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1925
Er ist geboren um den Ausgang des Krieges, am 10. Juli 1871 in Paris, Sohn eines berühmten Arztes, einer reichen, überreichen Bürgerfamilie. Aber weder die Kunst des Vaters noch das Millionenvermögen der Mutter vermögen ihm die Kindheit zu retten: mit neun Jahren hört der kleine Marcel für immer auf, gesund zu sein. Zurückkehrend von einem Spaziergang im Bois de Boulogne, wird er von einem asthmatischen Krampf überfallen, und diese fürchterlichen Anfälle zerpressen ihm die Brust sein Leben lang bis zum letzten Atemzug. Fast alles bleibt ihm seit seinem neunten Jahr verboten: Reisen, muntere Spiele, Beweglichkeit, Übermut, alles, was man Kindheit nennt. So wird er früh schon Beobachter, feinfühlig, zartnervig, leicht irritiert, ein Wesen von unerhörter Reizbarkeit der Nerven und Sinne. Er liebt leidenschaftlich die Landschaft, aber nur selten darf er sie sehen und niemals im Frühling: da sticht der feine Staub der Pollen, die Schwüle und Trächtigkeit der Natur zu schmerzhaft auf die entzündlichen Organe. Er liebt leidenschaftlich Blumen: aber er darf ihnen nicht nahen. Schon wenn ein Freund mit einer Nelke im Knopfloch ins Zimmer tritt, muß er ihn bitten, sie abzulegen, und ein Besuch in einem Salon, wo Buketts auf einem Tisch stehen, wirft ihn für Tage ins Bett zurück. So fährt er manchmal in verschlossenem Wagen hinaus, um hinter gläsernen Fenstern die geliebten Farben, die atmenden Kelche zu sehen. Und er nimmt Bücher, Bücher, Bücher, um von Reisen zu lesen, von den ihm nie erreichbaren Landschaften. Einmal kommt er bis nach Venedig, ein paarmal ans Meer: aber jede der Reisen kostet ihn zu viel Kraft. So schließt er sich fast vollkommen ein in Paris.
Um so delikater wird seine Wahrnehmung alles Menschlichen. Der Stimmfall eines Gespräches, die Agraffe im Haar einer Frau, die Art, wie jemand sich an einen Tisch setzt und davon aufsteht, alle feinsten Ornamente des geselligen Daseins haken sich mit unvergleichlicher Festigkeit in seinem Gedächtnis fest. Das minutiöseste Detail fängt sein immer waches Auge zwischen zwei Wimpernschlägen ein, alle Bindungen, Wendungen, Serpentinen und Stockungen eines Gespräches bleiben mit allen Schwingungen ihm unverstellt im Ohr. So kann er dann in seinem Roman später einmal das Gespräch des Grafen Norpois auf hundertundfünfzig Seiten festhalten, und es fehlt kein Atemzug darin, keine zufällige Bewegung, kein Zögern und kein Übergang: sein Auge ist wach und beweglich für alle anderen erschöpften Organe.
Ursprünglich haben die Eltern ihn zum Studium und zur Diplomatie bestimmt, aber an seiner schwachen Gesundheit scheitern alle Vorsätze. Schließlich, es eilt nicht, die Eltern sind reich, die Mutter vergöttert ihn – so verschleudert er seine Jahre in Gesellschaften und Salons, führt bis zu seinem fünfunddreißigsten Jahre eigentlich das lächerlichste, läppischeste, sinnloseste Schlenderleben, das je ein großer Künstler geführt, treibt sich als Snob durch alle Veranstaltungen der reichen Müßiggänger, die man Gesellschaft nennt, ist überall dabei und wird überall empfangen. Durch fünfzehn Jahre kann man Nacht für Nacht unweigerlich in jedem Salon, ja selbst in den unzugänglichsten, diesen zarten, scheuen, immer in Hochachtung vor allem Mondänen erschauernden jungen Menschen finden, immer plaudernd, hofierend, amüsiert oder gelangweilt. Überall lehnt er in einer Ecke, schmiegt er sich in ein Gespräch, und seltsamerweise duldet auch die hohe Aristokratie des Faubourg Saint-Germain den namenlosen Eindringling; dies ist eigentlich für ihn sein höchster Triumph. Denn äußerlich hat der junge Marcel Proust keinerlei Qualitäten. Er ist nicht sonderlich hübsch, nicht sonderlich elegant, er ist nicht von Adel und sogar Sohn einer Jüdin. Auch sein literarisches Verdienst legitimiert ihn nicht, denn dies eine kleine Bändchen ›Les plaisirs et les jeux‹ hat trotz einer Gefälligkeitsvorrede von Anatole France weder Gewicht noch Erfolg. Was ihn beliebt macht, ist einzig seine Generosität: er überschüttet alle Frauen mit kostbaren Blumen, überhäuft alle Welt mit unvermuteten Geschenken, lädt jeden ein, zermartert sich den Kopf, auch dem nichtigsten Gesellschaftslaffen gefällig und sympathisch zu sein. Im Hotel Ritz ist er berühmt durch seine Einladungen und seine phantastischen Trinkgelder. Er gibt zehnmal mehr als amerikanische Milliardäre, und wenn er nur die Halle betritt, so fliegen alle Mützen devot herab. Seine Einladungen sind von phantastischer Verschwendung und kulinarischer Erlesenheit: aus den verschiedensten Geschäften der Stadt läßt er sich alle Spezialitäten zusammenholen – die Trauben von einem Geschäft der Rive Gauche, die Poulards aus dem Carlton, die Primeurs eigens von Nizza sich senden. Und so bindet und verpflichtet er »tout Paris« ununterbrochen durch Artigkeit und Gefälligkeiten, ohne jemals selbst eine zu fordern.
Aber was ihn noch mehr als sein gern, sein verschwenderisch ausgegebenes Geld innerhalb dieser Gesellschaft legitimiert, ist seine fast krankhafte Ehrfurcht vor ihrem Ritus, seine sklavische Vergötterung der Etikette, die unerhörte Wichtigkeit, die er allem Mondänen, allen Alfanzereien der Mode beilegt. Wie ein heiliges Buch verehrt er den ungeschriebenen Cortegiano der aristokratischen Sitte: tagelang beschäftigt ihn das Problem einer Tischordnung, warum die Prinzessin X. den Grafen L. an das untere Ende des Tisches gesetzt habe und den Baron R. an das obere. Jeder kleine Tratsch, jeder flüchtige Skandal regt ihn wie eine welterschütternde Katastrophe auf, er fragt fünfzehn Leute, um sich zu erkundigen, was die geheime Ordnung im Turnus der Einladungen der Fürstin M. sei, oder warum jene andere Aristokratin in ihrer Loge den Herrn F. empfangen habe. Und durch diese Leidenschaft, durch dieses Ernstnehmen der Nichtigkeiten, das auch seine Bücher später beherrscht, gewinnt er selbst einen Rang als Zeremonienmeister inmitten dieser lächerlichen und spielerischen Welt. Fünfzehn Jahre lang führt so ein hoher Geist, einer der stärksten Gestalter unserer Epoche, ein derart sinnloses Leben zwischen Nichtstuern und Arrivisten, tagsüber erschöpft und fiebrig im Bette liegend, abends im Frack von Gesellschaft zu Gesellschaft eilend, seine Zeit vertrödelnd mit Einladungen und Briefen und Veranstaltungen, der überflüssigste Mensch in diesem täglichen Tanz der Eitelkeiten; überall gern gesehen, nirgends wahrhaft bemerkt, eigentlich nur ein Frack und eine weiße Binde zwischen anderen Fräcken und weißen Binden.
Bloß ein einziger kleiner Zug unterscheidet ihn von den anderen. Jeden Abend, wenn er nach Hause kommt und sich ins Bett legt, unfähig zu schlafen, schreibt er Zettel auf Zettel voll mit Notizen über das, was er beobachtet, gesehen und gehört. Allmählich werden es ganze Stöße, die er in großen Mappen bewahrt. Und wie Saint Simon, scheinbar ein flacher Höfling am Hofe des Königs, heimlich Darsteller und Richter einer ganzen Epoche wird, so verzeichnet jeden Abend Marcel Proust all das Nichtige und Flüchtige von »tout Paris« in Notizen und Anmerkungen und planhaften Skizzen, um es vielleicht einmal, das Ephemere, ins Dauerhafte zu gestalten.
Eine Frage nun für den Psychologen: was ist das Primäre? Führt Marcel Proust, der Lebensunfähige und Kranke, dieses läppische und sinnlose Leben eines Snobs fünfzehn Jahre lang bloß aus innerer Freude, und sind diese Notizen nur ein Nebenbei, gleichsam ein Nachgenuß des zu rasch verrauschten Gesellschaftsspieles? Oder geht er in die Salons einzig wie ein Chemiker ins Laboratorium, wie ein Botaniker auf die Wiese, um unauffällig Material zusammenzuraffen für ein großes einmaliges Werk? Verstellt er sich, oder ist er wahr, ist er Mitkämpfer in der Armee der Tagvergeuder, oder bloß ein Spion aus einem anderen, höheren Reich? Flaniert er aus Freude oder aus Berechnung, ist diese fast irrwitzige Leidenschaft für die Psychologie der Etikette ihm Leben und Bedürfnis, oder nur die grandiose Verstellung eines appassionierten Analytikers! Wahrscheinlich war beides in ihm so genial, so magisch gemengt, daß niemals die reine Natur des Künstlers in ihm zum Austrag gekommen wäre, hätte nicht das Schicksal harter Hand ihn plötzlich aus der lässigen Spielwelt der Konversation gerissen und in die verhangene, dunkle, nur von innerem Lichte manchmal erhellte Sphäre der eigenen Welt gestellt. Denn plötzlich ändert sich die Szene. 1903 stirbt seine Mutter, und kurz darauf stellen die Ärzte die Unheilbarkeit seines Leidens fest, das sich immer mehr verschlechtert. Mit einem Ruck reißt jetzt Marcel Proust sein Leben herum. Hermetisch schließt er sich ein in seine Klause am Boulevard Haussmann, über Nacht wird aus dem gelangweilten Flaneur und Faulenzer einer der erbittertsten, pausenlosen Arbeiter, den dieses Jahrhundert im Literarischen zu bewundern hat; über Nacht wirft er sich herum von zerstreuendster Geselligkeit in die allereinsamste Einsamkeit. Tragisches Bild dieses großen Dichters: immer liegt er im Bette, den ganzen Tag, immer friert sein magerer, ausgehusteter, von Krämpfen geschüttelter Körper. Er hat im Bett drei Hemden aufeinandergezogen, wattierte Plastrons über der Brust, dicke Handschuhe an den Händen – und friert doch und friert. Im Kamin brennt Feuer, nie wird das Fenster geöffnet, denn schon die paar erbärmlichen Kastanienbäume mitten im Asphalt tun ihm weh mit ihrem schwachen Geruch (den keine andere Brust in Paris fühlt als die seine). Wie ein Kadaver verkrümmt liegt er immer, immer im Bett, atmet mühsam die dicke, überfüllte, von Medizinen vergiftete Luft. Erst spät abends rafft er sich auf, ein bißchen Licht, ein bißchen Glanz, seine geliebte Sphäre von Elegance, ein paar aristokratische Gesichter zu sehen. Der Diener zwängt ihm den Frack an, schlägt ihn ein in Tücher und hüllt seinen dreimal umkleideten Körper in Pelze. So fährt er ins Ritz, um mit ein paar Menschen zu sprechen, seine vergötterte Sphäre, den Luxus, zu sehen. Vor der Tür wartet sein Fiaker, wartet die ganze Nacht und führt dann den Todmüden wieder ins Bett zurück. In Gesellschaft geht Marcel Proust niemals mehr, oder doch, ein einziges Mal: er braucht für seinen Roman das Detail der Haltung eines vornehmen Aristokraten. So schleppt er sich, alles staunt, einmal in einen Salon, um den Herzog von Sagan zu beobachten, wie er sein Monokel trägt. Und einmal nachts fährt er hin zu einer berühmten Kokotte, sie zu fragen, ob sie den Hut noch habe, den sie vor zwanzig Jahren im Bois de Boulogne getragen; er brauche ihn für die Beschreibung der Odette. Und ist dann ganz enttäuscht zu hören, wie sie ihn auslacht, sie habe ihn längst ihrem Dienstmädchen geschenkt.
Aus dem Ritz bringt den Todmüden der Wagen nach Hause. Über dem immer geheizten Ofen hängen seine Nachtkleider und Plastrons: längst kann er kalte Wäsche nicht mehr am Leibe tragen. Der Diener hüllt ihn ein, führt ihn ins Bett. Und dort, das Tablett flach vor sich hingehalten, schreibt er seinen weitmaschigen Roman ›A la recherche du temps perdu‹. Zwanzig Dossiers sind schon dick gefüllt mit Entwürfen, die Sessel und Tische vor seinem Bett, das Bett selbst weiß überhäuft mit Zetteln und Blättern. Und so schreibt er, schreibt Tag und Nacht, jede wache Stunde, Fieber im Blut, die Hände unter den Handschuhen vor Kälte zitternd, weiter, weiter, weiter. Manchmal besucht ihn ein Freund, gierig fragt er ihn aus, nach allen Details der Gesellschaft, verlöschend noch tastet er mit allen Fühlern der Neugier hinüber in die verlorene, in die mondäne Welt. Wie Jagdhunde hetzt er seine Freunde herum, sie sollen ihm von diesem und jenem Skandal berichten, damit er über diese und jene Persönlichkeit bis auf das kleinste informiert ist, und alles, was man ihm zuträgt, notiert er mit nervöser Gier. Und das Fieber zehrt immer heißer an ihm. Immer mehr verfällt und vergeht dieses arme fiebernde Stück Mensch, Marcel Proust, immer mehr weitet sich und wächst das groß gestaltete Werk, der Roman oder vielmehr die Romanreihe ›A la recherche du temps perdu‹.
1905 ist das Werk begonnen, 1912 hält er es für vollendet. Dem Umfange nach scheinen es drei dicke Bände zu sein (es wurden dann aber dank der Erweiterung während des Druckes nicht weniger als zehn). Nun quält ihn die Frage der Veröffentlichung. Marcel Proust, der Vierzigjährige, ist vollkommen unbekannt, nein, ärger noch als unbekannt, das heißt, er hat im literarischen Sinne einen schlechten Ruf: Marcel Proust, das ist ja der Snob aus den Salons, das mondäne Schriftstellerchen, von dem hie und da im ›Figaro‹ Anekdoten über Salons erscheinen (wobei das immer schlecht lesende Publikum für Marcel Proust unweigerlich Marcel Prévost las). Von dem kann nichts Gutes kommen. Auf geradem Weg hat er also nichts zu hoffen. So versuchen Freunde, auf gesellschaftlichem Wege die Veröffentlichung zu ermöglichen. Ein hoher Aristokrat ladet André Gide zu sich, den Leiter der ›Nouvelle Revue Française‹ und übergibt ihm das Manuskript. Aber die ›Nouvelle Revue Française‹, dieselbe, die dann Hunderttausende von Francs an diesem Werk verdient, weist ihn glatt zurück, ebenso der ›Mercure de France‹ und Ollendorf. Endlich findet sich ein neuer mutiger Verleger, der es wagen will, aber doch dauert es noch zwei Jahre, bis 1913, ehe der erste Band des großen Werkes erscheint. Und gerade wie der Erfolg die Flügel spreiten will, kommt der Krieg und schlägt ihm die Schwingen nieder.
Nach dem Kriege, als schon fünf Bände erschienen sind, beginnt Frankreich, beginnt Europa dieses eigenartigste epische Werk unserer Zeit zu bemerken. Aber was Ruhm dann rauschend Marcel Proust nennt, das ist längst nur noch ein abgezehrtes, fieberndes, unruhiges Fragment eines Menschen, ein zuckender Schatten, ein armer Kranker, dessen ganze Kraft sich zusammenrafft, um nur noch das Erscheinen seines Werkes zu erleben. Noch immer schleppt er sich abends ins Ritz. Dort, am gedeckten Tisch, oder in der Portiersloge, feilt er die Korrekturen der letzten Druckbogen aus, denn zu Hause im Zimmer, im Bette fühlt er schon das Grab. Nur hier, wo er wieder seine geliebte mondäne Sphäre vor den Augen schimmern sieht, fühlt er noch ein letztes bißchen Kraft, indes er zu Hause flügellahm niederfällt, bald sich mit Narkotiken müde machend, bald mit Koffein sich emporstimulierend zu einem kurzen Gespräche mit Freunden oder zu neuer Arbeit. Immer rascher verschlimmert sich sein Leiden, immer hitziger, immer gieriger arbeitet der allzulang Lässige, um den Tod zu überholen. Ärzte will er nicht mehr sehen, sie haben ihn zu lange gequält und niemals ihm geholfen. So verteidigt er sich allein, und so stirbt er endlich am 18. November 1922. In den letzten Tagen noch, schon ganz von der Vernichtung erfaßt, wirft er sich dem Unvermeidlichen entgegen mit der einzigen Waffe des Künstlers: mit der Beobachtung. Er analysiert seinen eigenen Zustand heldenhaft wach bis zur letzten Stunde, und diese Notizen sollen dienen, den Tod seines Helden Bertotte in den Korrekturbogen noch plastischer, noch wahrhaftiger zu machen, sollen versuchen, einige allerintimste Details dazuzutun, jene letzten, die der Dichter nicht wissen konnte, die nur der Sterbende weiß. Noch seine letzte Bewegung ist Beobachtung. Und auf dem Nachttisch des Toten, beschmutzt von umgestürzten Medizinen, findet man auf kaum leserlichem Zettel die letzten Worte, die er schon mit halb erkaltender Hand geschrieben. Notizen für einen neuen Band, der Jahre gefordert hätte, indes ihm selbst nur noch Minuten gehörten. So schlägt er dem Tod ins Gesicht: letzte herrliche Geste des Künstlers, der die Furcht vor dem Sterben besiegt, indem er es belauscht.