so er anhebt, ein überdauerndes Werk rein zu erfüllen, zuvor entschlossene Absage leisten muß an den lärmenden Tag und jede Vermengung mit der unmittelbaren Welt, denn – unvergeßlich ist sein Wort:
»Denn irgendwo ist eine alte Feindschaft
Zwischen dem Leben und der großen Arbeit. –«
Mächtig ruft das Leben den Menschen an, übermächtig ruft es den Künstler, daß er sachlich in ihm wirke und im Sichtbaren mitgestalte, es will das immer gegenwärtig gerichtete Leben Gegenwärtigkeit, es will Vermengung und Anteil vom Dichter für seine Wirklichkeiten. Aber gleichzeitig wird der Dichter von innen herrisch und eifersüchtig gemahnt von seinem noch ungestalteten, einzig ins Zukünftige gewandten Werke, daß er sich absondere vom Leben, sich verweigere seinen Forderungen und nur dem Geiste, dem bildnerischen, diene. Eine Entscheidung ist dieserart von jedem gefordert, daß er sich zu einmaliger Haltung entschließe, ob ganz zum dauernden Werke hin oder zur Zeitlebendigkeit. Rainer Maria Rilke, er hat sich nur der Kunst gegeben, dem heiligen Abseits und der stillen Askese des Werkes. Die Rostra des Redners hat ihn nicht gekannt, fremd blieb er der Bühne und allem Tagwerk, sein Bildnis war nicht auf dem Markte und sein Wort, seine Mitrede fehlte in jedem Geschehnis und zeitlichen Streit; darum sind wenige unter den Menschen, die sein Antlitz, sein Leben wissend erkannten. Oft war er in den Städten, und auch in dieser Stadt, aber ein Verborgenes ging da mit ihm, das ihn umhüllte, und keine Gegenwart fühlte die seine, so scheu war sie und so voll lauschendem Abseitssein. Leise trat er in jeden Raum, ob in Furcht, zu stören oder gestört zu werden, man wußte es nicht, und selbst ein Gespräch war mehr gütiges Lauschen als strömendes Wort. Oft ruhte ein leichtes gutes Lächeln auf seinen Lippen, aber es war ebensoviel Abwehr und Verbergen darin wie einladende Liebe. Man hatte Angst, ihm nahezukommen, so viel tiefe Stille war um ihn, und war doch beglückt, wie klar, rein und brüderlich sein Wort aus dieser Stille uns entgegenkam Aber nie trat er selbst vor, der in der Kunst nur Anspruchsvolle, der im Leben so Bescheidene, immer blieb er der scheue Knabe, der in seinem Lied gesungen: »Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort«, immer bewegte ihn Angst, das gewalttätig Reale könnte zu stürmisch andrängen gegen ihn und dies kristallen tönende Gefäß von Stille, das er ehrfürchtig in seinen Händen trug, zerstören. So ging er in sich gebeugt und scheu durch den Lärm und die Literatur unserer Tage, wie in eine Wolke gehüllt. Und so wie eine Wolke, lautlos und ohne Drängen, umrötet vom Widerschein des Unendlichen, ist er hinübergegangen.
So leise, wie er eintrat in jeden Raum, so verborgen wie er hinging durch unsere schaugierige Zeit, so leise ist er von uns gegangen. Er war krank und niemand hat es gewußt. Er starb hin und niemand hat es geahnt: auch dies Geheimnis seines Leidens, seines Krankseins, seines Sterbens, auch dies nahm er ganz in sich hinein, um es dichterhaft und schön zu gestalten, um auch dieses letzte und langvorbereitete Werk rein zu vollenden: seinen eigenen Tod. Ganz früh hat er begonnen, dieser sein Tod in seinem schmalen und verschwiegenen durch das Leben hin getragenen Leibe, er war von Anfang diesem Letzten und Ausgemüdeten seines Geschlechtes schöpferisch eingetan, und er wuchs mit seinem Wachsen unaufhaltsam und unmerklich. Manchmal sprach diese jenseitige Stimme in den geheimnisvollsten seiner Verse mit, und dann vernahm man jene erschütternde Schwingung inmitten des Gedichtes, die gleiche wie bei Keats und Novalis, den Frühdahingegangenen, die niemals vom Irdischen kommt. Ein geisterhafter Klang, süß und dunkel zugleich, überwogte manchmal seine Worte und Verse, schwarzer Bogenstrich aus anderen Sphären, ein Sprechen gleichsam von Schatten weggewanderter Seelen her, denn:
»Nur wer mit Toten vom Mohn
Aß, von dem ihren,
Wird nicht den leisesten Ton
Wieder verlieren.«
Jene Prosa-Elegie des Malte Laurids Brigge über den fremden Tod, die düster gewandeten Strophen des ›Requiem‹, was waren sie, wenn nicht vorausgeahnter Grabgesang und Anruf des eigenen Todes? Er hat ihn innen gefühlt, jahrelang schon, aber wie alles Gefühlte ihn groß erhoben und verwandelt ins Gedicht, bis sein Tragisches nur mehr tönende Trauer war und die Mahnung ins Vergängliche selbst Unvergänglichkeit. Wir jedoch, wir liebevoll Lauschenden, betört von dieser Musik, wir liebten den in ihm wachsenden Tod ahnungslos mit seinem Leben und genossen die seltene Süße, dies selig Sichlösende, als ein Geschenk. Und erst als dieser Tod grob in die Welt schlug wie eine plötzlich zufallende Tür, da schraken wir auf und sehen bestürzt nun die eingebrochene Leere und die Armut unseres Zurückgebliebenseins.
Aber mit diesem Tod zu rechten, ihn früh und grausam zu nennen, nein, das wäre nicht seines Sinns. Wir haben ehrfürchtig zu sein vor diesem Tode um seiner Ehrfurcht willen. Soviel dieser Tod uns auch genommen an ungesagten Dingen und unsagbaren Möglichkeiten, dies müssen wir ihm dennoch danken, daß er ein hohes Bildnis uns unverstellt erhalten bis zur letzten Stunde und Rainer Maria Rilkes Angedenken als ein vollkommenes vor unserer Liebe steht, eine hohe Gewähr für jeden Bemühten im Geiste, eine erlauchte Bürgschaft für jede Jugend, daß durch Sammlung der Seele und Reinheit des Daseins der Dichter auch heute noch möglich ist in unserer dem Dichterischen abwendig gewordenen Welt. Er war dieser Dichter, er blieb es bis zum letzten Atem seiner Lippe, und es ist die einzige Tröstung unserer Trauer, daß wir sagen dürfen: wir haben ihn erlebt.
Vor so hohem, so seltenem Ereignis wird selbst die Trauer zur Demut und Klage, sie verflutet in Dank. So wollen wir nicht klagen, sondern ihn rühmen aus der Mitte unserer Trauer, und wie man an offenem Grabe dreimal die Scholle der Erde zum Abschied wirft, so senke dreimal die Scholle des Wortes sich ihm nach. Wir wollen ihm danken im Namen unserer Vergangenheit, im Namen unserer Gegenwart und der noch wartenden Zeit. Wir wollen ihm danken:
Ruhm und Ehrfurcht dir, Rainer Maria Rilke, um der Vergangenheit willen, die dich wachsen sah durch Demut und Geduld von schmalem Beginne zu großer Vollendung – ein Beispiel jeder Jugend und ein Vorbild jedem zukünftigen Künstler!
Ruhm und Ehrfurcht dir, Rainer Maria Rilke, um unserer Gegenwart willen, der du das Seltenste und Notwendigste, der du das Bildnis des Dichters wieder einmal als eine lautere Einheit und Reinheit gezeigt!
Und Ruhm und Ehrfurcht dir, Rainer Maria Rilke, du frommer Steinmetz am ewig unvollendbaren Dome der Sprache, um deiner Liebe zum Unerreichbaren willen – Ruhm und Ehrfurcht dir für deine Verse und Werke in alle Dauer dieser deutschen Sprache!