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1938
Wenn ein Künstler hohen Ranges sein Schaffen bewußt in eine enge Sphäre, in einen kleinen und von dem eigenen Willen begrenzten Kreis einschränkt, so kann dies für sein Werk ein hoher Gewinn werden oder eine große Gefahr.
Den Gewinn bedeutet an sich die Konzentration, die sparsame Zusammenfassung aller schöpferischer Kräfte auf eine einzige Lebenssphäre. Der Künstler weicht damit der Gefahr der Zersplitterung, der Zerstreuung, des diffusen, des verschwommenen Schauens oder Gestaltens aus, weil er sein Auge immer nur auf die eine Distanz eingestellt hat, weil er ebenmäßig und richtig dank dieser regulierten Optik seine Gegenstände sieht – weil an immer wiederholter Erfahrung sich seine Kenntnisse in dieser Sphäre sichern, seine Beobachtungen sich schärfen und ergänzen. Er ist Cäsar und Herr in seinem eigenen Gebiet und da er sich nur in einer und derselben Atmosphäre geistigen Lebens bewegt und nie zu verwegener Erkundung sein gesichertes Reich verläßt, ist er den barometrischen Spannungen und krisenhaften Wetterstürzen der Seele nicht so sehr ausgesetzt wie der nomadisch schweifende Künstler, der ewig anderes Suchende und Versuchende. Indes jener die ganze Welt in Gegenwart und Vergangenheit sich zu seinem Jagdfelde macht, bestellt der eingegrenzte Künstler das seine mit der Geduld, der Zähigkeit, der Sachkenntnis und beharrlichen Kraft eines Bauern, an Intensität gewinnend, was er an Extensität verliert.
Aber jede Spezialisierung, auf welchem Gebiete immer, schließt Gefahr in sich, und wer sich entschlossen hat, die Welt nur im Mikrokosmos zu erleben und zu betrachten, dem kann als Künstler leicht das Gefühl der Proportion verloren gehen, indem er, an das Blickfeld seines engen Rahmens gewöhnt, das Kleine darin für ein weltbedeutend Großes hält und das Banale mit dem Besondern, das Alltägliche mit dem Interessanten verwechselt, indem er, wie jeder Spezialist jeder Wissenschaft, vergißt, daß seine persönliche Fachwelt nicht mit der absoluten Sachwelt zusammenfällt. Wo sein geübter, sein mikroskopisch differenzierender Blick noch Vielfalt und Abschattung gewahrt, sehen die anderen nur ein langweiliges Grau, und während er ein neues Buch nach dem anderen zu schaffen meint, bleibt es für die andern immer dasselbe; wo er zu variieren meint, empfinden jene nichts als Monotonie. Wer bewußt sich als Künstler einen kleinen Lebenskreis wählt und ihn bewußt nicht überschreitet, muß von vorneweg erwarten, von der großen Welt, die er doch durch Ablehnung und Gleichgültigkeit depreziert, entweder gleichgültig oder bestenfalls als Kuriosum gewertet zu werden; wer ihr nicht Liebe gibt, kann wenig Liebe von ihr erhoffen.
Dies wäre das Logische. Aber die große Kunst ist immer stärker als die Gesetze der Vernunft und klüger als die Logik; sie behauptet sich in jeder ihrer Formen, auch der abseitigsten, durch ein Geheimnis, das eben nicht lernbar und übertragbar ist. Gewiß hat sich von allen wesentlichen Schriftstellern unserer Tage C.-F. Ramuz vielleicht am energischsten, am bewußtesten zu solch freiwilliger und sogar engster Eingrenzung des Lebenshorizonts entschlossen. Sein Werk reicht – vom rein Räumlichen aus gesehen, nicht in seinen geistigen Proportionen – über einen kleinen Schweizer Kanton nicht hinaus, und selbst innerhalb dieses Kantons hat er noch die Berge sorgsam um sein schmales Tal gestellt. Auch in der sozialen Schichtung siebt er noch einmal seine Wahl; der Bürger, der Fabrikant, der Kaufherr, sie treten kaum in sein Blickfeld. Nur der Bauer, der Mensch der Erde, der primitive und elementare Mensch bildet seine Menschheit. Selbst die Landschaft, die er sich gewählt, ist keine besonders romantische, besonders pathetische: Ramuz scheint es die besondere Lust innerhalb der schöpferischen Lust zu bedeuten, immer nur in sprödem, in widerstrebendem Material zu schaffen. Gerade aus dem Allergewöhnlichsten das Außerordentliche herauszuholen, den hellsten Funken aus dem härtesten Gestein, ist seine besondere Neigung und er hat den Mut, in seiner Vorliebe für das Diffizile bis an den äußersten Rand zu gehen. Bewußt liebt er es, sich's schwer zu machen. Er weicht dem Melodramatischen, dem Sentimentalen wie einer Kreuzotter geradezu panisch erschreckt aus, er vermeidet alle sinnlichen Reizungen und Spannungen als zu billig; seine Sujets sind eigentlich kaum mehr als sublimierte »faits divers«, wie sie im Kantonblättli kurz und knapp verzeichnet werden, also Alltagsgeschehnisse, die einmalig zu machen dann seine Leidenschaft ist. Das Resultat eines solchen zähen und beharrlichen Ausschöpfens einer Landschaft, einer engen Sphäre sollte nun eigentlich Ausschöpfung, Erschöpfung sein und der Leser sich sagen: genug von diesem Kantönchen, genug von diesen Dörfchen! Alles folkloristisch sehr interessant, sehr eindringlich dargestellt. Aber jetzt genug von den Bauern im Vaud, ich weiß schon alles, ich weiß.
Wie aber hat nun C.-F. Ramuz die Gefahr der Monotonie, der Selbstwiederholung, der rein stofflichen Ermüdung überwunden? Sein Geheimnis ist weder ein neues noch ein besonderes – es ist das ewige und einzige des Künstlers: innere Intensität. Auf einer hohen oder vielmehr auf der höchsten Stufe der Kunst gibt es keine Gegenstände, keine Objekte, keine Inhalte, keine Sujets mehr, sondern nur die reine Meisterschaft, die es fast gleichgültig sein läßt, ob ein in der irdischen Welt banaler oder subtiler Gegenstand dargestellt wird, weil eben Meisterschaft der Darstellung die irdische Geltung der »Sujets« in eine höhere Sphäre, in die der Vollendung hebt (die einmalig für alles gilt). Der zerrissene Bauernstiefel, von van Gogh gemalt, ein Baum Hobbemas, das Veilchen Dürers, ein Apfel Cézannes, diese erzbanalen Gegenstände, sind durch eine höhere Dynamik, gleichsam durch einen stärkeren Blutdruck ebenso intensiv geworden, daß wir gar nicht mehr das Banale des Gegenstands sehen, sondern das Mirakel seiner Intensifizierung. So ist es auch unwesentlich, daß die Bauern Ramuz' harte schwere Menschen sind und daß ich ad personam ersticken würde, in der Sperrkette dieser Berge dauernd zu leben. Nicht wer sie sind, darauf kommt es an, sondern was er aus ihnen macht, welche Kräfte er in ihnen weckt oder einbaut; erst gehen sie alle am Anfang seiner Bücher mit einem schweren Schritt und man nimmt sich schon vor, sie nicht lang zu begleiten, aber allmählich geht von ihnen eine starke Anziehung aus, man spürt sie getrieben von einem übermächtigen Schicksal oder einem Schicksal entgegen. Wie eine Kruste fällt das Banale, das Normale von ihnen ab, ihr Innerliches wird feuerflüssig transparent. Daß aber die Intensifizierung dieser spröden Naturen nicht etwa Technik ist, ein gewolltes Emporsteigen auf eine höhere psychische Seelenstufe, sondern daß Ramuz, intensiv schauend, eben alles intensifiziert, was sein Auge berührt, – daß dieses Durch-und-Durchsehen, dies Steigern, dies Dynamisieren bei ihm urtümliche Funktion der Seele ist, seine schöpferische Urgewalt, dies beweist sich dadurch, daß auch auf das (scheinbar) Unbeseelte, daß auch auf die Natur sein Blick so vitalisierend wirkt – ein Roman wie »La grande peur dans la montagne« ist Roman einer Bergseele eher als der eines Menschen, der moderne Mythos einer von allen andern als unbeachtlich empfundenen und in keinem Reisehandbuch der Schweiz wohl verzeichneten Landschaft. Ramuz hat Feuer im Blick, jenes Feuer, in dem das Harte schmilzt und sich lockert, das Stockende gärt und schwillt, das Scheintote sich belebt und das Schattendunkle in magischem Schein plötzlich aufglüht – wahrer Blick eines Dichters, eines Schöpfers, jener demiurgische Blick, der immer wieder neu die Welt erschafft.
Dazu noch die Kunst dann, sparsam zu sein mit seinem Genie und es nicht zu verschwenden, das Einfache sublim zu machen und das Sublime wiederum einfach zu gestalten. Statt Flächenwirkung Tiefenwirkung zu suchen, statt Breite Dichtigkeit; nicht mit überflüssigen Schilderungen wie die Nordländer zu ermüden, sondern schweizerisch sparsam aber solid die Sprache zu nützen und doch gerade dank dieser Gespanntheit und Kargheit in der Prosa dann wieder den Ton aufschwingen zu lassen in die Sphäre des Gedichts – diese besondere Mischung von Verhaltenheit und Hingabe, von Kunstbewußtheit und urtümlicher Kraft will mir sein schönstes Werkgeheimnis erscheinen und jenes auch, das ihm so treu die Bewunderung seiner Kameraden mit der Liebe seiner Leser sichert.